Er liebte Katzen und Bier, arbeitete als Altpapierpacker und schrieb. Am liebsten träumte der in einer Brauerei aufgewachsene Mann in Schenken und Kneipen und lauschte dem von Alkohol befeuertem Redestrom der Gäste. Was er hier an Witz, Weisheit und Wahnsinn aufsog, fand Eingang in Texte, die er zunächst nur für die Schublade schrieb und allenfalls engen Freunden vorlas.
In den 1960-Jahren dann, im Zuge einer liberalisierten Kulturpolitik in der Tschechoslowakei, wurde Bohumil Hrabal zu einem der meistgelesenen Autoren seines Landes, seine Werke wurden verfilmt und vielfach übersetzt. In Hrabals Prosa finden sich Slapstickmotive, der anekdotische Reichtum und anarchische Humor von Jaroslav Hašek und die Absurdität des Surrealismus.
Sinnliche Beschreibungen der Wirklichkeit
Bei aller Heiterkeit seiner Kneipen- und Kleinstadtgeschichten ist sein Blick auf die Welt jedoch alles andere als gemütlich. Die sinnlichen Beschreibungen der Wirklichkeit, die wenig mit einem verordneten sozialistischen Realismus zu tun hatten, zeigen das Grauen gleichberechtigt neben dem Schönen.
1914 geboren, erlebte der studierte Jurist alle Umbrüche, Katastrophen und Revolutionen seines Landes, vom Ende der Donaumonarchie über die Okkupationszeit bis hin zum Fall des Kommunismus. Zwischen Suff und Meditation pendelnd, schuf dieser große Dichter Werke, in denen sich auch sein ständiges Ringen um ein Gleichgewicht der Gegensätze - gewissermaßen eine böhmische Erleuchtung - zeigt.
Auszug aus "Bohumil Hrabal. Im Paradiesgarten der bitteren Früchte" von Monika Zgustová:
"Es ist Erster Mai, Anfang der fünfziger Jahre. Das Städtchen Nymburk in Böhmen feiert - ebenso wie alle Städte in diesem Teil Europas, in dem vor wenigen Jahren die Kommunisten die Macht übernommen haben - den Tag der Arbeit. Die Arbeiter aus den Fabriken und die Angestellten der Staatsbetriebe haben ihre Sonntagskleider angelegt, sich in Reihen aufgestellt und schreiten erhobenen Hauptes durch die festlich geschmückten Straßen voller Fähnchen und Papierblumen. Den Abschluß des Umzuges bilden Schüler und Studenten, die die Uniformen der kommunistischen Jugend tragen: blaue und weiße Hemden und ein rotes, um den Hals gebundenes Tuch.
Der Umzug kommt durch die Hauptstraße, biegt dann nach rechts in eine der Seitengassen ein, und hier schleicht sich plötzlich Chaos in die strenge Ordnung; die Menschen tuscheln, zeigen mit dem Finger, kichern, die Schüler und Studenten brüllen vor Lachen und springen in die Höhe, um besser über die Köpfe der Erwachsenen zu sehen. Aus der Seitenstraße ist gerade ein Mann mittleren Alters gekommen, in einem karierten Hemd, einem Monteuranzug und mit einer flachen Schildmütze; am Ende der langen Stange, die er geschultert hat, hängt ein Kübel, dem der bestialische Gestank von Fäkalien entsteigt: Der Mann räumt heute die Jauche aus der Senkgrube aus. Er geht durch die Straßen, vorbei an den feierlich gekleideten Bürgern, der Kübel schaukelt von einer Seite zur anderen, und die Teilnehmer des Umzugs vergessen vor lauter Schreck, zu winken und Hurra zu rufen, mit offenem Mund starren sie auf die Quelle des Gestanks und tasten nach einem Taschentuch. Als wäre er weit und breit allein, biegt der Mann mit dem karierten Hemd und den aufgekrempelten Ärmeln in eine Gasse ein, die hinausführt aus der Stadt, der Kübel schaukelt hinter seinem Kopf, betont langsam und erhaben geht er mit seiner Ladung in die Felder. Wie ein König seine Schleppe zieht dieser Mann mit dem Kübel einen Schleier des Gestanks, seinen besonderen Schatten, hinter sich her. Auch er feiert, seinen privaten Feiertag: Das Hinaustragen der Fäkalien ist für ihn eine philosophische Messe, in der er der Priester ist und den Kreislauf der Menschheit zelebriert und das Menschliche dorthin bringt, von wo es gekommen ist. Er trägt Kübel um Kübel hinaus auf die Felder und gießt den Inhalt bedachtsam, feierlich als Dünger auf die Erde. Er ist bezaubert von der Schönheit seines alljährlichen Rituals, und in diesem Moment scheint ihm auch das menschliche Schicksal mit all seinen Metamorphosen herrlich.
Der Mann, der immer am Morgen des Ersten Mai die Senkgrube reinigte und in dem Kübel auf der Stange die Fäkalien auf die Felder hinaustrug, war Bohumil Hrabal."
Bohumil Hrabal ist ein Kronzeuge des menschlichen Schicksals mit all seinen Wendungen im 20. Jahrhundert. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs bei Brünn geboren, erlebt er als Kind die erste Republik der Tschechoslowakei und als Student den Einmarsch der deutschen Truppen 1939. Beim Staatstreich der kommunistischen Partei im Februar 1948 arbeitet er als Handelsreisender und schreibt für die Schublade. Zwanzig Jahre später ist er in seiner Heimat ein gefeierter Autor. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 schließt ihn erneut für Jahre vom Publizieren in seinem Land aus. Über den Zusammenbruch des Regimes 1989 schließlich berichtet der alte Dichter in einem letzten lyrischen Text, der von Todesahnungen durchzogen ist:
Wir leben in einem Jahrhundert in welchem die Wirklichkeit manchmal übertrifft die Fantasie, und das ist für mich verblüffend, wenn ich gerade begegne einer Wirklichkeit, welche ist voll von Fantasie. Und gerade diese Wirklichkeit ist für meine Fantasie ein Beleg, dass das wirklich ist, dass meine Fantasie ist nicht nur ein Schloss aus Gläsern, sondern das ist der Abglanz des menschlichen Lebens. Und diese Wirklichkeit ist für mich maßgebend, und diese Wirklichkeit ist auch für mich Begrenzung meiner Fantasie.
Bohumil Hrabal
Warum schreibt ein Mensch? Bohumil Hrabal hat diese Frage mehrfach und unterschiedlich in Interviews, Selbstbeschreibungen und autobiografischen Texten beantwortet.
Abglanz des menschlichen LebensA: Bohumil Hrabal.© picture-alliance / dpa / CTK / Karel Kestner
In einem Gespräch im Jahr 1969 findet er eine sehr einfache und schöne Erklärung für den Drang zum Schreibtisch: "Ich hatte keine Ambitionen. Aber bei uns in Nymburk war es so schön, dass ich auf einmal ein Gedicht schrieb. Wer sich zum ersten Mal verliebt und Briefe schreibt, strahlt auf alle Seiten Liebe aus. Ja, und ich musste schreiben."
Stammgast im "Goldenen Tiger"
Hrabals Stammkneipe ist der "Goldene Tiger" in Prag. In seinen letzten Lebensjahren muss er jedoch eine Vertreibung aus dem Paradies erleben. Es spricht sich herum, dass Hrabal, nachdem er in Kersko seine Schar Katzen gefüttert hat, jeden Abend in den "Tiger" einkehrt, um sich dort, je nach Befinden, mit den Gästen zu amüsieren oder mürrisch in sein Bier zu starren. Es kommen nicht nur lästige Verehrer des Dichters, die um Signierung seiner Bücher bitten, sondern organisierte Touren mit ganzen Busladungen voller neugieriger Touristen, die einen Blick auf die alte Sphinx erhaschen wollen.
Die Kellner versuchen, ihren berühmten Gast zu schützen, aber für einige Zeit ist der Andrang so groß, dass der große Lobsänger des Bieres in eine andere Kneipe umziehen muss. 1994 besucht der amerikanische Präsident Bill Clinton Prag und lässt sich von dem verehrten Václav Havel auch in den "Goldenen Tiger" führen. Unter den ausgewählten Stammgästen, die anwesend sein dürfen, befindet sich auch Bohumil Hrabal, der Clinton sagt, dass er aussehe wie Gary Cooper, wenn er so furchtlos durch die Kneipe schreite.
Die Gasse Am Damm in Prag-Liben, wo Hrabal 25 Jahre lang wohnte, feierte, soff und schrieb, ehe er in einen Neubau umzog, fiel dem Bau eines Busbahnhofs neben der städtischen Metro zum Opfer. An Stelle des Hauses Nr. 24 parken jetzt Autos, dahinter steht eine hohe Betonmauer, die ein großflächiges Wandgemälde ziert. Bohumil Hrabal überlebensgroß inmitten seiner Katzen, mit Textauszügen des Dichters und seiner alten Schreibmaschine Marke Perkeo. Ein eher trauriger Ort.
Die Düfte von Hrabals Kindheit
In Nymburk erklärt ein großer Stadtplan am Marktplatz auf Knopfdruck in verschiedenen Sprachen, wo die Hrabals gelebt und gearbeitet haben. Das kleine Museum zeigt Fotos, Dokumente und persönliche Gegenstände des Mannes, der als kleiner Junge in einer schon fernen Zeit auf eigene Faust das Städtchen an der Elbe erkundete.
Immerhin, ein Rundgang durch die Nymburker Brauerei, deren alte Bausubstanz im Kern erhalten ist, lässt die Düfte von Hrabals Kindheit in die Nase steigen: den leicht süßlichen Geruch der großflächig auf dem Malzboden gestreuten Gerste und den herberen der Gärung des schaumbedeckten Bieres in großen Wannen.
Die kleine Brauerei nennt ihr Bier "Postrižinské" nach Hrabals Erzählung "Die Schur", und bewirbt das Gebräu mit dem Konterfei des berühmten Sohnes, der eine kleine Gedenktafel an dem Gebäude nur akzeptieren wollte, wenn sie so niedrig angebracht wird, dass vorbeistreunende Hunde sie anpinkeln können.
Ich bin ein bedeutungsloser Sklave des Unendlichen. Jeden Tag werde ich geköpft, jeden zweiten Tag erstehe ich von den Toten auf, einmal in der Woche fahre ich gen Himmel und werde in den Himmel gehoben, einmal im Monat feiere ich die Verkündigung, einmal pro Quartal werde ich vom Heiligen Geist heimgesucht, jeden zweiten Tag werde ich gefoltert und seliggesprochen, und einmal pro Jahr bin ich nüchtern. Ist das nicht alles, wenn auch in Miniatur, ein Beweis dafür, daß ich trotz allem ein Geschöpf Gottes bin?
Aus dem "Heft ungeteilter Aufmerksamkeit" von Bohumil Hrabal
Und das Ende? In seinem Werk taucht immer wieder die Möglichkeit des Freitodes auf, besonders die Fensterstürze haben es ihm angetan. Am 3. Februar 1997 stürzt Bohumil Hrabal, vereinsamt und von chronischen Schmerzen gepeinigt, aus dem 5. Stock eines Prager Krankenhauses.
Er ist 82 Jahre alt. Tod beim Taubenfüttern, so die offizielle Version. Weil Hrabal Legenden liebte, fragen wir nicht weiter nach.
Verwendete Literatur:
Im Paradiesgarten der bitteren Früchte
Bohumil Hrabal. Leben und Werk
Monika Zgustová
Übersetzer: Johanna Posset
Suhrkamp 2001
Die Schur
In: Bohumil Hrabal. Die Romane
Übersetzer: Franz Peter Künzel
Suhrkamp 2008
Schöntrauer
In: Bohumil Hrabal. Die Romane
Übersetzer: Franz Peter Künzel
Suhrkamp 2008
Jarmilka
In: Der Tod des Herrn Baltisberger. Erzählungen
Bohumil Hrabal
Übersetzer: Karl-Heinz Jähn
Volk und Welt 1970
Das Haus der Freude
In: Die Bafler. Erzählungen
Bohumil Hrabal
Übersetzer: Franz Peter Künzel
Suhrkamp 1966
Allzu laute Einsamkeit
In: Bohumil Hrabal. Die Romane
Übersetzer: Peter Sacher
Suhrkamp 2008
Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene
In: Bohumil Hrabal. Die Romane
Übersetzer: Franz Peter Künzel
Suhrkamp 2008
Moritat von der öffentlichen Hinrichtung
In: Erzählungen, Moritaten und Legenden
Bohumil Hrabal
Übersetzer: Franz Peter Künzel
Suhrkamp 1982
Interview
In: Die Katze Autitschko
Bohumil Hrabal
Übersetzer: Karl-Heinz Jähn
Insel 2001
Ich dachte an die goldenen Zeiten
In: Bohumil Hrabal. Die Romane
Übersetzerin: Susanna Roth
Suhrkamp 2008
Ein Heft ungeteilter Aufmerksamkeit
Bohumil Hrabal
Übersetzerin: Susanna Roth
Suhrkamp 1997
Vita Nuova
In: Bohumil Hrabal. Die Romane
Übersetzerin: Susanna Roth
Suhrkamp 2008
Wer ich bin
In: Hommage á Hrabal
Herausgegeben von Susanna Roth
Übersetzerin: Susanna Roth
Suhrkamp 1988
Die Sendung wurde erstmals am 29. März 2014 ausgestrahlt.