Das dritte Deutschland
Vierzig Jahre lang existierte das merkwürdige Gebilde West-Berlin als eine Insel inmitten der DDR. Heute droht das Eiland im Meer des Vergessens unterzugehen.
Dabei war West-Berlin nicht nur eine merkwürdige, sondern auch eine folgenreiche Metropole, die mit all ihren Eigenheiten oft die Grenzen des Bizarren streifte. Es galt als Land der Bundesrepublik Deutschland - und wurde doch nicht von ihr regiert. Es war ein Land mit Gesetzen, die ohne Mitwirkung seiner Bevölkerung zustande kamen, denn die Bürger West-Berlins durften nicht an den Bundestagswahlen teilnehmen und konnten sich an kein Verfassungsgericht wenden.
Alle Macht in der Stadt ging von den alliierten Stadtkommandanten der Amerikaner, Briten und Franzosen aus, unter deren Regiment ein Regierender Bürgermeister als Stadtoberhaupt mit beschränkter Vollmacht agierte. Auf den Personalausweisen der West-Berliner prangte kein Bundesadler und ihre männlichen Inhaber mussten keinen Wehrdienst leisten.
Dieses West-Berlin war ein "drittes Deutschland", weder Bundesrepublik noch DDR - und immer ein problematisches Gebilde. Das von Anbeginn bestehende Problem, nicht aus eigener Kraft lebensfähig zu sein, begleitete es bis ans Ende.
So hing denn West-Berlin am Tropf der Bonner Subventionen, was Bauskandale provozierte, aber auch ein reiches kulturelles Leben. Nirgends sonst gab es etwa in der Bundesrepublik eine solche Konzentration von namhaften Literaten wie in West-Berlin rund um das Gravitationszentrum Günter Grass. Immer war auf glanzvolle Außenwirkung zu achten, sollte nicht die makabre Attraktion der Mauer das primäre Angebot für Touristen sein.
Mit dem Fall der Mauer war die Halbstadt plötzlich das "alte West-Berlin" und verlor schnell an Bedeutung, weil sich das Gewicht der Gesamtstadt in immer schnellerem Tempo in den Ostteil verlagerte. Fast schlagartig wurde die Bundeshilfe für West-Berlin eingestellt und nicht länger "ein Schweinegeld", wie die Haushälter in Bonn immer gestöhnt hatten, für die Halbstadt ausgegeben. Drastisch formulierte die Schriftstellerin Katja Lange-Müller: "Den West-Berlinern wurde die Stadt unterm Arsch weggezogen."
Das rasche Ende von West-Berlin ließ bald vergessen, dass mit dieser Stadt, die so lange Symbol der Teilung war, die deutsche Einigung begann - und nur hier mit dieser Vehemenz beginnen konnte. In der Stadt prallten West und Ost unmittelbar aufeinander, sodass hier die Menschen aus Ost-Berlin am Abend des 9. November 1989 mit wenigen Schritten im Westen waren - und in der legendären Wahnsinns-Nacht zahllos nach West-Berlin strömten mit dem klaren Ziel Kurfürstendamm, Gedächtniskirche. Die Menschen, die in der West-City staunend die Einkaufsmöglichkeiten erlebten und die Beschränktheit ihrer knappen Devisen-Bestände erlitten, wollten von nun an die Teilhabe und erzeugten damit jenen Druck, der den Einigungsprozess so enorm beschleunigte.
West-Berlin störte aber auch alle Pläne für eine Konföderation der Bundesrepublik mit einer weiter eigenständigen DDR. Demokratischer Sozialismus am einen Ende der Friedrichstraße und Sozialdemokratie am anderen, getrennt durch einen Zaun oder Flatterbänder - das war allzu offensichtlich ein Ding der Unmöglichkeit.
Der urbane Torso West-Berlin, der über Jahrzehnte oft störrisch und störend an die Teilung von Stadt und Land gemahnte, er war schließlich der Ort, wo der schon fast vergessene Traum der deutschen Einigung in Erfüllung ging. Dieses "dritte" Deutschland, erst als Schaufenster und Leuchtturm gepriesen, dann oft bespöttelt, war am Ende, auch wenn es pathetisch klingen mag, das Tor zur Freiheit und zur Einheit.
Prof. Dr. Wilfried Rott, Publizist, geboren 1943 in Wien. 1977-2004 Redakteur und Abteilungsleiter "Kultur aktuell" beim SFB/rbb. Langjähriger Kolumnist u. a. für "FAZ" und "Die Welt". Buchveröffentlichungen u. a. "Das süße Leben der Playboys: Geschichte einer Kultfigur", "Sachs - Unternehmer, Playboys, Millionäre".
Alle Macht in der Stadt ging von den alliierten Stadtkommandanten der Amerikaner, Briten und Franzosen aus, unter deren Regiment ein Regierender Bürgermeister als Stadtoberhaupt mit beschränkter Vollmacht agierte. Auf den Personalausweisen der West-Berliner prangte kein Bundesadler und ihre männlichen Inhaber mussten keinen Wehrdienst leisten.
Dieses West-Berlin war ein "drittes Deutschland", weder Bundesrepublik noch DDR - und immer ein problematisches Gebilde. Das von Anbeginn bestehende Problem, nicht aus eigener Kraft lebensfähig zu sein, begleitete es bis ans Ende.
So hing denn West-Berlin am Tropf der Bonner Subventionen, was Bauskandale provozierte, aber auch ein reiches kulturelles Leben. Nirgends sonst gab es etwa in der Bundesrepublik eine solche Konzentration von namhaften Literaten wie in West-Berlin rund um das Gravitationszentrum Günter Grass. Immer war auf glanzvolle Außenwirkung zu achten, sollte nicht die makabre Attraktion der Mauer das primäre Angebot für Touristen sein.
Mit dem Fall der Mauer war die Halbstadt plötzlich das "alte West-Berlin" und verlor schnell an Bedeutung, weil sich das Gewicht der Gesamtstadt in immer schnellerem Tempo in den Ostteil verlagerte. Fast schlagartig wurde die Bundeshilfe für West-Berlin eingestellt und nicht länger "ein Schweinegeld", wie die Haushälter in Bonn immer gestöhnt hatten, für die Halbstadt ausgegeben. Drastisch formulierte die Schriftstellerin Katja Lange-Müller: "Den West-Berlinern wurde die Stadt unterm Arsch weggezogen."
Das rasche Ende von West-Berlin ließ bald vergessen, dass mit dieser Stadt, die so lange Symbol der Teilung war, die deutsche Einigung begann - und nur hier mit dieser Vehemenz beginnen konnte. In der Stadt prallten West und Ost unmittelbar aufeinander, sodass hier die Menschen aus Ost-Berlin am Abend des 9. November 1989 mit wenigen Schritten im Westen waren - und in der legendären Wahnsinns-Nacht zahllos nach West-Berlin strömten mit dem klaren Ziel Kurfürstendamm, Gedächtniskirche. Die Menschen, die in der West-City staunend die Einkaufsmöglichkeiten erlebten und die Beschränktheit ihrer knappen Devisen-Bestände erlitten, wollten von nun an die Teilhabe und erzeugten damit jenen Druck, der den Einigungsprozess so enorm beschleunigte.
West-Berlin störte aber auch alle Pläne für eine Konföderation der Bundesrepublik mit einer weiter eigenständigen DDR. Demokratischer Sozialismus am einen Ende der Friedrichstraße und Sozialdemokratie am anderen, getrennt durch einen Zaun oder Flatterbänder - das war allzu offensichtlich ein Ding der Unmöglichkeit.
Der urbane Torso West-Berlin, der über Jahrzehnte oft störrisch und störend an die Teilung von Stadt und Land gemahnte, er war schließlich der Ort, wo der schon fast vergessene Traum der deutschen Einigung in Erfüllung ging. Dieses "dritte" Deutschland, erst als Schaufenster und Leuchtturm gepriesen, dann oft bespöttelt, war am Ende, auch wenn es pathetisch klingen mag, das Tor zur Freiheit und zur Einheit.
Prof. Dr. Wilfried Rott, Publizist, geboren 1943 in Wien. 1977-2004 Redakteur und Abteilungsleiter "Kultur aktuell" beim SFB/rbb. Langjähriger Kolumnist u. a. für "FAZ" und "Die Welt". Buchveröffentlichungen u. a. "Das süße Leben der Playboys: Geschichte einer Kultfigur", "Sachs - Unternehmer, Playboys, Millionäre".