Große Koalition = kleines Karo
Die Neuauflage der Großen Koalition ist die Gestalt gewordene Konsensdemokratie. Die Bundespolitik wird jetzt sachlicher und technokratischer werden - und vermutlich auch langweiliger, meint Peter Lange.
Jetzt haben wir also die Regierung, die sich die Mehrheit der Deutschen angeblich gewünscht hat. Die Große Koalition, nach der reinen Lehre der Staatsrechtler gedacht für ungewöhnliche Situationen und Krisenzeiten, wird in Deutschland zum Normalfall. Das dritte Kabinett der Kanzlerin Angela Merkel ist nicht einfach eine Wiederauflage des Regierungsbündnisses mit der SPD. Es ist die Gestalt gewordene Konsensdemokratie nach skandinavischem Muster.
Die Nachbarn im Norden haben wir jahrzehntelang bewundert – für ihre sachbezogene politische Debattenkultur, die weitgehend ohne Beschimpfung und Verunglimpfung auskommt, für ihr Grundverständnis von der Rolle des Staates, von sozialer Demokratie über alle Parteien hinweg. Das lässt sich an der neuen Bundesregierung auch ablesen, und es ist im Prinzip auch nicht schlecht, wenn die demokratischen Parteien auf dem Boden eines gemeinsamen Grundkonsenses agieren, der mehr Bündnisse ermöglicht als immer nur rot-grün oder schwarz-gelb. Verhältnisse wie in den USA, wo sich zwei Lager ideologisch dermaßen verhakt haben, dass gar nichts mehr geht, sind gewiss nicht erstrebenswert.
Politik, die sich am kleinsten gemeinsam Nenner ausrichtet
Und trotzdem darf man sich nicht täuschen. Große Koalitionen bedeuten in normalen Zeiten immer kleines Karo. Wenn sich Politik nur noch an Schnittmengen ausrichtet, am kleinsten gemeinsamen Nenner und an der Akzeptanz in der Bevölkerung – und das ist im Kern das Prinzip Merkel – dann kommen dabei keine Politikkonzepte aus einem Guss heraus, sondern lauter Kompromisse - akzeptable, faule und Scheinkompromisse. In einem politischen Betrieb, in dem Leidenschaft wie in Skandinavien nur noch nach Promille zu messen ist, bieten die Kompromisse der Großen das letzte Erregungspotential.
Auch vor einer zweiten Täuschung sei gewarnt: Die professionelle publizistische Kritik ist das eine, die Einstellung der Bevölkerung etwas ganz anderes. Die lässt sich zusammenfassen in den drei Maximen, die schon in den 1950er-Jahren der nachmalige Bundespräsident Gustav Heinemann kritisiert hat: viel verdienen, Soldaten, die das verteidigen und Kirchen, die beides segnen.
Wohlstandsbewahrung ist die erste Regierungspflicht, alles andere bitte nur soweit, wie es diese Maxime zulässt. Ein gesellschaftlicher Aufbruch, vielleicht ein Aufbegehren gegen die stetige Gängelung durch eine allumfassende, wuchernde und entmündigende Bürokratie, welche die Freiheit schleichend erdrückt – nichts von dieser Art ist in Sicht oder wirklich gewünscht. Es wäre auch von SPD und CDU nicht zu erwarten, die beide abgestraft worden sind, wenn sie größere Entwürfe umsetzen wollten, die den Bürgern etwas abverlangt hätten.
Die Gefahren der Konsensdemokratie
Die CDU wollte einmal das Steuersystem reformieren und hätte 2005 um ein Haar die Wahl verloren. Die SPD, die jetzt den gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen will, hat zu Agenda-Zeiten die Ein-Euro-Jobs eingeführt und die Auffassung vertreten, dass selbst eine extrem schlecht bezahlte Arbeit besser ist als gar keine Arbeit. Das Trauma der Agenda und die Niederlagenserie danach haben die Sozialdemokraten bis heute nicht verarbeitet.
Der Politikansatz der Kanzlerin und ihrer Großen Koalition entsprechen in einem Maße den Einstellungen einer Großen Mehrheit der Bevölkerung, wie es das lange nicht gegeben hat. Die Bundespolitik wird sachlicher und technokratischer werden, aber – wenn es keine aufregenden Krisen gibt - auch langweiliger. Einen Vorgeschmack liefert der Bundestag: Kein Disput mehr um die besten Lösungen, sondern ein Selbstgespräch der Regierungsfraktionen mit gelegentlichen Einwürfen der geschrumpften Opposition. Man kann darauf wetten, wie lange es dauert, bis die professionellen Beobachter die obligatorische Mehltau-Floskel aus ihrem Stehsatz holen.
Wenn die Parteien der Großen Koalition nicht aufpassen, wenn sie sich selbst genug sind mit ihrer übergroßen Mehrheit, dann zahlt der Parlamentarismus für die Konsensdemokratie einen hohen Preis. Die Rechnung könnte in vier Jahren gestellt werden. Auch da lohnt ein Blick nach Norden: In den skandinavischen Ländern sind die populistischen Parteien am rechten Rand des demokratischen Spektrums viel stärker als bei uns und eine politische Größe, an der die anderen kaum mehr vorbeikommen.