Das echte bayerische Volkslied
Gibt es einen Unterschied zwischen althergebrachter Volksmusik und der modernen volkstümlichen? Hubert Zierl treibt diese Frage um, seit sich die volkstümliche Musik auf den besten Sendeplätzen im Fernsehen eingenistet hat, leider aber nicht die Kenntnis über Natur und Brauchtum befördert. Der ehemalige Leiter des Nationalparks Berchtesgaden blätterte in alten und neueren Textbüchern nach. Und siehe da: Die Natur ist vielfältig, das Volkslied kennt sich aus, weiß mehr als nur Edelweiß, Enzian und Almrausch zu besingen.
Zierl: "Was ist ein echtes Volkslied, was ist ein volkstümliches Lied? (…) Ich hatte dieses Thema schon einmal, als ich im Nationalpark Bayerischer Wald tätig war, aufgegriffen und dort auch einige Sammlungen studiert. Und bei der Suche nach Unterscheidungen war das Eindrucksvollste die Artenvielfalt, die das echte Volkslied kennt, weil es offensichtlich eine exzellente Naturbeobachtung hat."
"Im Gegensatz zu dem sogenannten Volkstümlichen, das eigentlich nur Hirsch, Reh und Gams kennt (obwohl Reh ist schon spärlich), aber Adler; dann Edelweiss, Enzian und Almrausch. Und wenn man das Alpenglühen als meteorologische Erscheinung sehen will, dann kommt auch das noch vor. (lacht) Aber recht viel mehr werden sie nicht finden."
"Während hier kommen ja auch völlig unsensationelle Tiere wie der Floh, die Fliege, die Laus und was weiß ich alles vor. (Autor: Wachslab.) Wachslab, ja die Stechpalme, die Ilex. (Autor: die Ratz [Ratte]) Die Ratz."
"Ja, das ist eine Anlehnung an das Weihnachtslied 'O Tannenbaum, o Tannenbaum / wie grün sind deine Blätter', wobei man ja sagen kann, dass vieles, was heute als Tannenbaum an Weihnachten in der guten Stube steht, meistens eine Fichte ist. (lacht) Der Tannenbaum hat halt den Vorteil, dass er die Nadeln etwas länger hält, die Fichte nadelt sehr rasch ab."
Atmo: Rotkehlchen
"Da geht es um einen Singvogel, der – wie das Lied beschreibt - oben auf dem Tannenbaum sitzt und so schön singt. Und dieser schöne Gesang verleitet zunächst den Sänger, dies für eine Nachtigall zu halten. Dann korrigiert er sich aber in der nächsten Strophe selber (Wanduhr schlägt) und sagt: Nein, auf der Tanne singt keine Nachtigall, das muss wohl ein Rotkröpferl sein. Ein Rotkröpferl ist ein Rotkehlchen. Und damit beschreibt er auch das Vorkommen dieser beiden Vogelarten sehr gut."
"Wenn Sie im Frühjahr durch einen Nadelwald gehen, werden sie wahrscheinlich immer irgendwo auf diesem Gipfel dieses Rotkehlchen sehen, das wirklich sehr schön singt. Und die Nachtigall, schreibt das Lied, sitzt in der Haselnußstaude. Die Nachtigall ist ein wärmeliebender Vogel und der Haselnußstrauch ist eben ein Strauch, ein kleiner Baum an den warmen Waldrändern. Also eine wunderschöne Beschreibung, wo was hingehört."
"Und dieses Lied über den Tannenbaum vermerkt zumindestens, dass die Wurzeln da im feuchten Bereich wachsen. An und für sich etwas Naheliegendes und selbstverständliches, aber dass so eine Beobachtung oder so ein Wissen in einem Lied untergebracht ist, ist schon ein Hinweis, dass man über die reine Artenkenntnis hinausgeht."
"Oder auch, was alles in dem Tannenbaum herumhüpft. Von dem Eichhörnchen ist da die Rede oder von den Vögeln, die im Tannenbaum singen. (Autor: Welche sind das?) Das Eichhörnchen wird genannt, wie es da rumhupft von einem Ast zum anderen. Wie der Teifel springt es da hin und her. Und dann entdeckt der Text dort auch ein Waldvögelein, egal ob es Wind oder Regen, das sich im Tannenbaum schützt und auf dem grünen Ast so schön singt. (Autor: Welches könnte es sein, wenn es bei jedem Wetter dort ist?) Bei jedem Wetter besonders gern, weil es dort Schutz findet. Ich würde mal meinen, das könnte auf jeden Fall eine der vielen Meisen sein, die ja, wie alle Vögel im Frühjahr, einen sehr vielfältigen Gesang haben, auf jeden Fall auffällig sind."
"Mein Name ist Hubert Zierl. Ich selber bin als Försterssohn in der Jachenau geboren, vor 73 Jahren, und ich habe den Beruf meines Vaters, der auch Förster war, ergriffen."
"Und auf Grund meiner Dissertation, die ich über die Hochlagenwälder im Bayerischen Wald geschrieben habe, bin ich dann gebeten worden, was ich gerne gemacht habe, 1972 in den damals noch sehr jungen Nationalpark Bayerischer Wald zu gehen. Und von dort kam ich 1977, noch am Ende der Planungsphase des Nationalparks Berchtesgaden, eben nach Berchtesgaden. Und ich habe 1978 die Leitung des Nationalparks übernommen, bis 2001."
"Und in dieser Zeit kam ich dann auch zwangsläufig in Kontakt mit dieser Diskussion: Was ist ein echtes, was ist ein unechtes Volkslied? Was ist ein volkstümliches Lied, wie das unechte auch bezeichnet wird."
"Und da war ich dann doch erstaunt, wie sowohl die Lieder im Bayerischen Wald und auch hier in Berchtesgaden, welche erstaunliche Artenvielfalt die haben. Und zwar nicht nur mit Sensationstieren und –pflanzen ausgestattet, was ja im volkstümlichen Lied auch vorkommt, aber sehr artenarm, sondern auch mit Arten, die weniger sensationell sind, wo die Fliegen, die Laus, das Wachslab, die Krummsegge und vieles andere noch vorkommen."
(Autor: Gab es ein Erlebnis, das Sie auf das Thema aufmerksam machte? Gab es ein Aha-Erlebnis?) "Da ist die Entwicklung vielleicht zu langsam gegangen. Wenn man sich mit der Volksmusik beschäftigt und das nicht nur oberflächlich betreibt, dann kommt man schon langsam zu den Ergebnissen: Aha, da steckt ein bissl mehr drin wie Hirsch, Gams und Reh oder Adler."
"Ein Aha-Erlebnis war dann möglicherweise, als ich angefangen habe das tatsächlich zu analysieren und mal alle Lieder, zu denen ich Zugriff hatte, mal durchzuschauen. Da war ich dann doch erstaunt, ich habe es nicht mehr genau im Kopf, aber so 60 Tier- und Pflanzenarten gefunden zu haben."
(Autor: Sie sagen, die da-wo-Lieder.) "Die da-wo-Lieder, ja - dort, wo was wächst, wo was steht, wo ein Berg steht, da ist meine Heimat."
"Es ist halt einfach, zu sagen: Da wo, da wo, da wo. (lacht) Das ist vielleicht eine Verflachung, die dann dazu geführt hat, dass man dann auch nur mehr einige Tiere und Pflanzen aufgenommen hat, möglicherweise solche, die der Texter, der keine Artenvielfalt kannte, noch irgendwo im Kopf gehabt hat und vielleicht auch erlebt hat, wenn er irgendwo Urlaub gemacht hat: Enzian, Almrausch und Edelweiß, das waren Sensationsblumen - die hat er im Kopf gehabt. Und da war dann schnell da-wo, da-wo, da-wo der Hirsch, der Gams und das Edelweiß und da-wo das Alpenglühen leuchtet im Text geworden." (lacht)
"Ja, also da ist das eine Lied: "Das jagerische Leben". Das geht tatsächlich durchs Jahr. Und wenn es gar nichts anderes mehr zu jagen gibt im Winter, da jagert er halt aufs Dirndl. (lacht)" (Autor: Ist das ein Volkslied?) "Ja."
(Autor: Was teilt uns das Lied mit?) "Das Lied teilt eigentlich mit, dass es das überwiegende Jahr über immer was zum Jagen gibt. Im Frühjahr geht's an mit der Hahnbalz, Spielhahn [Birkhahn] wie Auerhahn; im Herbst ist dann vor allem die Hirschbrunft; dann irgendwo die Gams, die schon im Schnee stehen; dann im Winter in den klaren Mondnächten, wenn der Fuchs dann vom Wald auf die offenen Felder zieht, um nach Hasen oder Mäusen zu suchen. Und wenn alles dann vorbei ist, dann geht es auf die Dirndl. (lacht)"
"Ja und da habe ich jetzt noch ein Frühjahrslied, auch beginnend mit einem meteorologischen Phänomen, wo der Schnee weggeht, aber gleich balzt auch schon der Schildhahn oder der Birkhahn. Der Brandvogel wispert – bin mir jetzt nicht sicher, was mit Brandvogel gemeint ist, aber ich vermute, dass das die Ringamsel oder die Ringdrossel gemeint ist. Und dann ist auch noch der Gamsbock erwähnt, der jetzt über die Mauer, also über den Grat hinüber marschieren kann, weil auf der Südseite, wo er den Winter auf relativ schneefreier Seite gestanden ist, da kann er jetzt über die Mauer auf die Nordseite hinüber."
(Autor: Auch das Adjektiv ist ja bezeichnend: der Vogel ertönt nicht, sondern er wispert.) "Ja, er wispert. Wenn es diese Ringdrossel oder Ringamsel ist. Bei der schwarzen Amsel könnte man sich das Tönen vom Gesang her eher vorstellen. Bei der Ringamsel ... krächzen ist vielleicht der schlechtere Ausdruck, es ist zwischen krächzen und flöten drin. (lacht)"
"Wann dar Schnee weggeht und da Schildhoh pfalzt" [balzt] – also das ist eine zuverlässige Frühjahrsbeschreibung. (Autor: Lesen Sie bitte mal vor, weil da ja sehr viel präzises drinsteht.) "Wann dar Schnee weggeht und da Schildhoh pfalzt und da Brandvogl wischplat [wispert] fei, wann da Gamsbock wieda üba d' Maua [über den Bergkamm] walzt, wird auf 'n Alman [auf den Almen] aa da Langs bald sei." Also Langs ist das Frühjahr. Dann kommt ein Jodler Holladiri und so weiter. Und dann wird wiederholt: ... wird auf 'n Alman aa [auch] da Langs bald sei." Weiter: "Wia die Drossl schlagt und da Guggu schreit / und da Fuchs bellt im finstern Moas", Moas ist der Holzschlag, "kimmt der Rehbock aa bald aus'm Dickat für / und ruaft schö lustig nach seina Goaß" Also da ist er ein bischen früh dran, wenn da die Brunftzeit gemeint ist, denn die ist dann erst im Juli. Aber was da rüberkommt: Der Rehbock grenzt sein Revier ab und hat da auch seine Töne, was das Volkslied vielleicht anders interpretiert. "Wann da Auswärts kimmt, na wern die Wieslan grea / und die Kuahlan schrei'n im Wintastall, / möcht'n halt aa wieda auf die Alma geh, / ja, ja und gfrein tuat uns halt allemal."
"Und gerade bei den Jagdliedern ist es häufig so, dass es mit einer Naturbeobachtung angeht, aber irgendwann kommt dann die Jagd auf die Dirndl (lacht) auch sehr bald dazu. (Autor: Aber nicht in diesem Lied.) In diesem Lied nicht. Ich muss mal schauen, ob ich des ... " (blättert im Liedbuch)
"Da geht es auch um ein Jagdlied: Springt der Hirsch übern Bach und da wird auch beschrieben, wie flott das geht. Aber dann werden noch zwei weitere Tiere genannt, die offensichtlich noch flinker sind. Die letzte Strophe: Und der Floh und die Fliagn, die sind so schwer zu kriang / hätte der Floh die Flügel von der Fliagn, wär' er noch schwerer zu kriang." (lacht)
"Also jeder weiß, der Fliegen vom Essentisch vertreiben will, dass das eine hervorragende Beobachtung im Volkslied ist." (lacht)
"Mehr Tiere. (Weshalb?) Ja, weil für die Musikanten, die aus dem Volke stammten, weil offensichtlich für sie die Tiere interessanter waren. (lacht) Vielleicht auch deshalb, weil diese nicht so gut zu beobachten sind wie die Pflanzen."
"Eine Pflanze, ein Baum läuft nicht davon, die sind etwas Alltägliches. Aber bei einem Spiel- oder Auerhahn, da muss man sich bemühen (lacht), um den zu sehen. Und das erhöht natürlich auch den Reiz."
"Und so könnte ich es mir vorstellen, das ist also meine These, dass die Tierarten etwas reichlicher vertreten sind als die Pflanzen."
"Die Pflanzen sind halt in erster Linie wohl jene Pflanzen, denen man draußen in der Natur begegnet. Das ist der Bauer, der am Acker den Pflanzen begegnet, der sein Vieh auf der Weide hat. Und da ist der Bauer, der auch einen Wald hat."
"Frauenmanterl – das ist eine sehr beliebte Weidepflanze."
"Also das der Text bis in diese wenig sensationellen Pflanzen hinein geht. Das Volkslied bleibt nicht bei den attraktiven Blumen, Blütenpflanzen hängen, die auf Heimat-Abenden gerne vorgestellt werden, sondern es beschäftigt sich auch mit Pflanzen, die nicht blühen wie zum Beispiel den Moosen, die blühen zwar, aber nicht attraktiv. (lacht) Auch beliebte Nahrungspflanzen auf den Wiesen, auf den Weiden spielen eine Rolle. Beispielsweise des Frauenmanterl ist eine sehr beliebte Futterpflanze, auch eine Äsungspflanze für das Wild. Und neulich habe ich sogar gehört, dass es in der Heilkunde wieder eine wichtige Rolle spielt."
"Wenn Sie eine Veranstaltung, ob nun Live oder im Radio oder im Fernsehen hören, und Sie hören dort mehrmals dort-wo-der-Adler-schreit, dort-wo-die-Felswand-steil-in-den-Himmel-ragt, dort-wo-der-Hirsch-röhrt und so weiter, dort-wo-das-Edelweis-und-der-Almrausch-blüht, dann können Sie sicher sein, jetzt sind sie beim volkstümlichen oder beim halbscharigen Volkslied." (lacht)
(Autor: Die haben nicht mehr die Bodenhaftung, sondern sie bedienen sich eines Abziehbildes, eines Klischees.) "Eine Postkarte. Schönen Gruß aus Berchtesgaden, Wetter schön, Essen auch. Schönen Gruß aus Berchtesgaden." (lacht) (Autor: PS. Bringe Enzian mit.) (herzhaftes Gelächter)
Literatur zur Sendung
- Zierl, Hubert
Natubeobachtungen im Volkslied des Bayerischen Waldes
in: Sänger- und Musikantenzeitung
- Schmidkunz, Walter
Das leibhaftige Liederbuch
- Fanderl, Wastl (Hrg.)
Alpenländische Liederblätter
- Greinsberger, Kathi
Fischbachauer Liederbüchl
- Pauli, Kiem
Alte oberbayerische Volkslieder
- Zachmeier, Erwin
Geheimsprache Volkslied?
in: Volksmusik in Bayern
- Nußbaumer, Thomas
Natur im Volkslied – Volkslied in der Natur
in: Vierteltakt
- Binder / Fartacek (Hrg.)
Der Musikantenstadl. Alpine Populärkultur im fremden Blick
- Brendel, Ulrich
Die Tierwelt des Nationalparks Berchtesgaden
- Peer / Lippert / Wunder / Seidenschwarz
Die Pflanzenwelt des Nationalparks Berchtesgaden
"Im Gegensatz zu dem sogenannten Volkstümlichen, das eigentlich nur Hirsch, Reh und Gams kennt (obwohl Reh ist schon spärlich), aber Adler; dann Edelweiss, Enzian und Almrausch. Und wenn man das Alpenglühen als meteorologische Erscheinung sehen will, dann kommt auch das noch vor. (lacht) Aber recht viel mehr werden sie nicht finden."
"Während hier kommen ja auch völlig unsensationelle Tiere wie der Floh, die Fliege, die Laus und was weiß ich alles vor. (Autor: Wachslab.) Wachslab, ja die Stechpalme, die Ilex. (Autor: die Ratz [Ratte]) Die Ratz."
"Ja, das ist eine Anlehnung an das Weihnachtslied 'O Tannenbaum, o Tannenbaum / wie grün sind deine Blätter', wobei man ja sagen kann, dass vieles, was heute als Tannenbaum an Weihnachten in der guten Stube steht, meistens eine Fichte ist. (lacht) Der Tannenbaum hat halt den Vorteil, dass er die Nadeln etwas länger hält, die Fichte nadelt sehr rasch ab."
Atmo: Rotkehlchen
"Da geht es um einen Singvogel, der – wie das Lied beschreibt - oben auf dem Tannenbaum sitzt und so schön singt. Und dieser schöne Gesang verleitet zunächst den Sänger, dies für eine Nachtigall zu halten. Dann korrigiert er sich aber in der nächsten Strophe selber (Wanduhr schlägt) und sagt: Nein, auf der Tanne singt keine Nachtigall, das muss wohl ein Rotkröpferl sein. Ein Rotkröpferl ist ein Rotkehlchen. Und damit beschreibt er auch das Vorkommen dieser beiden Vogelarten sehr gut."
"Wenn Sie im Frühjahr durch einen Nadelwald gehen, werden sie wahrscheinlich immer irgendwo auf diesem Gipfel dieses Rotkehlchen sehen, das wirklich sehr schön singt. Und die Nachtigall, schreibt das Lied, sitzt in der Haselnußstaude. Die Nachtigall ist ein wärmeliebender Vogel und der Haselnußstrauch ist eben ein Strauch, ein kleiner Baum an den warmen Waldrändern. Also eine wunderschöne Beschreibung, wo was hingehört."
"Und dieses Lied über den Tannenbaum vermerkt zumindestens, dass die Wurzeln da im feuchten Bereich wachsen. An und für sich etwas Naheliegendes und selbstverständliches, aber dass so eine Beobachtung oder so ein Wissen in einem Lied untergebracht ist, ist schon ein Hinweis, dass man über die reine Artenkenntnis hinausgeht."
"Oder auch, was alles in dem Tannenbaum herumhüpft. Von dem Eichhörnchen ist da die Rede oder von den Vögeln, die im Tannenbaum singen. (Autor: Welche sind das?) Das Eichhörnchen wird genannt, wie es da rumhupft von einem Ast zum anderen. Wie der Teifel springt es da hin und her. Und dann entdeckt der Text dort auch ein Waldvögelein, egal ob es Wind oder Regen, das sich im Tannenbaum schützt und auf dem grünen Ast so schön singt. (Autor: Welches könnte es sein, wenn es bei jedem Wetter dort ist?) Bei jedem Wetter besonders gern, weil es dort Schutz findet. Ich würde mal meinen, das könnte auf jeden Fall eine der vielen Meisen sein, die ja, wie alle Vögel im Frühjahr, einen sehr vielfältigen Gesang haben, auf jeden Fall auffällig sind."
"Mein Name ist Hubert Zierl. Ich selber bin als Försterssohn in der Jachenau geboren, vor 73 Jahren, und ich habe den Beruf meines Vaters, der auch Förster war, ergriffen."
"Und auf Grund meiner Dissertation, die ich über die Hochlagenwälder im Bayerischen Wald geschrieben habe, bin ich dann gebeten worden, was ich gerne gemacht habe, 1972 in den damals noch sehr jungen Nationalpark Bayerischer Wald zu gehen. Und von dort kam ich 1977, noch am Ende der Planungsphase des Nationalparks Berchtesgaden, eben nach Berchtesgaden. Und ich habe 1978 die Leitung des Nationalparks übernommen, bis 2001."
"Und in dieser Zeit kam ich dann auch zwangsläufig in Kontakt mit dieser Diskussion: Was ist ein echtes, was ist ein unechtes Volkslied? Was ist ein volkstümliches Lied, wie das unechte auch bezeichnet wird."
"Und da war ich dann doch erstaunt, wie sowohl die Lieder im Bayerischen Wald und auch hier in Berchtesgaden, welche erstaunliche Artenvielfalt die haben. Und zwar nicht nur mit Sensationstieren und –pflanzen ausgestattet, was ja im volkstümlichen Lied auch vorkommt, aber sehr artenarm, sondern auch mit Arten, die weniger sensationell sind, wo die Fliegen, die Laus, das Wachslab, die Krummsegge und vieles andere noch vorkommen."
(Autor: Gab es ein Erlebnis, das Sie auf das Thema aufmerksam machte? Gab es ein Aha-Erlebnis?) "Da ist die Entwicklung vielleicht zu langsam gegangen. Wenn man sich mit der Volksmusik beschäftigt und das nicht nur oberflächlich betreibt, dann kommt man schon langsam zu den Ergebnissen: Aha, da steckt ein bissl mehr drin wie Hirsch, Gams und Reh oder Adler."
"Ein Aha-Erlebnis war dann möglicherweise, als ich angefangen habe das tatsächlich zu analysieren und mal alle Lieder, zu denen ich Zugriff hatte, mal durchzuschauen. Da war ich dann doch erstaunt, ich habe es nicht mehr genau im Kopf, aber so 60 Tier- und Pflanzenarten gefunden zu haben."
(Autor: Sie sagen, die da-wo-Lieder.) "Die da-wo-Lieder, ja - dort, wo was wächst, wo was steht, wo ein Berg steht, da ist meine Heimat."
"Es ist halt einfach, zu sagen: Da wo, da wo, da wo. (lacht) Das ist vielleicht eine Verflachung, die dann dazu geführt hat, dass man dann auch nur mehr einige Tiere und Pflanzen aufgenommen hat, möglicherweise solche, die der Texter, der keine Artenvielfalt kannte, noch irgendwo im Kopf gehabt hat und vielleicht auch erlebt hat, wenn er irgendwo Urlaub gemacht hat: Enzian, Almrausch und Edelweiß, das waren Sensationsblumen - die hat er im Kopf gehabt. Und da war dann schnell da-wo, da-wo, da-wo der Hirsch, der Gams und das Edelweiß und da-wo das Alpenglühen leuchtet im Text geworden." (lacht)
"Ja, also da ist das eine Lied: "Das jagerische Leben". Das geht tatsächlich durchs Jahr. Und wenn es gar nichts anderes mehr zu jagen gibt im Winter, da jagert er halt aufs Dirndl. (lacht)" (Autor: Ist das ein Volkslied?) "Ja."
(Autor: Was teilt uns das Lied mit?) "Das Lied teilt eigentlich mit, dass es das überwiegende Jahr über immer was zum Jagen gibt. Im Frühjahr geht's an mit der Hahnbalz, Spielhahn [Birkhahn] wie Auerhahn; im Herbst ist dann vor allem die Hirschbrunft; dann irgendwo die Gams, die schon im Schnee stehen; dann im Winter in den klaren Mondnächten, wenn der Fuchs dann vom Wald auf die offenen Felder zieht, um nach Hasen oder Mäusen zu suchen. Und wenn alles dann vorbei ist, dann geht es auf die Dirndl. (lacht)"
"Ja und da habe ich jetzt noch ein Frühjahrslied, auch beginnend mit einem meteorologischen Phänomen, wo der Schnee weggeht, aber gleich balzt auch schon der Schildhahn oder der Birkhahn. Der Brandvogel wispert – bin mir jetzt nicht sicher, was mit Brandvogel gemeint ist, aber ich vermute, dass das die Ringamsel oder die Ringdrossel gemeint ist. Und dann ist auch noch der Gamsbock erwähnt, der jetzt über die Mauer, also über den Grat hinüber marschieren kann, weil auf der Südseite, wo er den Winter auf relativ schneefreier Seite gestanden ist, da kann er jetzt über die Mauer auf die Nordseite hinüber."
(Autor: Auch das Adjektiv ist ja bezeichnend: der Vogel ertönt nicht, sondern er wispert.) "Ja, er wispert. Wenn es diese Ringdrossel oder Ringamsel ist. Bei der schwarzen Amsel könnte man sich das Tönen vom Gesang her eher vorstellen. Bei der Ringamsel ... krächzen ist vielleicht der schlechtere Ausdruck, es ist zwischen krächzen und flöten drin. (lacht)"
"Wann dar Schnee weggeht und da Schildhoh pfalzt" [balzt] – also das ist eine zuverlässige Frühjahrsbeschreibung. (Autor: Lesen Sie bitte mal vor, weil da ja sehr viel präzises drinsteht.) "Wann dar Schnee weggeht und da Schildhoh pfalzt und da Brandvogl wischplat [wispert] fei, wann da Gamsbock wieda üba d' Maua [über den Bergkamm] walzt, wird auf 'n Alman [auf den Almen] aa da Langs bald sei." Also Langs ist das Frühjahr. Dann kommt ein Jodler Holladiri und so weiter. Und dann wird wiederholt: ... wird auf 'n Alman aa [auch] da Langs bald sei." Weiter: "Wia die Drossl schlagt und da Guggu schreit / und da Fuchs bellt im finstern Moas", Moas ist der Holzschlag, "kimmt der Rehbock aa bald aus'm Dickat für / und ruaft schö lustig nach seina Goaß" Also da ist er ein bischen früh dran, wenn da die Brunftzeit gemeint ist, denn die ist dann erst im Juli. Aber was da rüberkommt: Der Rehbock grenzt sein Revier ab und hat da auch seine Töne, was das Volkslied vielleicht anders interpretiert. "Wann da Auswärts kimmt, na wern die Wieslan grea / und die Kuahlan schrei'n im Wintastall, / möcht'n halt aa wieda auf die Alma geh, / ja, ja und gfrein tuat uns halt allemal."
"Und gerade bei den Jagdliedern ist es häufig so, dass es mit einer Naturbeobachtung angeht, aber irgendwann kommt dann die Jagd auf die Dirndl (lacht) auch sehr bald dazu. (Autor: Aber nicht in diesem Lied.) In diesem Lied nicht. Ich muss mal schauen, ob ich des ... " (blättert im Liedbuch)
"Da geht es auch um ein Jagdlied: Springt der Hirsch übern Bach und da wird auch beschrieben, wie flott das geht. Aber dann werden noch zwei weitere Tiere genannt, die offensichtlich noch flinker sind. Die letzte Strophe: Und der Floh und die Fliagn, die sind so schwer zu kriang / hätte der Floh die Flügel von der Fliagn, wär' er noch schwerer zu kriang." (lacht)
"Also jeder weiß, der Fliegen vom Essentisch vertreiben will, dass das eine hervorragende Beobachtung im Volkslied ist." (lacht)
"Mehr Tiere. (Weshalb?) Ja, weil für die Musikanten, die aus dem Volke stammten, weil offensichtlich für sie die Tiere interessanter waren. (lacht) Vielleicht auch deshalb, weil diese nicht so gut zu beobachten sind wie die Pflanzen."
"Eine Pflanze, ein Baum läuft nicht davon, die sind etwas Alltägliches. Aber bei einem Spiel- oder Auerhahn, da muss man sich bemühen (lacht), um den zu sehen. Und das erhöht natürlich auch den Reiz."
"Und so könnte ich es mir vorstellen, das ist also meine These, dass die Tierarten etwas reichlicher vertreten sind als die Pflanzen."
"Die Pflanzen sind halt in erster Linie wohl jene Pflanzen, denen man draußen in der Natur begegnet. Das ist der Bauer, der am Acker den Pflanzen begegnet, der sein Vieh auf der Weide hat. Und da ist der Bauer, der auch einen Wald hat."
"Frauenmanterl – das ist eine sehr beliebte Weidepflanze."
"Also das der Text bis in diese wenig sensationellen Pflanzen hinein geht. Das Volkslied bleibt nicht bei den attraktiven Blumen, Blütenpflanzen hängen, die auf Heimat-Abenden gerne vorgestellt werden, sondern es beschäftigt sich auch mit Pflanzen, die nicht blühen wie zum Beispiel den Moosen, die blühen zwar, aber nicht attraktiv. (lacht) Auch beliebte Nahrungspflanzen auf den Wiesen, auf den Weiden spielen eine Rolle. Beispielsweise des Frauenmanterl ist eine sehr beliebte Futterpflanze, auch eine Äsungspflanze für das Wild. Und neulich habe ich sogar gehört, dass es in der Heilkunde wieder eine wichtige Rolle spielt."
"Wenn Sie eine Veranstaltung, ob nun Live oder im Radio oder im Fernsehen hören, und Sie hören dort mehrmals dort-wo-der-Adler-schreit, dort-wo-die-Felswand-steil-in-den-Himmel-ragt, dort-wo-der-Hirsch-röhrt und so weiter, dort-wo-das-Edelweis-und-der-Almrausch-blüht, dann können Sie sicher sein, jetzt sind sie beim volkstümlichen oder beim halbscharigen Volkslied." (lacht)
(Autor: Die haben nicht mehr die Bodenhaftung, sondern sie bedienen sich eines Abziehbildes, eines Klischees.) "Eine Postkarte. Schönen Gruß aus Berchtesgaden, Wetter schön, Essen auch. Schönen Gruß aus Berchtesgaden." (lacht) (Autor: PS. Bringe Enzian mit.) (herzhaftes Gelächter)
Literatur zur Sendung
- Zierl, Hubert
Natubeobachtungen im Volkslied des Bayerischen Waldes
in: Sänger- und Musikantenzeitung
- Schmidkunz, Walter
Das leibhaftige Liederbuch
- Fanderl, Wastl (Hrg.)
Alpenländische Liederblätter
- Greinsberger, Kathi
Fischbachauer Liederbüchl
- Pauli, Kiem
Alte oberbayerische Volkslieder
- Zachmeier, Erwin
Geheimsprache Volkslied?
in: Volksmusik in Bayern
- Nußbaumer, Thomas
Natur im Volkslied – Volkslied in der Natur
in: Vierteltakt
- Binder / Fartacek (Hrg.)
Der Musikantenstadl. Alpine Populärkultur im fremden Blick
- Brendel, Ulrich
Die Tierwelt des Nationalparks Berchtesgaden
- Peer / Lippert / Wunder / Seidenschwarz
Die Pflanzenwelt des Nationalparks Berchtesgaden