Das eigene Leben als Geschichte
Vietnam, Kanada, Sprach- und Identitätsverlust, zerbrochene Träume und ein neu entdecktes Leben: Kim Thúys Lebensbericht "Der Klang der Fremde" landete auf dem frankophonen Buchmarkt sofort auf Platz eins. Jetzt ist der Roman auf Deutsch erschienen.
"Wenn ich die Küchenchefs arbeiten sehe, ist das wie ein Tanz, alles ist synchronisiert. – Wir haben eine kleine Küche, wir sind eine Cocktailbar – ja, das ist ja noch schwieriger."
Kim Thúy blickt sich um, neugierig, ihren wachen Augen entgeht nichts. Im "Billy Wilders" am Potsdamer Platz in Berlin lässt sich die kanadische Schriftstellerin spaßeshalber von einem Mitarbeiter die kleine Restaurantküche zeigen: Sie schnuppert in die Soßentöpfe, berührt die grünen Salatblätter, inspiziert den Herd und die Regale voller Geschirr.
Die zierliche Frau, 1968 in Saigon geboren, kennt sich aus: Viele Jahre hatte sie selbst ein vietnamesisches Restaurant in Montreal – ein Wahnsinn sei das gewesen, sagt sie lachend.
"Mittags gab es nur ein Gericht, mehr habe ich nicht geschafft. Abends etwas mehr: zum Beispiel auch Frühlingsrollen. Aber die echten, nicht mit Minze, sondern mit sechs verschiedenen Gewürzen. Das machte viel Arbeit. Der Geschmack entfaltet sich dann im Mund wie ein Strauß."
Schmecken, riechen, fühlen, hören, sehen – die Autorin mit den langen glatten Haaren und den leicht schräg stehenden Augen liebt es, all ihre Sinne zu nutzen. Auch den Leser ihres autobiografisch geprägten Romans "Der Klang der Fremde" nimmt sie mit auf eine intensive sinnliche Reise: zu ihrer Familie nach Saigon, wo das zarte Mädchen in einem großbürgerlichen Elternhaus aufwächst und das Leben in der Stadt nur aus dem Fenster betrachtet; in den dunklen Schiffsbauch, in dem sie als zehnjähriges Kind mit Tausenden anderer Boat People eng aneinander gedrängt vor den nordvietnamesischen Truppen flieht; nach Kanada, in die neue Heimat, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee anfasst und Essen auf eine Gabel spießt. In Kanada lebt die 42-Jährige auch heute, in Montreal, mit ihrem Mann und zwei Kindern.
"Die Sinne zu benutzen, das verdanke ich meinem autistischen Sohn. Denn wenn er etwas nicht essen mag, frage ich mich: Stört ihn die Farbe, die Beschaffenheit, der Geruch oder vielleicht das Geräusch, wenn er hineinbeißt? Durch ihn lernte ich, die Sinne zu isolieren und genau auf sie zu achten. Ohne ihn hätte ich das Buch nie so schreiben können."
Sie selbst sei in Saigon wie in Watte gehüllt aufgewachsen, so als existiere sie gar nicht, erzählt Kim Thúy und blickt nachdenklich vor sich hin. Erst im kalten Kanada, wo sie, ein verlaustes und sprachloses Immigrantenkind, mit großem Wohlwollen aufgenommen worden sei, habe sie ihre Stimme gefunden. Und gut 30 Jahre später die Kraft, ihre Geschichte aufzuschreiben.
"Wir waren voll Angst, in Angst erstarrt. ..Wir hielten uns nicht mehr die Nase zu, wenn unsere Nachbarn sich erbrachen. Wir waren erstarrt, eingeklemmt zwischen den Schultern der einen, den Beinen der anderen, gefangen in der Angst aller. Wir waren gelähmt."
Wer wie sie durch Glück dem Tod in einem Flüchtlingsboot von der Schippe gesprungen sei, der müsse für zehn Menschen weiterleben, meint die Autorin. Vermutlich rühren ihre positive Ausstrahlung und die schier unerschöpfliche Energie daher.
"Man kann sehr tief fallen, und das tut sehr weh. Aber ich habe ja nur den Anfang des Abgrunds gesehen und vielleicht eine Ahnung, wie tief und finster er sein könnte. Einerseits bin ich verletzlicher und habe mehr Angst, weil ich weiß, wie schnell man plötzlich fallen kann. Aber andererseits habe ich daraus auch eine Kraft entwickelt: Ich komme aus den verschiedensten Situationen wieder auf die Beine. Ich weiß, wie man mit nur einem Dollar am Tag überleben kann."
Einen Traumberuf hatte Kim Thúy nie: In Kanada arbeitete als Schneiderin und Übersetzerin, studierte Jura, kehrte für eine Weile ins Nachkriegsvietnam zurück; dann führte sie in Montreal ein Restaurant und war auch hin und wieder Gastrokritikerin im Radio.
"Es ist der typische Lebenslauf eines Emigranten. Wir fragen uns nicht, was wir gerne machen möchten. Wir nehmen das, was auf uns zukommt."
Und plötzlich ist sie Schriftstellerin. Eine, bei der sich Kulturen und Sprachen vermischen. Wie einen Reigen hat sie ihre Geschichte in kurzen Kapiteln aufgebaut, poetische Bilder entworfen, die sich einprägen. Dass Kim Thúy mit ihrem kleinen Erstlingswerk auf dem frankophonen Buchmarkt solche Erfolge feiert, kann die zierliche Frau immer noch nicht fassen. Vielleicht hat ihr Französisch nicht die Musikalität, die diese Sprache sonst hat, aber darin liegt ein großer Reiz.
"Ich habe keine Muttersprache. Ich denke nicht auf Vietnamesisch, sondern auf Französisch, das ist die Sprache, in der ich auch lernte, zu lieben. Englisch ist für mich Arbeitssprache, Vietnamesisch die Sprache meiner Kindheit; da könnte ich zum Beispiel nie über Sinnlichkeit sprechen, ich war ja erst zehn, als ich das Land verließ. Aber dennoch fehlen mir auch im Französischen viele Worte. Ich habe das Gefühl, ich beherrsche keine Sprache wirklich."
Kim Thúy blickt sich um, neugierig, ihren wachen Augen entgeht nichts. Im "Billy Wilders" am Potsdamer Platz in Berlin lässt sich die kanadische Schriftstellerin spaßeshalber von einem Mitarbeiter die kleine Restaurantküche zeigen: Sie schnuppert in die Soßentöpfe, berührt die grünen Salatblätter, inspiziert den Herd und die Regale voller Geschirr.
Die zierliche Frau, 1968 in Saigon geboren, kennt sich aus: Viele Jahre hatte sie selbst ein vietnamesisches Restaurant in Montreal – ein Wahnsinn sei das gewesen, sagt sie lachend.
"Mittags gab es nur ein Gericht, mehr habe ich nicht geschafft. Abends etwas mehr: zum Beispiel auch Frühlingsrollen. Aber die echten, nicht mit Minze, sondern mit sechs verschiedenen Gewürzen. Das machte viel Arbeit. Der Geschmack entfaltet sich dann im Mund wie ein Strauß."
Schmecken, riechen, fühlen, hören, sehen – die Autorin mit den langen glatten Haaren und den leicht schräg stehenden Augen liebt es, all ihre Sinne zu nutzen. Auch den Leser ihres autobiografisch geprägten Romans "Der Klang der Fremde" nimmt sie mit auf eine intensive sinnliche Reise: zu ihrer Familie nach Saigon, wo das zarte Mädchen in einem großbürgerlichen Elternhaus aufwächst und das Leben in der Stadt nur aus dem Fenster betrachtet; in den dunklen Schiffsbauch, in dem sie als zehnjähriges Kind mit Tausenden anderer Boat People eng aneinander gedrängt vor den nordvietnamesischen Truppen flieht; nach Kanada, in die neue Heimat, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee anfasst und Essen auf eine Gabel spießt. In Kanada lebt die 42-Jährige auch heute, in Montreal, mit ihrem Mann und zwei Kindern.
"Die Sinne zu benutzen, das verdanke ich meinem autistischen Sohn. Denn wenn er etwas nicht essen mag, frage ich mich: Stört ihn die Farbe, die Beschaffenheit, der Geruch oder vielleicht das Geräusch, wenn er hineinbeißt? Durch ihn lernte ich, die Sinne zu isolieren und genau auf sie zu achten. Ohne ihn hätte ich das Buch nie so schreiben können."
Sie selbst sei in Saigon wie in Watte gehüllt aufgewachsen, so als existiere sie gar nicht, erzählt Kim Thúy und blickt nachdenklich vor sich hin. Erst im kalten Kanada, wo sie, ein verlaustes und sprachloses Immigrantenkind, mit großem Wohlwollen aufgenommen worden sei, habe sie ihre Stimme gefunden. Und gut 30 Jahre später die Kraft, ihre Geschichte aufzuschreiben.
"Wir waren voll Angst, in Angst erstarrt. ..Wir hielten uns nicht mehr die Nase zu, wenn unsere Nachbarn sich erbrachen. Wir waren erstarrt, eingeklemmt zwischen den Schultern der einen, den Beinen der anderen, gefangen in der Angst aller. Wir waren gelähmt."
Wer wie sie durch Glück dem Tod in einem Flüchtlingsboot von der Schippe gesprungen sei, der müsse für zehn Menschen weiterleben, meint die Autorin. Vermutlich rühren ihre positive Ausstrahlung und die schier unerschöpfliche Energie daher.
"Man kann sehr tief fallen, und das tut sehr weh. Aber ich habe ja nur den Anfang des Abgrunds gesehen und vielleicht eine Ahnung, wie tief und finster er sein könnte. Einerseits bin ich verletzlicher und habe mehr Angst, weil ich weiß, wie schnell man plötzlich fallen kann. Aber andererseits habe ich daraus auch eine Kraft entwickelt: Ich komme aus den verschiedensten Situationen wieder auf die Beine. Ich weiß, wie man mit nur einem Dollar am Tag überleben kann."
Einen Traumberuf hatte Kim Thúy nie: In Kanada arbeitete als Schneiderin und Übersetzerin, studierte Jura, kehrte für eine Weile ins Nachkriegsvietnam zurück; dann führte sie in Montreal ein Restaurant und war auch hin und wieder Gastrokritikerin im Radio.
"Es ist der typische Lebenslauf eines Emigranten. Wir fragen uns nicht, was wir gerne machen möchten. Wir nehmen das, was auf uns zukommt."
Und plötzlich ist sie Schriftstellerin. Eine, bei der sich Kulturen und Sprachen vermischen. Wie einen Reigen hat sie ihre Geschichte in kurzen Kapiteln aufgebaut, poetische Bilder entworfen, die sich einprägen. Dass Kim Thúy mit ihrem kleinen Erstlingswerk auf dem frankophonen Buchmarkt solche Erfolge feiert, kann die zierliche Frau immer noch nicht fassen. Vielleicht hat ihr Französisch nicht die Musikalität, die diese Sprache sonst hat, aber darin liegt ein großer Reiz.
"Ich habe keine Muttersprache. Ich denke nicht auf Vietnamesisch, sondern auf Französisch, das ist die Sprache, in der ich auch lernte, zu lieben. Englisch ist für mich Arbeitssprache, Vietnamesisch die Sprache meiner Kindheit; da könnte ich zum Beispiel nie über Sinnlichkeit sprechen, ich war ja erst zehn, als ich das Land verließ. Aber dennoch fehlen mir auch im Französischen viele Worte. Ich habe das Gefühl, ich beherrsche keine Sprache wirklich."