Das Ende der Unbekümmertheit
Junge Menschen in Norwegen haben sich in den letzten Jahren nur mäßig für Politik interessiert. Nach den Anschlägen vom 22. Juli könnte sich das geändert haben: 3000 Jugendliche sind seit der Katastrophe den Nachwuchsorganisationen der Parteien beigetreten.
Ein Gedicht des Schriftstellers Lars Saabye Christensen, das einen einfachen Namen trägt: 22-07-2011!
"Man bezeichnet die heutige Jugend als Utøya-Generation oder als Generation des 22. Juli. Diese Tragödie ist ihr Bezugspunkt, es ist ihr 09. April. Die Dinge, die sie in diesem Sommer erlebt haben, werden die Jugendlichen ihr Leben lang mit sich herumtragen."
Der 09. April der norwegischen Jugend. Ein jeder im Lande weiß, worauf Christensen anspielt. Der 09. April 1940 war der Tag, an dem deutschen Truppen Norwegen während des Zweiten Weltkrieges besetzten – ein Tag, der zum Symbol wurde für das Trauma einer jungen Nation, die ihre Unabhängigkeit erst wenige Jahrzehnte zuvor erlangt hatte. Ein Trauma, das das Land in der Nachkriegszeit geprägt hat und das in der Großeltern-Generation bis heute virulent ist.
In einem Raum im Folkets Hus im Zentrum von Oslo kommen junge Sozialdemokraten zusammen, um den Ausgang der Schulwahlen im Lande zu feiern. Darunter auch Überlebende der Katastrophe von Utøya – eben jenem Sommerlager der hier versammelten Jusos, das Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Tag nach dem Blutbad als Paradies seiner Jugend bezeichnete.
Es ist wichtig, dass wir hier wieder zusammenkommen, sagt Edwin Sövik und erzählt, die politischen Diskussionen der vergangenen Wochen seien natürlich von den Ereignissen des Sommers geprägt gewesen. Andererseits sei es – nach all der Trauer – auch eine Befreiung, zu einer Art von Normalität zurückzukehren.
Arshad Ali, ein ranker 20-Jähriger pakistanischer Herkunft, freut sich vor allem über die vielen neuen Gesichter an diesem Abend. Wie alle politischen Jugendorganisationen Norwegens haben vor allem die Jusos erheblichen Zulauf erhalten. Eines dieser neuen Gesichter ist Kira Dorisch, die sich – sagt sie – nach dem Angriff auf ihre Generationsgenossen schlichtweg engagieren musste. Je mehr wir sind, meint Kira, desto nachdrücklicher können wir Demokratie und Offenheit in unserem Land verteidigen.
Ein Gymnasium im Zentrum von Oslo. Durch die gläserne Decke des Atriums scheint die spätsommerliche Sonne. In der Mitte des Raums plätschert ein Springbrunnen vor sich hin. Die Stimmung in der großen Pause ist heiter, obwohl es auch hier Schüler gibt, die die Katastrophe von Utøya zwar nicht direkt, doch aber im näheren Umfeld erlebt haben. Ein solches Mädchen ist die 18-jährige Johanne, die erzählt, dass ihr Bruder mit einem Mädchen zur Schule ging, das dem Attentäter zum Opfer fiel.
Während der großen Pause sitzen Schüler in kleinen Gruppen – essen und unterhalten sich, während sie gleichzeitig auf ihren Smartphones und Laptops herumtippen. Mein zweites Ich, sagt Daniel, während er eine eingegangene Nachricht liest:
"Ich bin online, die meiste Zeit über. Auf meinem iPhone kontrolliere ich mein Facebook-Profil mindestens einmal pro Stunde, häufig auch sehr viel öfter, selbst in der Schule. Wenn ich dann nach Hause komme, skype ich mit Freunden oder rufe sie an – dann verabreden wir, wann und wo wir uns treffen. Ich denke, die meisten Jugendlichen heute möchten mit früher nicht tauschen, wo es all diese Kommunikationsmöglichkeiten nicht gab. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie eine Welt ohne Handy einmal aussah, wie man da Kontakt hielt zu Freunden. Wir haben uns daran gewöhnt, so zu leben – es ist selbstverständlich und Teil unseres Alltags."
Daniels Freund Oskar ist wie die meisten Schüler hier im legeren Stil der jungen Generation gekleidet. Offenes Hemd über der Hose, darunter ein weißes T-Shirt, Turnschuhe und verwuschelte Haare. Wer genau hinguckt aber wird erkennen: Es ist eine Schludrigkeit, die den Wohlstand nicht verbirgt. Ob Kleidung, Taschen, Uhren, Handys – alles Markenwaren, das Neueste von Neuesten. Kulturpessimismus ist hier Fehlanzeige. Auch den Gedanken, die permanente Erreichbarkeit und Hingabe an die Weite des digitalen Netzes führe zum Verlust menschlicher Nähe und Entstehen einer spaßbetonten Parallelwelt, teilt Oscar nicht:
"Das Internet kann beides. Einige nutzen es, um sich über die Welt um sich herum zu informieren. Andere wenden sich von ihr ab, flüchten sich in Online-Welten und isolieren sich. Sie finden ihre Kontakte in der digitalen Welt."
Ein paar Schritte weiter hat Rektor Sven Erik Rise sein Büro. Schon nach wenigen Augenblicken ist ihm anzumerken: Er hält große Stücke auf seine Schüler. Die meisten seien interessiert und wohlerzogen, viele interessierten sich für die Dinge, die in der Welt passieren und würden über Skype, Facebook und dergleichen Kontakt halten zu Gleichaltrigen am anderen Ende der Welt. Allerdings, sagt Rise, sei es auch eine Generation, die materielle Sorgen nie erlebt habe, die vieles als selbstverständlich erachte, das außerhalb Norwegens alles andere als selbstverständlich sei:
"Ich musste immer arbeiten – in den Wochenenden oder am Abend ab und zu und in den Ferien. Da gibt es weniger, sehr viel weniger. Wir waren desperat, wir mussten eine Arbeit kriegen, damit wir interrailen konnten oder so. Und natürlich, die Eltern haben jetzt viel mehr Geld. Und darum kümmern sich die Schüler nicht so sehr darum, eine Arbeit zu kriegen."
Verwöhnt, gelangweilt, naiv? Tatsächlich ist dieses Bild der norwegischen Jugend zu eindimensional. Gewiss gehört sie zu der weltweit wohlhabendsten. Gleichzeitig aber scheint ihr kollektives Interesse noch immer ausgeprägt. Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen sind Mitglied in Vereinen oder Organisationen.
Allerdings, so sagt Sigurd Allern, Professor am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Oslo und Experte für soziale Foren im Internet, spielt die digitale Welt auch für die Freizeitgestaltung der Jugendlichen eine immer größere Rolle. Eine Tendenz, die man auch beim Dachverband der Jugendorganisation Norwegens, LNU, bestätigt. Dessen Generalsekretär Martin Østerdal:
"Zum Beispiel diese Rollenspiele, die in Norwegen ja schon immer existiert haben. Früher war das ein vereinzeltes Phänomen, weil es in den kleinen Küstenorten vielleicht nur ein, zwei Jugendliche gab, die sich dafür interessierten – und der Abstand zum nächsten Ort war sehr weit. Heute überwindet die Technologie diese Abstände. Über die sozialen Netzwerke kann jemand, der im Norden des Landes in der Finnmark lebt, mit jemanden im Süden zusammenfinden. Das heißt, Sphären, die früher klein und verstreut waren, werden heute durch die Technik geeint und wachsen an."
Eine Tendenz, die laut Medienforscher Sigurd Allern auch Gefahren birgt:
"Im Netz entstehen heute natürlich auch Spezialforen, die Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenführen – Leute, die Frauen hassen oder Muslime, die eine gewisse ideologische Überzeugung teilen. Und es zeigt sich, dass diese Leute sich dort ansammeln, wo sie keinen Widerspruch erfahren, wo sie sich gegenseitig in ihren Überzeugungen bestätigen. Mit anderen Worten haben wir es mit dem absurden Faktum zu tun, dass sich im großen, weiten, öffentlichen und demokratischen Netz kleine Blasen bilden, die ihr eigenes Leben führen – Gemeinden oder eine neue Form von Internet-Sekten."
Seiten, wie sie auch der Attentäter des 22. Juli Anders Behring Breivik jahrelang frequentierte. Das Problem sei, so Allern, dass Foren dieser Art von der Normalgesellschaft oftmals ignoriert würden, und dass sie dadurch ihre eigene Dynamik entwicklen könnten:
"Worte haben Bedeutung und Worte können zu Gewalt führen. Verbaler Hass kann in Hassverbrechen enden. Es ist wie ein kleiner Hautfleck, den man ignoriert, und der sich dann zu einem Krebsgeschwür entwickelt – und das kann zu einem Problem werden für die Gesellschaft."
Und so stimmt skeptisch, was man an anderer Stelle in Oslo, nämlich am Institut für Gesellschaftsforschung, konstatiert hat. In den vergangenen Jahren sei der Abstand zwischen arm und reich in der norwegischen Gesellschaft gewachsen. Auch wenn es den Ärmsten in Norwegen im Vergleich zu anderen Ländern gut gehe, so müsse doch von einer relativen Armut gesprochen werde, die man an die eigenen Kinder vererbe. Die Jugendforscherin Guro Ødegård:
"In Norwegen sehen wir prinzipiell die gleichen Tendenzen, die kürzlich in London zu den Unruhen führten: Es gibt soziale Trennlinien, die bestimmte Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft herausdrängen – auch bei den Jugendlichen. Guckt man sich an, wer seine Schulausbildung vollendet und wer sie abbricht, dann ergeben sich bestimmte Muster. Und wenn dann etwa das politische Engagement der oberen Mittelklasse vorbehalten bleibt, ist das problematisch – egal, ob in London oder hier bei uns in Norwegen."
Vor diesem Hintergrund scheint besorgniserregend, dass in der Regel nur etwa ein Drittel der norwegischen Jugendlichen von ihrem Wahlrecht Gebrauch macht. Diese aber seinen lediglich ein Spiegel ihrer Eltern, beruhigt die Politologin Hanne Marthe Narud von der Osloer Universität:
"Das politische Engagement der ganzen Bevölkerung ist gefallen. Man nehme allein die Wahlbeteiligung. In den 1960er-Jahren lag sie bei etwa 80 Prozent, heute ist sie auf 60 Prozent gesunken. Der gestiegene Wohlstand spielt dabei eine große Rolle. Die Generation der Nachkriegszeit erlebte ja noch einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Klassen. Heute ist dieser Konflikt gelöst. Wir begreifen die Demokratie als etwas Selbstverständliches."
Markieren die Terroranschläge des 22. Juli diesbezüglich eine Trendwende? Ein neues gesellschaftliches Bewusstsein auch der Jugend? Hanne Marthe Narud ist skeptisch, obwohl erste Zahlen darauf hindeuten. 3000 Jugendliche seien den Nachwuchsorganisationen der Parteien seit der Katastrophe beigetreten – ein Zuwachs von mehr als 20 Prozent. Optimistischer ist so auch Jugendforscherin Guro Ødegård:
"Es gibt gute Gründe, die dafür sprechen, dass der 22. Juli einen langfristigen Effekt auf die Jugend haben wird. Sie befindet sich in einer formativen Phase, in der das politische Verhalten geprägt wird – vielmehr, als es bei uns Erwachsenen der Fall ist. Vom 11. September in den USA wissen wir, dass das politische Engagement kurz nach den Terroranschlägen kräftig anstieg. Sechs Monate danach aber war es wieder auf das ursprüngliche Niveau zurückgefallen – mit einer Ausnahme, nämlich bei den Jugendlichen. Und heute deuten viele Studien darauf hin, dass es just jene Jugendlichen waren, die damals mobilisiert wurden, die Barack Obama 2008 ins Amt trugen."
Ist der 22. Juli also tatsächlich der 09. April der norwegischen Jugend, wie es der Schriftsteller Lars Saabye Christensen formuliert? Sicher ist, die Katastrophe hat nicht nur die norwegische Gesellschaft erschüttert, sondern auch ihre Jugend daran erinnert, dass nicht alle Dinge, die sie als selbstverständlich erachtete, auch selbstverständlich sind. Als Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Abend der Schulwahlen bei den Jusos vorbeischaut, wird er angehimmelt wie ein Rockstar. Eine Momentaufnahme. Aber eine, die – trotz allem – hoffen lässt.
"Was so schwer ist zu verstehen, ist, dass aus der Gewalt des 22. Juli etwas Gutes gewachsen ist – Nähe, Freundschaft als Antwort auf den Hass. Norwegen und seine Jugend haben das Beste in sich mobilisiert, um das Böse des 22. Juli zu bekämpfen."
"Man bezeichnet die heutige Jugend als Utøya-Generation oder als Generation des 22. Juli. Diese Tragödie ist ihr Bezugspunkt, es ist ihr 09. April. Die Dinge, die sie in diesem Sommer erlebt haben, werden die Jugendlichen ihr Leben lang mit sich herumtragen."
Der 09. April der norwegischen Jugend. Ein jeder im Lande weiß, worauf Christensen anspielt. Der 09. April 1940 war der Tag, an dem deutschen Truppen Norwegen während des Zweiten Weltkrieges besetzten – ein Tag, der zum Symbol wurde für das Trauma einer jungen Nation, die ihre Unabhängigkeit erst wenige Jahrzehnte zuvor erlangt hatte. Ein Trauma, das das Land in der Nachkriegszeit geprägt hat und das in der Großeltern-Generation bis heute virulent ist.
In einem Raum im Folkets Hus im Zentrum von Oslo kommen junge Sozialdemokraten zusammen, um den Ausgang der Schulwahlen im Lande zu feiern. Darunter auch Überlebende der Katastrophe von Utøya – eben jenem Sommerlager der hier versammelten Jusos, das Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Tag nach dem Blutbad als Paradies seiner Jugend bezeichnete.
Es ist wichtig, dass wir hier wieder zusammenkommen, sagt Edwin Sövik und erzählt, die politischen Diskussionen der vergangenen Wochen seien natürlich von den Ereignissen des Sommers geprägt gewesen. Andererseits sei es – nach all der Trauer – auch eine Befreiung, zu einer Art von Normalität zurückzukehren.
Arshad Ali, ein ranker 20-Jähriger pakistanischer Herkunft, freut sich vor allem über die vielen neuen Gesichter an diesem Abend. Wie alle politischen Jugendorganisationen Norwegens haben vor allem die Jusos erheblichen Zulauf erhalten. Eines dieser neuen Gesichter ist Kira Dorisch, die sich – sagt sie – nach dem Angriff auf ihre Generationsgenossen schlichtweg engagieren musste. Je mehr wir sind, meint Kira, desto nachdrücklicher können wir Demokratie und Offenheit in unserem Land verteidigen.
Ein Gymnasium im Zentrum von Oslo. Durch die gläserne Decke des Atriums scheint die spätsommerliche Sonne. In der Mitte des Raums plätschert ein Springbrunnen vor sich hin. Die Stimmung in der großen Pause ist heiter, obwohl es auch hier Schüler gibt, die die Katastrophe von Utøya zwar nicht direkt, doch aber im näheren Umfeld erlebt haben. Ein solches Mädchen ist die 18-jährige Johanne, die erzählt, dass ihr Bruder mit einem Mädchen zur Schule ging, das dem Attentäter zum Opfer fiel.
Während der großen Pause sitzen Schüler in kleinen Gruppen – essen und unterhalten sich, während sie gleichzeitig auf ihren Smartphones und Laptops herumtippen. Mein zweites Ich, sagt Daniel, während er eine eingegangene Nachricht liest:
"Ich bin online, die meiste Zeit über. Auf meinem iPhone kontrolliere ich mein Facebook-Profil mindestens einmal pro Stunde, häufig auch sehr viel öfter, selbst in der Schule. Wenn ich dann nach Hause komme, skype ich mit Freunden oder rufe sie an – dann verabreden wir, wann und wo wir uns treffen. Ich denke, die meisten Jugendlichen heute möchten mit früher nicht tauschen, wo es all diese Kommunikationsmöglichkeiten nicht gab. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie eine Welt ohne Handy einmal aussah, wie man da Kontakt hielt zu Freunden. Wir haben uns daran gewöhnt, so zu leben – es ist selbstverständlich und Teil unseres Alltags."
Daniels Freund Oskar ist wie die meisten Schüler hier im legeren Stil der jungen Generation gekleidet. Offenes Hemd über der Hose, darunter ein weißes T-Shirt, Turnschuhe und verwuschelte Haare. Wer genau hinguckt aber wird erkennen: Es ist eine Schludrigkeit, die den Wohlstand nicht verbirgt. Ob Kleidung, Taschen, Uhren, Handys – alles Markenwaren, das Neueste von Neuesten. Kulturpessimismus ist hier Fehlanzeige. Auch den Gedanken, die permanente Erreichbarkeit und Hingabe an die Weite des digitalen Netzes führe zum Verlust menschlicher Nähe und Entstehen einer spaßbetonten Parallelwelt, teilt Oscar nicht:
"Das Internet kann beides. Einige nutzen es, um sich über die Welt um sich herum zu informieren. Andere wenden sich von ihr ab, flüchten sich in Online-Welten und isolieren sich. Sie finden ihre Kontakte in der digitalen Welt."
Ein paar Schritte weiter hat Rektor Sven Erik Rise sein Büro. Schon nach wenigen Augenblicken ist ihm anzumerken: Er hält große Stücke auf seine Schüler. Die meisten seien interessiert und wohlerzogen, viele interessierten sich für die Dinge, die in der Welt passieren und würden über Skype, Facebook und dergleichen Kontakt halten zu Gleichaltrigen am anderen Ende der Welt. Allerdings, sagt Rise, sei es auch eine Generation, die materielle Sorgen nie erlebt habe, die vieles als selbstverständlich erachte, das außerhalb Norwegens alles andere als selbstverständlich sei:
"Ich musste immer arbeiten – in den Wochenenden oder am Abend ab und zu und in den Ferien. Da gibt es weniger, sehr viel weniger. Wir waren desperat, wir mussten eine Arbeit kriegen, damit wir interrailen konnten oder so. Und natürlich, die Eltern haben jetzt viel mehr Geld. Und darum kümmern sich die Schüler nicht so sehr darum, eine Arbeit zu kriegen."
Verwöhnt, gelangweilt, naiv? Tatsächlich ist dieses Bild der norwegischen Jugend zu eindimensional. Gewiss gehört sie zu der weltweit wohlhabendsten. Gleichzeitig aber scheint ihr kollektives Interesse noch immer ausgeprägt. Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen sind Mitglied in Vereinen oder Organisationen.
Allerdings, so sagt Sigurd Allern, Professor am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Oslo und Experte für soziale Foren im Internet, spielt die digitale Welt auch für die Freizeitgestaltung der Jugendlichen eine immer größere Rolle. Eine Tendenz, die man auch beim Dachverband der Jugendorganisation Norwegens, LNU, bestätigt. Dessen Generalsekretär Martin Østerdal:
"Zum Beispiel diese Rollenspiele, die in Norwegen ja schon immer existiert haben. Früher war das ein vereinzeltes Phänomen, weil es in den kleinen Küstenorten vielleicht nur ein, zwei Jugendliche gab, die sich dafür interessierten – und der Abstand zum nächsten Ort war sehr weit. Heute überwindet die Technologie diese Abstände. Über die sozialen Netzwerke kann jemand, der im Norden des Landes in der Finnmark lebt, mit jemanden im Süden zusammenfinden. Das heißt, Sphären, die früher klein und verstreut waren, werden heute durch die Technik geeint und wachsen an."
Eine Tendenz, die laut Medienforscher Sigurd Allern auch Gefahren birgt:
"Im Netz entstehen heute natürlich auch Spezialforen, die Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenführen – Leute, die Frauen hassen oder Muslime, die eine gewisse ideologische Überzeugung teilen. Und es zeigt sich, dass diese Leute sich dort ansammeln, wo sie keinen Widerspruch erfahren, wo sie sich gegenseitig in ihren Überzeugungen bestätigen. Mit anderen Worten haben wir es mit dem absurden Faktum zu tun, dass sich im großen, weiten, öffentlichen und demokratischen Netz kleine Blasen bilden, die ihr eigenes Leben führen – Gemeinden oder eine neue Form von Internet-Sekten."
Seiten, wie sie auch der Attentäter des 22. Juli Anders Behring Breivik jahrelang frequentierte. Das Problem sei, so Allern, dass Foren dieser Art von der Normalgesellschaft oftmals ignoriert würden, und dass sie dadurch ihre eigene Dynamik entwicklen könnten:
"Worte haben Bedeutung und Worte können zu Gewalt führen. Verbaler Hass kann in Hassverbrechen enden. Es ist wie ein kleiner Hautfleck, den man ignoriert, und der sich dann zu einem Krebsgeschwür entwickelt – und das kann zu einem Problem werden für die Gesellschaft."
Und so stimmt skeptisch, was man an anderer Stelle in Oslo, nämlich am Institut für Gesellschaftsforschung, konstatiert hat. In den vergangenen Jahren sei der Abstand zwischen arm und reich in der norwegischen Gesellschaft gewachsen. Auch wenn es den Ärmsten in Norwegen im Vergleich zu anderen Ländern gut gehe, so müsse doch von einer relativen Armut gesprochen werde, die man an die eigenen Kinder vererbe. Die Jugendforscherin Guro Ødegård:
"In Norwegen sehen wir prinzipiell die gleichen Tendenzen, die kürzlich in London zu den Unruhen führten: Es gibt soziale Trennlinien, die bestimmte Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft herausdrängen – auch bei den Jugendlichen. Guckt man sich an, wer seine Schulausbildung vollendet und wer sie abbricht, dann ergeben sich bestimmte Muster. Und wenn dann etwa das politische Engagement der oberen Mittelklasse vorbehalten bleibt, ist das problematisch – egal, ob in London oder hier bei uns in Norwegen."
Vor diesem Hintergrund scheint besorgniserregend, dass in der Regel nur etwa ein Drittel der norwegischen Jugendlichen von ihrem Wahlrecht Gebrauch macht. Diese aber seinen lediglich ein Spiegel ihrer Eltern, beruhigt die Politologin Hanne Marthe Narud von der Osloer Universität:
"Das politische Engagement der ganzen Bevölkerung ist gefallen. Man nehme allein die Wahlbeteiligung. In den 1960er-Jahren lag sie bei etwa 80 Prozent, heute ist sie auf 60 Prozent gesunken. Der gestiegene Wohlstand spielt dabei eine große Rolle. Die Generation der Nachkriegszeit erlebte ja noch einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Klassen. Heute ist dieser Konflikt gelöst. Wir begreifen die Demokratie als etwas Selbstverständliches."
Markieren die Terroranschläge des 22. Juli diesbezüglich eine Trendwende? Ein neues gesellschaftliches Bewusstsein auch der Jugend? Hanne Marthe Narud ist skeptisch, obwohl erste Zahlen darauf hindeuten. 3000 Jugendliche seien den Nachwuchsorganisationen der Parteien seit der Katastrophe beigetreten – ein Zuwachs von mehr als 20 Prozent. Optimistischer ist so auch Jugendforscherin Guro Ødegård:
"Es gibt gute Gründe, die dafür sprechen, dass der 22. Juli einen langfristigen Effekt auf die Jugend haben wird. Sie befindet sich in einer formativen Phase, in der das politische Verhalten geprägt wird – vielmehr, als es bei uns Erwachsenen der Fall ist. Vom 11. September in den USA wissen wir, dass das politische Engagement kurz nach den Terroranschlägen kräftig anstieg. Sechs Monate danach aber war es wieder auf das ursprüngliche Niveau zurückgefallen – mit einer Ausnahme, nämlich bei den Jugendlichen. Und heute deuten viele Studien darauf hin, dass es just jene Jugendlichen waren, die damals mobilisiert wurden, die Barack Obama 2008 ins Amt trugen."
Ist der 22. Juli also tatsächlich der 09. April der norwegischen Jugend, wie es der Schriftsteller Lars Saabye Christensen formuliert? Sicher ist, die Katastrophe hat nicht nur die norwegische Gesellschaft erschüttert, sondern auch ihre Jugend daran erinnert, dass nicht alle Dinge, die sie als selbstverständlich erachtete, auch selbstverständlich sind. Als Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Abend der Schulwahlen bei den Jusos vorbeischaut, wird er angehimmelt wie ein Rockstar. Eine Momentaufnahme. Aber eine, die – trotz allem – hoffen lässt.
"Was so schwer ist zu verstehen, ist, dass aus der Gewalt des 22. Juli etwas Gutes gewachsen ist – Nähe, Freundschaft als Antwort auf den Hass. Norwegen und seine Jugend haben das Beste in sich mobilisiert, um das Böse des 22. Juli zu bekämpfen."