Das Ende der Unschuld

Im Mai 2002 wird der niederländische Rechtspopulist Pim Fortuyn von einem radikalen Tierschützer erschossen. Tomas Ross greift in seinem Krimi "Der Tod des Kandidaten" den Mord auf und erzählt in einer Mischung aus Fiktion und Wahrheit die Vorgeschichte des Attentats.
Es ist ein Fehler, von Anfang an. Im Jahre 1998 brechen Anke und ihr Freund Peter in ein Labor ein, in dem Experimente an Schimpansen durchgeführt werden. Es kommt zu einem Schusswechsel. Peter erschießt einen Wachmann und entkommt, während Anke festgenommen wird. Sie verbringt drei Jahre im Gefängnis, ohne Peter zu verraten. Als sie im Herbst des Jahres 2001 entlassen wird, will sie ein neues Leben anfangen. Doch kaum hat sie sich in einer kleinen Wohnung in Den Haag eingerichtet, wird sie von einem Beamten des niederländischen Verfassungsschutzes um Mitarbeit gebeten. Er spielt ihr den Mitschnitt eines Telefongesprächs vor. "Den machen wir tot", sagt jemand. Es geht um die Vorbereitung eines Attentates, und Peters Stimme hat Anke sofort erkannt.

Das Opfer des geplanten Anschlags ist der rechtspopulistische Politiker Pim Fortuyn, der bekanntlich am 6. Mai 2002 von einem radikalen Tierschützer erschossen wurde. Der niederländische Schriftsteller Tomas Ross erzählt in seinem Kriminalroman "Der Tod des Kandidaten" die Vorgeschichte dieses Mordes und wechselt dabei äußerst geschickt zwischen Fiktion und Fakten. Während Anke auf Drängen des Geheimdienstes Kontakt zu Peter aufnimmt, schneidet Ross immer wieder Szenen aus dem Wahlkampf im Frühjahr 2002 ein – und macht deutlich, dass Pim Fortuyn nicht nur am Stammtisch gut ankommt. Auch das vermeintlich liberale Bürgertum jubelt, wenn der "Rassist und Demagoge" im weißen Anzug samt orangefarbenem Einstecktuch gegen "Subventionssozialismus" und muslimische Einwanderer hetzt: "Das Boot ist voll".

"Der Tod des Kandidaten" ist nicht nur ein Krimi, sondern das Porträt einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft: Der niederländische Protestantismus mit seiner Vorbestimmungslehre hat im 21. Jahrhundert seine Bindungskraft verloren, und lange unterdrückte Ressentiments brechen hervor. Ross beschreibt das aus der Perspektive seiner Hautfigur Anke, die aus einer streng religiösen Familie kommt. Zuerst lässt sie sich auf einen riskanten Flirt mit militanten Aktivisten ein, und als sie schließlich aus dem Gefängnis kommt, erlebt sie, dass Pim Fortuyn nur ein Symptom ist. Intoleranz und Sexismus sind mittlerweile an der Tagesordnung. Auch der Staat hat seine Unschuld längst verloren. Als Spitzel des Geheimdienstes wird Anke gegen ihren Willen zum Teil einer Verschwörung, an deren Ende ein unbequemer Politiker mit Billigung der Sicherheitsbehörden erschossen wird.

So stellt Tomas Ross es zumindest in diesem Roman dar, und diese Form der Paranoia ist ebenfalls ein Symptom der Krise. Seit den Morden an Pim Fortuyn und dem Islam-kritischen Filmemacher Theo van Gogh erscheinen immer mehr Kriminalromane, in denen Autoren wie Tomas Ross oder Charles den Tex ("Die Zelle") die Niederlande zum Schauplatz von politischen Verschwörungstheorien machen. Auch in der Literatur hat das kleine Land, das in Europa lange Zeit als Modell eines fortschrittlichen Sozialstaats galt, jetzt seine Unschuld verloren.

Rezensiert von Kolja Mensing

Tomas Ross: Der Tod des Kandidaten
Kriminalroman
Aus dem Niederländischen von Matthias Müller
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009
316 Seiten, 9,95 Euro