Das Ende der Wildnis

Von Uwe Bork · 14.04.2008
Jetzt ist es wieder soweit. Nachdem langsam selbst die letzten Ströme und Bäche vom Eise befreit sind und unüberhörbar das blaue Band des Frühlings in den vom windigen Klimawandel gepeitschten Lüften knattert, zieht es uns Bundesbürger nach langer Winterabstinenz wieder hinaus in die Natur. Unsere Natur!
Als geborene Romantiker verklären wir dabei im lauen Lenz gern jedes Rehkitz zum Bambi und adeln jede stadtnahe Weihnachtsbaumplantage zum Ausdruck zivilisationsferner Seelentiefe. Von den frisch aufknospenden Blüten und ihren anscheinend vorhandenen Gefühlen gar nicht zu reden: "Veilchen träumen schon, wollen balde kommen." Wo noch jedes gemeine Unkraut zur ökologisch korrekten 'Ackerbegleitflora' mutiert, gilt ohne Einschränkung: Hier sind wir Mensch, hier dürfen wir's sein, - und zwar, ohne dass uns schwafelnde Politiker oder scheffelnde Manager vorschnell wieder in unseren vom Feinstaub bedrohten Alltag zurückholen.

Milde gestimmt gehen wir zu dieser Jahreszeit nur zu gern davon aus, dass es allenfalls süße, wohlbekannte Düfte sein können, wenn etwas ahnungsvoll das Land und unsere Nasen streift. Die wilde Müllkippe zwischen Wald und Wiesen, immer wieder aufs Neue gut gefüllt von frevelnden Verächtern des Dualen Systems, kann schließlich dafür genauso wenig in Frage kommen wie die Abgase der Autobahn gleich nebenan: Wie jeder weiß, ist Kohlendioxid geruchlos.
Wir Deutschen lieben unsere Natur, und deshalb setzen wir auch gern zwei oder drei Bäume auf unser Reihenhauseckgrundstück, um endlich auch noch bei Tempo 200 mit gutem Gewissen durch die Landschaft brettern zu können. Luthers Endzeithoffnung, automobil gewendet: Wir pflanzen Apfelbäumchen, um die globale CO2-Bilanz zu sanieren!

Seien wir ehrlich: Selbst, wenn wir die Natur lieben, diese Liebe ist alles andere als selbstlos! Unsere Romantik ist so echt wie der Bergdoktor im Fernsehen, so authentisch wie ein Heftchenroman am Kiosk. Wir mögen stolz sein auf unsere Bergeshöhen und die schier endlose Weite unserer Küsten- und Wattenlandschaft, das hindert uns jedoch nicht daran, sie kilometerweit mit gewaltigen Windrädern zu bepflastern. Unser Energiehunger muss schließlich gestillt werden. Phantasiereich sind wir weniger dabei, sparsam mit Ressourcen umzugehen – ob nun erneuerbar oder nicht - , phantasiereich sind wir vor allem in der Namensgebung: 'Windpark', das klingt doch so idyllisch, dass niemand im Ernst etwas dagegen haben kann, mit riesigen Rotoren genau jenes Naturerlebnis unmöglich zu machen, das den dichtenden Romantikern so lieb und wert war.

Mit Nachdruck arbeiten wir daran, uns die Natur zu instrumentalisieren. Wir nehmen ihr damit exakt das, was sie für ganze Generationen von Philosophen und Künstler so anziehend machte: Ihr Geheimnis, ihr Drama. Auf unseren Wochenendwanderungen ist Natur uns nicht mehr Spiegel der Seele oder gar Bild Gottes wie etwa noch für Spinoza oder Rousseau, ungeschönt prosaisch ist sie für uns zum Nahrungs- und Energielieferanten geworden, schlimmstenfalls zur globalen Müllkippe.

Wenn wir Feld, Wald und Wiesen genießen, tun wir das wie erstmals die selbstbewusst gewordenen Bürger des achtzehnten Jahrhunderts. Wir haben die Natur zu unserem Freizeitpark gemacht, dessen Nutzung überdies ohne teure Hilfsmittel kaum noch denkbar ist.

Was einst für jeden frei war und Wandervögel wie Hippies inspirierte, droht nun in der globalen Kommerzialisierung unterzugehen. So scheint es kaum noch einen Deutschen zu geben, der sich ohne die leichtmetallenen Gehhilfen des Nordic Walking in die nun wahrlich nicht endlosen Wälder zwischen Bremen und Berchtesgaden wagte. Und gar durch das Dickicht des Stadtparks zu brechen ohne High-Tech-Schuhwerk mit 'Foam-Dämpfung', beschichteten Reflektoren und 'Impact Guidance System': undenkbar!

Von Eduard Mörike und seinen Frühlingsgefühlen dürfte all das weit entfernt sein. Der hörte noch von fern einen leisen Harfenton und vermutete arglos: "Frühling, ja du bist's! Dich hab ich vernommen!"

Wir modernen Nachfahren sollten da lieber auf der Hut sein. Ernstzunehmende Szenarien vieler Klimaforscher deuten darauf hin, dass die Natur es nicht mehr lange bei Harfentönen und Schalmeienklängen belassen könnte. Allem Anschein nach haben wir sie nur scheinbar domestiziert, und vielleicht ist sie es, die uns bald die Flötentöne beibringt...


Uwe Bork, Journalist, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist außerdem Autor mehrerer Bücher.
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