Massenmord im August 1944
28:45 Minuten
Zilli Reichmann, 94 Jahre alt, hat im hohen Alter beschlossen zu erzählen: von ihrer Sinti-Familie, von der Deportation und schließlich von Auschwitz. Als eine der letzten Zeitzeugen erfährt sie heute Wertschätzung - das war nicht immer so.
"Vielleicht hast du den Kaffee in den Kühlschrank reingestellt?"
"Guck doch mal, der steht hier vor deiner Nase!"
"Guck doch mal, der steht hier vor deiner Nase!"
Renate sucht Kaffee und Filter in der Küche. Zilli sitzt in ihrem großen, roten Sessel und gibt Ratschläge. Die kleine 94-jährige Frau mit den großen Perlenohrringen neckt ihre Schwiegertochter. Kaffee-Ritual in einem Außenbezirk von Mannheim.
Renate findet erst den Kaffee, dann den Filter. Zilli nickt zufrieden. Greift zu einem Gasanzünder, zündet sich eine Zigarette an. Der Ärmel ihres blauen Kleides rutscht etwas nach oben. Gibt eine Tätowierung auf dem Unterarm frei.
"Die habe ich in Auschwitz gekriegt, von Bogdan, ich weiß noch, wie er heißt. Guck, das war das 'Z' für 'Zigeuner', siehste, das hab' ich mit der Rasierklinge versucht wegzukriegen, ging aber nicht weg, kam immer wieder."
Am 11.März 1943 sticht Bogdan, ein Mithäftling, die Tätowierung "Z1959" in Zillis Unterarm. Im sogenannten "Zigeunerlager" in Auschwitz. Von da an ist die 19-Jährige nur noch eine Nummer im Vernichtungslager der Nationalsozialisten. In den folgenden Wochen bringen Eisenbahnwaggons tausende Sinti und Roma nach Auschwitz. Auch Zillis Eltern, Zillis vierjährige Tochter Gretel, ihre Schwester mit sieben Kindern, ihre beiden Brüder.
Renate deckt den Tisch, Zilli zieht an der Zigarette. Einer kleinen, dünnen. Wie ein weißer Zahnstocher liegt sie in ihrer Hand. Die 94-Jährige raucht viel:
"Da vergeht keine Woche, wo ich da nicht träume, da laufe ich hier rum, und weine, und rauche Zigaretten. Da bin ich in Auschwitz. Da stelle ich mir vor, mein Vater nackig. Und die Kinder alle um ihn rum. Und dann weine ich. Und mein Mädchen bei ihm."
Ihre Tochter Gretel, ihre Eltern, ihre Schwester mit sieben Kindern – sie alle werden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in Auschwitz vergast vor 75 Jahren, bei der sogenannten "Liquidation des Zigeunerlagers". Nur Zilli und ihre beiden Brüder überleben. Weil sie Stunden zuvor in ein Arbeitslager verlegt werden.
Gegen den Albtraum Auschwitz gibt es keine Pillen
"Und dann bete ich, Herrgott, nimm mir den Gedanken weg, Herrgott, du weißt doch das tut mir so weh, dass ich weine. Manchmal sage ich zu die Renate: Heute Abend war ich wieder...." "Heute Abend war ich wieder in Auschwitz", vollendet Renate den Satz. "Vom Psychiater habe ich ihr extra was geholt."
Doch gegen den Albtraum von Auschwitz gibt es kein Mittel. Renate stellt Kaffee und Kuchen auf den Tisch, setzt sich aufs Sofa. Zilly drückt ihre Zigarette aus. Entscheidet sich für ein Stück Erdbeerkuchen.
"Vielleicht esse ich ein bisschen. Ich esse wie ein Vogel. Du siehst doch, wie ich aussehe: Wie von Auschwitz eine, ich wiege 40 Kilo."
Berlin-Tiergarten, Simson-Weg, gleich hinterm Reichstag. Hier ist die Geschichte von Zilli zum Denkmal geworden. Ein Leierkastenmann spielt Gassenhauer, sein Papagei krächzt dazu. Die meisten Touristen lassen beide unbeachtet rechts liegen.
Auf einer Bank schräg gegenüber hat es sich eine Roma-Familie bequem gemacht. Zwei Frauen in bunten Röcken mit Kinderwagen. Der Mann trinkt Bier, die beiden kleinen Jungs betteln und bitten Touristen um Pfandflaschen.
Sie kommen aus Rumänien, erzählen sie. Das Flaschensammeln in Deutschland ist für sie ein gutes Geschäft. Und hier am Simson-Weg ist ordentlich was los. Viele Touristen bleiben stehen und fotografieren das Denkmal auf der anderen Seite des Weges: 2,50 Meter hohe Milchglasscheiben, ein Durchgangstor aus korrodiertem Metall, dahinter ein kreisrunder Teich, in der Mitte ein Dreieck, darauf eine frische Blume. Im Hintergrund erhebt sich das Reichstagsgebäude. "Chronologie des Völkermordes an den Sinti und Roma" steht auf dem Milchglas
"Es gab in der letzten und vorletzten Nacht eine Beschädigung, hier wurde an der Chronologie rumgekratzt und ich sehe jetzt gerade, dass das innerhalb eines Tages bereinigt werden konnte." Jana Mechelhoff-Herezi mustert kurz die Milchglasscheiben, nickt zufrieden. Alles wieder in Ordnung.
Die Historikerin schließt ihr Fahrrad an, fingert eine Zigarettenschachtel aus dem Rucksack. Gerade kommt sie aus dem Innenministerium. Sechs Stunden lang hat dort die Unabhängige Antiziganismus-Kommission getagt. Die soll bis 2021 für die Bundesregierung einen Bericht schreiben über Diskriminierungen von Roma und Sinti. Und mögliche Gegenmaßnahmen.
Jana Mechelhoff vertritt die Stiftung "Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Die betreut auch das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma hier. Jahrelang dauerte die Debatte, bis es 2012 eingeweiht wurde.
Zeitzeugin Zilli aus Mannheim bleibt über Jahre ein Phantom
Auf den Milchglasscheiben lassen sich die Verfolgungs- und Vernichtungsschritte nachlesen. Beginn der Zwangssterilisationen 1933, Himmlers Erlass 1938 zur "endgültigen Lösung der Zigeunerfrage", der Beginn der Familien-Deportationen 1940, die planmäßige Ermordung von bis zu 500.000 Roma und Sinti.
"Es gab dann seitens der Wissenschaft sehr viele Versäumnisse, dass Überlebende nicht gefragt wurden, dass man sich für Dokumente nicht interessiert hat. Und das hat dann eben viele weiße Flecken auf der europäischen Landkarte dieses Genozids erzeugt."
Seit mehr als zehn Jahren versucht Jana Mechelhoff mit ihren Kollegen diese Wissenslücken zu schließen. Ein schwieriges Unterfangen. Viele Zeitzeugen sind verstorben, andere haben die Nazizeit als Kleinkinder erlebt.
Vor vier Jahren hört Mechelhoff dann das erste Mal von Zilli. Ein Historiker, so erzählt ein Kollege, plane ein Buch über die Geschichte der Sinti: "Der hatte eben erzählt, dass er eine sehr betagte Sintezza in Mannheim kennt, und da sind bei mir natürlich alle Alarmglocken angegangen, weil es eben nur noch eine Handvoll Überlebende gibt."
Mechelhoff greift zum Telefon, durch ihre Arbeit kennt sie fast alle Roma- und Sintiverbände in Deutschland. Auch nach Mannheim gibt es gute Kontakte:
"Und die haben mir immer gesagt: 'Nie gehört, Zilli Reichmann, kennen wir nicht.' Da habe ich gesagt, das kann doch nicht sein, eine über 90-jährige Auschwitzüberlebende, kann nicht irgendwie unsichtbar sein. So ging das über drei Jahre, so war der Stand der Dinge."
Zilli aus Mannheim bleibt also ein Mysterium. Doch dann hilft der Zufall. Mechelhoff erfährt: "Reichmann" ist Zillis Mädchenname. Seit der Heirat trägt Zilli aber den Nachnamen ihres Mannes: Schmidt. Dann geht es ganz schnell. Romeo Franz, Musiker und Europa-Abgeordneter der Grünen aus Mannheim, schafft schließlich die Verbindung. Zilli Schmidt, das ist die Tante eines Musikers aus seinem Ensemble.
"Und dann rief er mich irgendwann an und sagte: Ich stehe jetzt hier bei Zilli Schmidt vor der Haustür, was soll ich die von dir fragen: Da habe ich gesagt: Frag sie, ob ich sie mal besuchen kann"
Fünfmal hat sie Zilli seitdem getroffen, sie erzählen lassen und ihr zugehört, ergänzend Dokumente aus den Archiven besorgt. Schritt für Schritt das Leben nachgezeichnet:
"Für mich als Historikerin ist das etwas ganz Besonderes. Und auch immer wieder überraschend zu sehen, wieviel man da noch an konkreten Informationen bekommen kann."
Die Geschichte des Völkermordes verbindet Generationen
In Münster sitzen vier junge Roma-Musiker auf einer Terrasse. Zilli kennen sie nicht. Aber die Geschichte des Völkermords. Darüber singen sie sogar. Über die Geschichte und ihre Gegenwart. Carolin Schäfer studiert mit einer Freundin den Tourneeplan. Heute abend ist der erste Auftritt der Jimmy Mustafa Band in Deutschland.
Etwas müde sitzen die vier Musiker unterm Sonnenschirm. Sänger Ersad gähnt herzhaft, Driton träumt vor sich hin, Avni streichelt sein Cajon. Jimmy nimmt noch ein Schluck Wasser. Der schmächtige 30-Jährige ist der Gitarrist und Texter der Band.
"Ich lebe in Plementina, dort wurde ich auch geboren. Und dort werde ich auch bleiben. Das ist ein kleiner Ort, er liegt elf Kilometer von Pristina entfernt. Da gibt es ein Kohlekraftwerk, das uns mit seinem Staub langsam aber sicher umbringt."
Seine drei Band-Kollegen grinsen und nicken. Sie alle leben in Plementina, einem kleinen Ort im Kosovo. Einem Roma-Ort. Jimmy kommt aus einer Musikerfamilie, ebenso wie Ersad, der Sänger. Um zu überleben, putzt Jimmy Busse, Ersad verdient sein Geld als Tagelöhner. Jeden Sonntag aber spielen sie im nahegelegenen Hotel Gracanica zum Brunch. Ein Schweizer Ex-Diplomat hat es eröffnet. Dort arbeiten Roma, Albaner und Serben zusammen. Ein Multikulti-Boutique-Hotel mit kulinarischem und kulturellem Sendungsbewusstsein.
Carolin Schäfer hört hier die Band zum ersten Mal: "Da saßen zwei vollkommen unscheinbare junge Männer auf dem Sofa, der eine mit der Totenkopflederjacke, da wurden ein paar Gitarrengriffe, Akkorde gezupft. Und auf einmal macht dieser Mensch in der Totenkopfjacke den Mund auf und es erklingt eine Musik, die einen völlig vom Sockel reißt, der veränderte seine ganze Persönlichkeit und im ganzen Raum verbreitete sich eine völlig andere Stimmung, das war faszinierend!"
Dann ließ sich Carolin Schäfer die Texte übersetzen. Und war noch faszinierter. Mal geht es um die Geschichte der Roma, die Diskriminierung in der Gegenwart, den Kampf der Jungen gegen Traditionen. Mal geht es um Auschwitz.
Vor fünf Jahren hat Avni, der in der Band Cajon spielt, das Lager besucht: "In der Nacht vom zweiten auf den dritten August wurden die Roma und Sinti umgebracht und verbrannt. Was ich dort gesehen habe, werde ich nie vergessen. Nur weil sie Roma waren, wurden die Menschen getötet. Ihr Schicksal gibt mir die Kraft, weiterzumachen im Kosovo. Mich um Kinder der Roma zu kümmern, dafür zu sorgen, dass junge Roma studieren können."
Avni arbeitet im Kosovo für eine NGO, die versucht die Bildungschancen für junge Roma zu verbessern. Carolin Schäfer blickt auf die Uhr. Noch sechs Stunden bis zum Auftritt. Sonst arbeitet die Mittvierzigerin am Institut für geschichtliche Landeskunde in Mainz. In ihrer Urlaubszeit ist sie jetzt Bandmanagerin. Sie und ein Freundeskreis haben die Tour organisiert, sich um Visa und Übernachtungen gekümmert, die Produktion einer CD vorfinanziert. Sie wollen, dass die Stimmen der jungen Roma gehört werden. Und hoffen, dass genug Besucher kommen, damit sie nicht auf den Kosten sitzenbleiben.
"Ich denke, was sie auch sehr gut rüberbringen, ist, dass sie diesen Stolz oder dieses Sendungsbewusstsein in ihren Liedern haben, dass sie sagen: Guckt euch das von außen an. Aber zugleich auch ihren Landsleute, die Roma-Community unterstützen und sagen: Seid euch bewusst, was ihr seid, steht auf, nehmt nicht alles hin, was euch geboten wird!"
Noch ein Blick auf die Uhr. Die Zeit drängt. Driton braucht neue Gitarrenseiten, Avni will noch ein Cajon ausprobieren. Und dann wartet noch der Soundcheck.
Zillis Familie zog mit dem Wanderkino über die Dörfer
In ihrem Büro in Berlin schiebt Jana Mechelhoff einen Stapel Unterlagen bei Seite, öffnet am Rechner den digitalen Ordner "Zilli".
"Hier die Ladies vorm Wohnwagen machen sich bereit für irgendeine Tanzgeschichte, sie hat hier ein Tuch über den Lockenwicklern. Und dann meinte sie: 'Ach das ist ja mein geliebter Kaninchenpelz! Wo ist der denn geblieben?' Also die Zilli, die war schon richtig mondän!"
Die Historikerin zoomt, der Kaninchenpelz wird größer. Darüber das lachende Gesicht von Zilli in Schwarzweiß. Die gesamte Familie, rausgeputzt, vor ihrem großen Wohnwagen. Daneben der Lands-Bulldog, eine damals moderne Zugmaschine. Noch ein Klick, noch einige Jahrzehnte zurück, ein kleines Foto, vergilbt.
"Ganz toll ist auch dieses, das ist sehr, sehr alt, vermutlich so um 1919, das ist so verblichen, das ist so 9 mal 12 oder so. Aber Zilli konnte gar nicht genau erkennen, wer da eigentlich drauf ist."
Die Personen sind verschwommen. Nur der hölzerne Wagen im Hintergrund halbwegs erkennbar.
"Und dann habe ich das eingescannt und am Computer vergrößert. Und dann saß sie so davor. Und sagte: 'Nein, das da in der Mitte, mit der Schiebermütze, das ist mein Vater. Und das davor seine Schwester.' Und ich habe es ihr jetzt nochmal auf DIN A3 gezogen, dass sie es sich genauer angucken kann."
Eine fotografische Zeitreise. Einblicke in das Leben einer Sinti-Familie, die durch den damaligen südostdeutschen Raum reist.
"Sie hatten dieses Wanderkino, was eben ein Familienbetrieb war, der besonders durch den Vater und einen Bruder betrieben wurde. Das ist fast vergessen, dass die Sinti in gewisser Weise Kultur in die deutsche Provinz brachten."
In Thüringen, Sachsen, und Böhmen rollt die Familie über die Dörfer, zeigt Filme in den Gasthäusern. Eine Attraktion auf dem Land. Der große Wagen ist der Lebensmittelpunkt der Familie. Als alle von den Nazis verhaftet werden, lassen sie ihn in Eger, unweit von Karlsbad, zurück.
"Und dann ist Zilli nach der Befreiung zurückgegangen in der Hoffnung, ihre Brüder wiederzutreffen, und da stand eben dieser Wagen, unberührt. War nicht aufgebrochen worden, nicht geplündert, die Kleider der Eltern, der ganze Hausstand. Und eben auch ein Fotoalbum. Mit Fotos der Familie aus der Vorkriegszeit. Und das ist ganz, ganz ungewöhnlich."
"Der Hitler, der bringt bestimmt nur die Verbrecher weg"
Gegenwart trifft auf Geschichte. In Mannheim genießt Renate ihren Schoko-Kirschkuchen, Zilli pickt in einem Stück Erdbeertorte. Die Zigarettenschachtel wartet griffbereit. Demnächst wird wieder Jana Mechelhoff aus Berlin vorbeikommen. Um über das Buch zu sprechen, ein Buch mit Zillis Erinnerungen. Die beiden sind inzwischen unzertrennlich.
"Jana ist sehr nett, die möchte ich niemals hergeben, nicht um alles auf der Welt!" Zilli schiebt sich eines der beiden Kissen im Rücken zurecht, macht es sich in dem roten Sessel mit den breiten Armlehnen bequem. Die zierliche Frau verschwindet fast darin. Davor steht ein Fußschemel. Stundenlang hat sie hier Jana Mechelhoff aus ihrem Leben erzählt.
"Mein Vater hat immer zu meiner Mutter gesagt: 'Ach, weißt du was, der Hitler, der bringt doch nur die Verbrecher weg.' Mein Vater hat keine Vorstrafe gehabt, der hat nicht einmal falsch geparkt, der war so sauber, so sauber ist heute keiner mehr. Und er ist trotzdem ins Lager gekommen, dann hat er gesehen, was der Hitler gemacht hat, er hat es nicht geglaubt. Er hat gedacht, er bringt nur die Verbrecher weg. Nachher waren wir dran. Wir waren keine Verbrecher."
Eine wohlhabende Sinti-Familie, die mit ihrem Wanderkino über die Dörfer zieht. Der Bruder handelt nebenbei mit Geigen. "Lalleri" nennen sie sich selber. "Deutsche Zigeuner", sagen andere. Ab 1938 gibt es eine "Reichzentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens". Und einen Himmler-Erlass zur "Bekämpfung der Zigeunerplage". Grundlagen für die Menschenjagd auf Sinti und Roma.
"Meine zwei Cousinen, die waren versteckt in Straßburg, die waren nicht angemeldet, schwarz, da waren sie versteckt, die zwei." Zilli fährt nach Straßburg, soll die Cousinen nach Metz holen, wo die Familie mit dem Wohnwagen wartet. So möchte es ihr Vater. Er glaubt, das sei sicherer.
"Und so wollten wir vom Bahnhof zurück nach Metz, wo mein Vater war, und dann sind wir verhaftet worden, alle drei. Die zwei haben sie gesucht, mich haben sie nicht gesucht, aber ich bin freiwillig mitgegangen. Wenn sie meine Cousinen mitnehmen, gehe ich auch mit, hab ich gedacht, ich habe doch nicht gewusst, dass ich ins Gefängnis muss."
Zum ersten Mal im Gefängnis. Erst Metz, dann Karlsruhe, dann Prag, schließlich das Konzentrationslager Lety. Dort gelingt Zilli erstmals die Flucht: "Ich war gut im Abhauen, ich bin immer durchgekommen, meistens, ich bin in Lety abgehauen, da war ich eine ganze Zeit draußen. Und in Eger, da haben sie mich wieder erwischt."
Und von dort deportierten sie Zilli nach Auschwitz.
Vier Roma machen "Musik mit Message"
In Münster macht sich eine kleine Karawane auf den Weg ins Zentrum. Driton und Jimmy mit Gitarren auf dem Rücken, Avni mit dem Cajon. Carolin Schäfer holt noch schnell einen Stapel CDs aus ihrem alten VW-Bus. An der Scheibe wirbt ein Plakat für die nächsten Auftritte.
Im kleinen Musikladen wartet der Besitzer schon lächelnd hinter der Theke. Die Band war gestern schon mal hier. Avri streicht über ein Cajon, beginnt zu spielen.
Driton begutachtet das Angebot an Gitarrenseiten. Er ist mit Mitte 30 der Älteste in der Gruppe.
Wenn er nicht Gitarre spielt, setzt er sich für die Sache der Roma im Kosovo ein: "Es gibt viel zu wenig Leute, die den Roma eine Stimme geben. Wir sind doch die größte Minderheit in Europa. Und überall stehen wir vor denselben Problemen. Wir glauben, dass wir die Leute am besten über Musik erreichen können. Wenn ihnen die Musik gefällt, dann fragen sie vielleicht auch nach, worüber wir da singen."
Musik mit Message. Die vier haben viel zu erzählen. Über Auschwitz und die Geschichte, über ihr Leben im Kosovo heute zwischen den Fronten. Seit dem Bestehen ist das Land ein fragiles Staatsgebilde. Eine albanische Mehrheit lebt neben einer serbische Minderheit. Und dazwischen die Roma. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen. Obwohl ein paar tausend Soldaten der Kfor-Friedenstruppe im Land stationiert sind. Alle aus der Band erinnern sich noch an die Tage im März, vor 15 Jahren, als ein kosovo-albanischer Mob orthodoxe Kirchen in serbischen Dörfern anzündete und Jagd auf Roma machte.
"Es kamen Nachrichten im Radio. Und der Moderator sagte, alle Erwachsenen sollen sich beim Bahnhof versammeln, unser Ort wird angegriffen. Und alle Erwachsenen gingen dort hin. Ich war der Jüngste dort, ich war 13 oder 14 Jahre alt. Mein Vater gab mir den Autoschlüssel und sagte: 'Hier ist der Autoschlüssel, du bist jetzt für die Familie verantwortlich. Wenn es gefährlich wird, bringst du sie in Sicherheit. Und ihr kommt auf keinen Fall zurück.‘"
Tausende radikale Kosovo-Albaner zogen 2004 brandschatzend durchs Land. Wüteten drei Tage lang, griffen Roma-Siedlungen und serbische Dörfer an. Die internationale Friedenstruppe schaute tatenlos zu. Häuser brannten, orthodoxe Kirchen, 19 Menschen starben, 1000 wurden verletzt.
"Ich machte mir große Sorgen. Ich war ein Teenager. Auf einmal war ich für 27 Familienmitglieder verantwortlich. Wir haben zwei, drei Nächte nicht geschlafen, wir hatten alle Angst. Meine Mutter nahm all unsere Dokumente und verstaute sie in einer Tasche. Sie packte noch zehn Brote dazu, damit wir etwas zu essen haben würden, falls wir unser Haus verlassen mussten. Aber glücklicherweise konnten wir bleiben."
Geschichte trifft auf Gegenwart in Berlin-Mitte
In Berlin Mitte trifft Geschichte auf Gegenwart. Wie ein in die Jahre gekommenes Riesen-Ufo wartet die tschechische Botschaft an der Wilhelmstrasse auf Besucher. Ein futuristisches Gebäude aus den 70er. Im Innern viel dunkles Holz, Lampen und Sessel in leuchtendem Rot und Orange.
An der Treppe zum Vortragssaal begrüßt eine junge Mitarbeiterin die Besucher, hakt ihre Namen auf einer Anmeldeliste ab.
Mit kleinen Schritten kommen Zilli und Renate durchs Foyer. Gut fünf Stunden waren sie mit dem Zug unterwegs. Jana Mechelhoff und die Stiftung haben sie eingeladen. Das erste Mal will Zilli in einem Gespräch vor Zuschauern aus ihrem Leben erzählen.
Die Plätze im großen Vortragssaal sind alle besetzt. Die Luft ist stickig. Mehr als 250 Gäste drängen sich in den Reihen. Manche sitzen auf den Stufen. Auf der Bühne warten zwei große Designer-Sessel mit ausladenden Sitzflächen. Jana Mechelhoff schüttelt den Kopf. Darauf kann die 1,50 Meter kleine Zilli nie sitzen. Schnell organisiert ein Mitarbeiter zwei passendere Sessel.
Jana Mechelhoff studiert noch einmal ihre Aufzeichnungen: "Das ist 2019 besonders, dass man mit jemandem sprechen kann, die als 19-Jährige in Auschwitz war. Und ganz besonders ist bei Zilli, dass sie eben am 2. August, dem letzten Tag, sogar nochmal dort war. Und das sind nur ein paar Aspekte, die sie zu einer sehr, sehr außergewöhnlichen und einer sehr, sehr, sehr wertvollen Zeitzeugin machen."
Doch ob und wie Zilli heute auf ihre Fragen reagiert, weiß sie nicht. Jana Mechelhoff ist nervös, sie hat einen Plan B vorbereitet. Notfalls will sie aus der Familiengeschichte der Reichmanns erzählen. Doch die 94jährige Zilli ist fit: "Ach was, hör mal, wenn ich nervös wäre, dann wäre ich nicht vom Lager rausgekommen, ich habe soviel mitgemacht in meinem Leben, im Lager, da bin ich stark geworden, sonst hätte ich das nicht überlebt!"
Auf der Bühne sitzt Zilli links, Jana rechts.
"Wir fangen am Besten an mit deiner Kindheit. Was ist das für eine Familie, aus der du kommst? Möchtest du das zuerst erzählen?"
"Wir waren eine heile Familie. Wir waren Mutter, Vater und fünf Geschwister. Und meine Schwester hatte noch sieben Kinder. Und wir waren Schausteller, mein Vater hatte ein Wanderkino."
"Wir waren eine heile Familie. Wir waren Mutter, Vater und fünf Geschwister. Und meine Schwester hatte noch sieben Kinder. Und wir waren Schausteller, mein Vater hatte ein Wanderkino."
Ein bürgerliche Sinti-Familie, die mit ihrem Kino Kultur auf die Dörfer bringt. Zwischen Erfurt, Jena und Prag hin- und herzieht. Zilli als Zweitjüngste wird die Erste aus der Familie, die zur Schule geht. Weil ihr Vater es so will:
"In der Schule haben wir immer meistens in die letzte Bank gesessen. Und wenn wir nach Hause gegangen sind, da sind sie uns nachgelaufen 'Zigeuner, Zigeuner!' haben sie gerufen. Ich habe mich immer gewehrt, ich hatte einen Griffelkasten, der war aus Holz, da habe ich immer geschlagen mit!"
Kämpferisch reckt die kleine Frau die Hand, schwenkt einen imaginären Griffelkasten. Das Publikum lacht.
"Wenn ihr dieses Lied hört, weint nicht"
In Münster begrüßt Driton jetzt die Besucher. Der kleine Konzertraum gleich am Bahnhof ist gut gefüllt, gut 40 Zuhörer warten auf den Auftritt. "Mehr als neulich beim Jazz-Konzert", sagt eine Besucherin.
Carolin Schäfer steht hinten an der Wand. Wiegt den Kopf im Takt. Blickt auf die gut gefüllten Stuhlreihen. Sie sieht erleichtert aus. Viele Freunde konnten sich unter der Musik nichts vorstellen:
"Die Reaktion war: Ist das denn so diese typische Gypsy-Musik, die man kennt, mit diesen mitschwingenden Rhythmen? Und dann war ich manchmal in der Schwierigkeit das zu erklären, was das genau ist und in welche Richtung das geht. Und das funktionierte dann nur über das Vorspielen. Und beim Vorspielen kam dann oft schon: Ohh, das ist ja schön ganz orientalisch, irgendwie."
Fast regungslos, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, sitzt Ersad im Scheinwerferlicht. Und singt über Auschwitz. "Wenn ihr dieses Lied hört", singt Ersad, "weint nicht. Sondern erhebt die Köpfe, steht auf. Und kämpft."
"Mama, da hinten verbrennen die Menschen!"
Zilli erzählt in der tschechischen Botschaft in Berlin über ihre Verhaftung.
"Am Bahnhof haben die gesagt ‚jetzt gehst du und holst die Karten. Und ich hatte natürlich einen Hut auf, sehr elegant war ich immer – also ich wollte das Ticket holen, dann kam von hinten ein Gestapo-Mann: 'Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!'"
Im Publikum ist es still geworden. Erst Straßburg, dann Karlsruhe, Prag, Lety –am Ende Auschwitz. Die ganze Familie deportiert ins Vernichtungslager. Vater, Mutter, Zilli, ihre Tochter Gretel, eine Schwester, zwei Brüder, sieben Kinder. Die 18-jährige Zilli bringt die Familie durch, so gut es geht,
"Ich habe geklaut wie ein Rabe, aber nicht von den Menschen, sondern in der Küche, in der Bekleidungskammer, im Magazin, überall, wo du nur denken kannst, hat die Zilli geklaut." Zilli steigt durchs Fenster in der Küchentrakt. Stopft sich Kartoffeln in die unten zugebundene Hose.
"Da haben wir manchmal über Sachen gelacht, die zum Weinen waren. Man konnte drüber lachen. Trotzdem bin ich raus, hab die Beine unten zugebunden, die Hosen angehabt, und alles voll Kartoffeln gestopft. Dann bin ich rein zu meiner Mutter, die hat mich angeschaut: 'Kind, dich bringen sie noch um!' Da habe ich gesagt: 'Das nützt doch nix, die Kinder haben doch Hunger.' Meine Schwester hat sieben Kinder gehabt, ich ein Mädchen, das waren also acht."
Sie lernt Hermann Dimanski kennen, einen Lagerältesten, Kommunist, Spanienkämpfer. Mit dem Segen ihrer Mutter beginnt sie ein Verhältnis, erzählt sie. Ab jetzt braucht sie nicht mehr zu stehlen. Diamanski hilft, wo er kann. Zweimal streicht er Zilli von der Liste zur Vergasung. "Da hat er wohl eine andere für mich hingestellt", sagt sie.
"Das Zigeunerlager, das war gar nicht weit weg von der Gaskammer. Mein Kind kam immer zu mir und rief: 'Mama, Mama, da hinten werden die Menschen verbrannt!'. Und ich habe gesagt: 'Nein, da backen sie Brot.' 'Nein, Mama, hat sie gesagt, ‚da tun die Menschen rein.' Die hat das gewusst. Mit vier oder fünf Jahren."
In Münster steht die Jimmy-Mustafa- Band draussen, vor dem kleinen Konzertsaal, verabschiedet ein begeistertes Publikum. Strahlend kommt Carolin Schäfer um die Ecke, ein Bier in der Hand. Morgen geht es weiter zum nächsten Auftritt:
"In Ratingen dürfen wir zum Glück morgens auf dem Marktplatz spielen, das war ja die ganze Zeit noch auf der Kippe bzw. wurde zuerst abgelehnt, aber jetzt haben sie eine halbe Stunde gekriegt."
Die Zuhörer bedanken sich bei der 94-Jährigen
In Berlin vor der tschechischen Botschaft steht Zilli und schmachtet nach einer Zigarette. Renate sucht in ihrer Handtasche. Eine Gruppe Teenager umringt die 94-Jährige: "Wir wollten uns ganz kurz bei ihnen bedanken, dass sie nach Berlin gekommen sind."
"Das habe ich doch gerne gemacht, ihr jungen, schönen Mädchen. Es war sehr schwer für mich, aber ich habe gesagt: Zilli, du musst da durch, das müssen sie alles erfahren, was wir mitgemacht haben."
"Ja, und dafür wollen wir uns bedanken, dass sie den Mut aufgebracht haben, mit uns zu reden."
Etwas abseits wartet ein Pärchen, beide um die 20. Sie überragen Zilli um zwei Köpfe: "Ob sie dich einmal umarmen darf? Komm, mein Schatz. Du bist so schön. Du bist so schön, mein Kind. Guckt, dass ihr Kinder kriegt!"
"Ich hoffe. Ich werde meinen Schülern von ihnen erzählen, ich bin angehende Lehrerin." Die junge Frau verdrückt eine Träne.
"Nicht doch, nicht mein Kind." Jetzt beginnt die angehende Lehrerin zu weinen. Tröstend legt ihr Zilli die Hand auf den Unterarm.
"Also, meine Kinder. Geht und geht in Frieden und geht mit Gott, das wünsche ich euch allen. Ich danke euch. Es freut mich, dass ihr das alles angehört habt, was mit uns geschehen ist. Aber seht selbst, sie haben es nicht geschafft. Es lebt immer noch eine, die reden kann."