"Das Ergebnis heißt: Die Leute wollen den Bahnhof nicht"

Boris Palmer im Gespräch mit André Hatting |
Am Sonntag sind knapp acht Millionen Baden-Württemberger aufgerufen, über das Bahnhofsprojekt abzustimmen. Auch wenn das Quorum verfehlt werden könnte, stellt sich für den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen) die Frage, "ob das Projekt gegen so viel Widerstand aus der Bevölkerung wirklich realisiert werden soll".
André Hatting: Heute treffen sich die Bundesdelegierten von Bündnis 90/Die Grünen in Kiel. Ein Parteifeiertag? Dafür gäbe es allen Grund: Bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin holen die Grünen mit 17,6 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte, außerdem sind sie seit dem Erfolg in Mecklenburg-Vorpommern zum ersten Mal in allen Landtagen vertreten, und – nicht zu vergessen – mit Winfried Kretschmann in Stuttgart stellt die Partei einen grünen Ministerpräsidenten, auch das eine Premiere.

Aber Baden-Württemberg steht eben auch für Schwierigkeiten: Am Sonntag sind dort knapp acht Millionen Menschen aufgerufen, über das Bahnprojekt "Stuttgart 21" abzustimmen, Ausgang ungewiss.

Am Telefon ist jetzt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, einer der profiliertesten Gegner von "S 21". Guten Morgen, Herr Palmer!

Boris Palmer: Guten Morgen, Herr Hatting!

Hatting: Letzten Umfragen zufolge könnten die Bahnhofsgegner die Mehrheit schaffen, aber das Quorum verfehlen. Was machen Sie dann?

Palmer: Das ist natürlich ein unangenehmer Ausgang, weil dieses Quorum mit einem Drittel der wahlberechtigten Bürgerbeteiligung eher verhindert als befördert – dann muss die Politik noch mal die Frage stellen, ob das Projekt gegen so viel Widerstand aus der Bevölkerung wirklich realisiert werden soll.

Hatting: Bedeutet das, Sie würden die Entscheidung des Volksentscheides für "Stuttgart 21", die ja dann bei der Verfehlung des Quorums eine wäre, so nicht akzeptieren?

Palmer: Das ist ja nicht so, dass das eine Entscheidung gegen den Kopfbahnhof wäre, wenn die Mehrheit sich für dessen Erhalt ausspricht, sondern dann ist eben ein formales Problem, das daraus entsteht, dass die Opposition, die CDU, sich der Absenkung der Quoren verweigert hat. Zu lösen ... Deswegen ist das überhaupt keine Aussage gegen die Akzeptanz des Votums der Bevölkerung, im Gegenteil.

Hatting: Und was genau würden Sie dann machen wollen?

Palmer: Das ist nicht mehr meine Kompetenz, ich bin nicht in der Landesregierung, aber ich glaube, es wird eine politische Diskussion geben, was man tut, wenn Millionen von Menschen sich gegen eine solche Geldverschwendung und die Zerstörung eines funktionierenden Bahnhofs ausspricht.

Hatting: Glauben Sie das tatsächlich? Also Winfried Kretschmann war zuletzt zu lesen in Zitaten, dass er dann das Ergebnis akzeptieren werde.

Palmer: Ja, das tue ich auch. Das Ergebnis heißt: Die Leute wollen den Bahnhof nicht.

Hatting: Na ja, wenn das Quorum verfehlt wird, heißt es erst mal, dass sich nicht genügend Leute für das Thema interessieren.

Palmer: Nein, das heißt dann nur, dass das Quorum zu hoch ist. Aber die Diskussion ist auch nötig. Ich bin ziemlich überzeugt, dass das Quorum sogar erreicht wird und die Diskussion deswegen gar nicht weiter geführt werden muss. Die Nachfrage Briefwahlunterlagen ist hervorragend, wir werden eine Wahlbeteiligung in der Höhe etwa einer Landtagswahl mit 60 Prozent haben, und dann ist das Quorum auch kein Problem.

Hatting: Gut, warten wir es ab. Auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Kiel, dort soll es um das künftige Profil der Grünen gehen. Schwarz-Grün ist da zurzeit so ein bisschen das Reizthema: Die Parteispitze lehnt das kategorisch ab. Ist das die richtige Strategie?

Palmer: Die Parteispitze lehnt es nicht kategorisch ab, im Gegenteil. Es gibt einen Parteitagsbeschluss aus 2009, der weiterhin gilt und der auch von allen anerkannt wird, der heißt Kurs der Eigenständigkeit: Wir entscheiden nach den Inhalten, mit wem wir koalieren, und wir schließen nichts aus.

Hatting: Dann ist das Wort von Jürgen Trittin unerheblich, der gesagt hat nach der Wahl in Berlin, dass jetzt rückstandslos alle Landesregierungen abgewählt werden sollen und auch am Bund, also dass es Schwarz-Grün nicht geben soll?

Palmer: Das rückstandslos Abwählen, das ist ein Ziel, das teile ich, aber es schließt nicht aus, wenn es schiefgeht, wenn zum Beispiel Rot-Grün oder Grün-Rot nicht die gewünschte Mehrheit hat, sich dann auch um andere Konstellationen Gedanken zu machen. Das hat auch Jürgen Trittin erkannt, insbesondere nach dem Umgang der SPD und den Entscheidungen von Klaus Wowereit – zu einer Koalition mit der CDU, obwohl Rot-Grün ja möglich wäre – in der Hauptstadt.

Hatting: Apropos Hauptstadt: Die Basis dort sieht einen Fehler darin, dass Renate Künast, damals Spitzenkandidatin der Grünen, sich lange diese schwarz-grüne Option offen gelassen hat. Jetzt stellt sie sich gerade weiter auf, versucht es zumindest, ist ein bisschen unübersichtlich gerade in Berlin. Sie sehen das nicht so, das war kein Fehler, sich Schwarz-Grün lange offenzuhalten?

Palmer: Der Fehler war, das offenzuhalten, und eine Woche vor der Wahl dann panisch das Ganze abzusagen, da wusste ja niemand mehr, was eigentlich angesagt ist. Und es gab noch einen Fehler: Es wurde nie begründet, warum das eigentlich besser sein könnte, mit Renate Künast und der CDU als kleinem Koalitionspartner zu regieren, als wenn Klaus Wowereit das Gleiche macht. Und da hätten mir eine Menge Gründe einfallen können.

Hatting: Zum Beispiel?

Palmer: Na ja, eine ökologische Politik, die Berlin wirklich fit macht für die Zukunft, und eine Politik, die sozialen Ausgleich mit moderner Infrastruktur zusammenbringt – das heißt halt nicht, Autobahn in belebte Stadtteile bauen –, so eine Politik gibt es mit einer grünen Regierenden Bürgermeisterin, auch wenn die CDU mit am Tisch sitzt, aber mit Klaus Wowereit auf keinen Fall.

Hatting: Sie haben vorhin gesagt, es gebe gar nicht diese Einigkeit auf der Bundesebene bei den Grünen, dass Schwarz-Grün ein absolutes No-go sei. Der schleswig-holsteinische Spitzenkandidat Robert Habeck spricht trotzdem von einer Bevormundung.

Palmer: Das bezog sich auf einen Satz, den kein Landeschef akzeptieren kann, den Jürgen Trittin aber auch zurückgenommen hat, der so gedeutet werden konnte, als wolle die Bundesebene den Ländern vorschreiben, welche Koalition sie machen. Das geht bei uns in der Partei nicht, darüber besteht aber auch Einigkeit.

Hatting: Blicken wir in die Zukunft, blicken wir auf 2013, Bundestagswahl. Nehmen wir mal an, die FDP scheitert auch im Bund – so richtig erholen tun sie sich ja gerade nicht –, die SPD schrumpft weiter. Jetzt braucht die CDU einen neuen Partner. Die Grünen?

Palmer: Das wird davon abhängen, ob die Grünen bessere Alternativen haben. Wenn es zu Rot-Grün reicht, und das ist wohl der Fall, wenn die FDP rausfällt, dann wird sich niemand Gedanken darüber machen, Frau Merkel im Amt zu erhalten. Die Diskussion entsteht erst dann, wenn Rot-Grün nicht möglich ist, und dann muss man sehen, was inhaltlich geht. Immerhin hat die CDU den Atomausstieg und den Mindestlohn akzeptiert, sie hat die Kinderbetreuung mittlerweile auch finanziell durchaus ausgestattet. Also sie bewegt sich ja auf uns zu, und deswegen ist für Ausschließeritis überhaupt kein Anlass.

Hatting: Am Sonntag endet der Parteitag, dann folgen den Worten Taten. Viele Abgeordnete fahren ins Wendland, wollen dort Flagge zeigen gegen den Atommülltransport. Sie auch, oder wählen Sie dann Baden-Württemberg?

Palmer: Ich muss zurück nach Baden-Württemberg, immerhin ist hier ein historischer Tag, die erste Volksabstimmung seit der Gründung des Landes, und da werde ich im Stuttgarter Landtag sein, aber ich freue mich auch, dass Menschen weiterhin den Widerstand gegen die Atomkraft aufrecht erhalten, damit klar ist: Es gibt keine Renaissance dieser wirklich verheerend gefährlichen Technik.

Hatting: Boris Palmer von Bündnis 90/Die Grünen, er ist Oberbürgermeister von Tübingen. Heute beginnt in Kiel die Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Palmer!

Palmer: Danke Ihnen, schönen Tag!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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