Bis zum Herbst geht das Archiv Online. In Kooperation mit dem Goethe-Institut sind Veranstaltungen in mehreren europäischen Städten geplant, um das Projekt der Öffentlichkeit vorzustellen. Diese Veranstaltungsreihe begleitet die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Herbst diesen Jahres und wird vom Auswärtigen Amt unterstützt.
Was diesen Kontinent zusammenhält
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"Der einzige Weg, die Vergangenheit zu bewältigen, ist die Wahrheit zu sagen": Das Europäische Archiv der Stimmen sammelt Lebensgeschichten. Sie spiegeln das Leid, das Europäer im 20. Jahrhundert erfahren haben - aber auch die Hoffnung auf Gemeinsamkeit.
"In unserer Welt spielt die Vergangenheit manchmal eine größere Rolle als die Gegenwart. Wir sind bereit, für die Geschichte zu sterben, aber nicht für die Gegenwart. Ich glaube, wir sind in großer Gefahr, aber ich hoffe, dass Nächstenliebe, Mitgefühl und gesunder Menschenverstand überwiegen."
Irena Veisaitė ist besorgt, wenn sie an die gegenwärtige politische Entwicklung in Europa denkt.
"Die größte Gefahr liegt im Nationalismus, im Hass, in dem Denken, der einzige zu sein, der recht hat. Es gibt eine jüdische Parabel: Gott nahm die Sorgen aller verstorbenen Seelen und tat sie in Säcke. Einige Sorgen waren groß, einige mittelgroß und andere riesig. Und dann gebot Gott den Geistern, zu ihrem eigenen Sack zu gehen. Alle gingen zum größten Sack, denn sie sahen ihr Leid als das größte an. Man kann Leiden nicht vergleichen. Das ist unmoralisch."
Irena Veisaitė stammt aus Litauen. Was sie erlebt hat, ist europäische Geschichte, ein Schicksal im Europa des 20. Jahrhunderts. 1928 wird sie in Litauens zweitgrößter Stadt Kaunas in eine jüdische Familie geboren.
"Bei meinen Eltern fühlte ich mich sehr sicher. Leider ließen sie sich 1938 scheiden, was ein schwerer Schlag für mich war. Aber ich fühlte mich sicher in meiner Familie, in der Schule und auf der Straße, eigentlich überall. Dieser Frieden wurde manchmal gestört, wenn ich hörte, wie meine Eltern über den bevorstehenden Krieg redeten, über Hitlers Machtergreifung, über die antisemitische Politik dort, und ich hörte auch von der 'Kristallnacht'. Natürlich hatte ich große Angst vor dem Krieg. Ich erinnere mich an einen Traum: Ich wurde in Hitlers Zeltlager gebracht. Ein Militärangehöriger sagte mir, ich müsse zu Hitlers Zelt gehen. Und dann musste ich mich auf seinen Schoß setzen und Papi zu ihm sagen, aber das Wort kam mir nicht über die Lippen. Als ich aufwachte, war ich sehr froh, dass ich nicht Papi zu ihm gesagt habe."
Ein Projekt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
Die Lebensgeschichte von Irena Veisaitė ist Teil des "Europäischen Archivs der Stimmen", das – mit Unterstützung der Gerda-Henkel- und der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung – zurzeit aufgebaut wird. Ende 2020 soll es für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Es ist eines von sechs Kulturprojekten, die unter der Schirmherrschaft der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und des Auswärtigen Amts stehen. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von dem Verein "Arbeit an Europa" – ein Kollektiv aus deutschen Schriftstellern, Journalistinnen und Wissenschaftlern. Für das Stimmenarchiv haben sie ein junges Team aus ganz Europa zusammengestellt, das Persönlichkeiten in den jeweiligen Heimatländern interviewt.
Die litauische Zeitzeugin Irena Veisaitė war 11 Jahre alt, als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach.
"Sehen Sie, die Bedrohung durch den Krieg – der Schatten war schon da. Und der erste Schlag war ohne Zweifel die Sowjetbesatzung 1940, als wir aus unserer Wohnung fliehen mussten."
Litauen befand sich in der Mangel zwischen zwei Gewaltregimen. Nach einem Jahr Besatzung durch die Sowjets eroberten Hitlers Truppen das Land, nach dem Angriff auf die Sowjetunion. Und es begannen die Massendeportationen litauischer Juden.
"Nach der Besetzung durch die Nazis wurden wir ins Ghetto deportiert, wo mein Onkel, meine Mutter und meine Großeltern starben. Ich wurde gerettet, aber nur wenige Juden litauischer Herkunft überlebten. In diesem Sinne ist Kaunas für mich eine Stadt der Schatten."
Irena ist 15, als es ihr mit Hilfe von Freunden der Familie gelingt, aus dem Konzentrationslager in Kaunas zu fliehen. Aus Sorge, sie könne in Kaunas als Jüdin erkannt werden, bringen die Freunde sie nach Vilnius.
Die Stadt ist multikultureller als Kaunas, ein Zentrum jüdischen Lebens in Osteuropa. Bietet eine solche Stadt Juden mehr Schutz? In Vilnius findet Irena Veisaitė immer wieder Menschen, die bereit sind, sie vor der Gestapo zu verstecken. Als Nicht-Jüdin ausgegeben wechselt sie mehrfach die Unterkunft, bis eine Frau sie fest in ihre Familie aufnimmt.
"Viele waren wütend, dass die Vertriebenen zurückkehrten"
1940 wurde in der Slowakei Egon Gál geboren. 1940 – da war die Zeit vorbei, in der die Menschen im noch relativ jungen Staat Tschechoslowakei friedlich in einer Demokratie leben konnten. Hitlerdeutschland hatte diesen Staat überfallen. Das hatte auch für die Familie von Egon Gál dramatische Konsequenzen.
"Ich wurde als Kind jüdischer Eltern geboren. Im Alter von drei Jahren tauften sie mich zum Protestanten, weil sie glaubten, das würde uns retten. Als ich 1944 vier Jahre alt wurde, begannen großflächige Deportationen in der Slowakei und meine Mutter und ich wurden nach Theresienstadt deportiert. Mein Bruder ist dort geboren."
Egon Gáls Bruder: geboren im Konzentrationslager. Die Mutter und die beiden Söhne überleben Theresienstadt und kehren nach dem Krieg in ihren Heimatort L’upča zurück. Die Familie wartet auf die Rückkehr des Vaters. Auch er war deportiert worden. Wohin genau – das wissen sie nicht. Er wird nicht zurückkehren. Egon Gál erfährt später, dass sein Vater auf einem Todesmarsch umgekommen ist. Europa 1945.
Heimkehr. Nachdem die Mutter von Egon Gál mit ihren beiden Söhnen das Lager überlebt hat, kommt sie zurück an den Ort, an dem sie zuvor gelebt hat. Es ist kein fröhliches Wiedersehen mit den Nachbarn von einst.
"Die Leute hatten ihren jüdischen Nachbarn Besitz geraubt", sagt Egon Gál. "Und als die Juden zurückkehrten, um ihre Sachen zu holen, wurden sie böse. Meine Mutter forderte nichts. Sie sprach wenig darüber, aber sie erzählte mir, dass sie zu einem Nachbarn ging und dort unseren Teppich auf dem Boden und unser Besteck auf dem Tisch sah. Sie tat so, als hätte sie nichts gesehen. Aber viele waren wütend, dass die Vertriebenen zurückkehrten."
Wie der Familie von Egon Gál ist es vielen ergangen. Die Kriegszeit war vorbei, aber ihre Schatten waren lang. Nachbarn hatten Gelegenheiten genutzt, die ihnen die Deportationen im Krieg eröffnet hatten, und waren zu Dieben geworden. Und nun waren sie mit der Rückkehr der Bestohlenen entlarvt. Sie waren Diebe und wütend, dass die Opfer nun ihre Untaten mit eigenen Augen sahen. Vertrauensvolles gesellschaftliches Zusammenleben war über das Kriegsende hinaus zerstört worden.
Kaunas - eine Stadt der Schatten
75 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. Kein Nachbarland des Deutschen Reiches war von der zerstörerischen Gewalt jener Jahre verschont geblieben. Die Slowakei im Südosten, Litauen im Nordosten des Reiches.
Irena Veisaitė hat in ihrem Zeitzeugengespräch für das Europäische Archiv der Stimmen bekannt, dass Kaunas, ihre Heimatstadt, eine Stadt der Schatten ist. Die Kindheitserfahrung der Deportationen und der Ermordung so vieler jüdischer Menschen überschattet für sie das Heimatgefühl, das sie sonst vielleicht mit ihrer Geburtsstadt verbinden würde.
Heute ist die Literaturwissenschaftlerin in Litauen eine bekannte Persönlichkeit. Sie hat sich ihr Leben lang für kulturelle Verständigung eingesetzt:
"Wir müssen anerkennen, was in Litauen passiert ist. Das erniedrigt uns nicht und macht uns nicht kleiner, im Gegenteil. Vor kurzem habe ich ein Vorwort von Zagajewski gelesen, ein berühmter polnischer Autor. In dem Geschichtsbuch beschreibt er sehr offen den Pogrom, der 1918 in Lemberg stattfand, bei dem viele Juden umkamen. Zagajewski sagt, der einzige Weg, die Vergangenheit zu bewältigen, ist es, die Wahrheit zu sagen. Und wir reden die ganze Zeit um den heißen Brei. Und uns scheint es, als würden wir uns selbst demütigen."
Wie ihr Heimatland mit der Vergangenheit umgeht, sieht Irena Veisaitė kritisch. Litauen tut sich bis heute schwer, mit den Geschehnissen dieser Zeit umzugehen und einzugestehen, dass einige ihrer Nationalhelden an den Gewaltverbrechen der deutschen Besatzer beteiligt waren. In der litauischen Nationalerzählung wird dieser Teil ausgeblendet und nur wenige bemühen sich öffentlich um Aufklärung.
Nach 1945 gleich das nächste totalitäre Regime
1945 endete der Krieg, aber für Litauen war es keine Befreiung. Auf Hitlerdeutschland folgte die stalinistische Sowjetunion: die Unterdrückung durch das nächste totalitäre Regime.
Für Irena Veisaitė hieß das: Menschen, die ihr nahestanden, wurden verschleppt.
"Meine Stiefmutter wurde ins Gulag deportiert. Mir schien, die Sowjets wollten mich zu ihrer Informantin machen, sie verfolgten mich und befahlen mir, Vilnius zu verlassen. Meine erste Liebe, Tadas Masiulis, wurde ebenfalls festgenommen. Ich machte mir keine Illusionen mehr und entwickelte ein sehr starkes anti-sowjetisches, ein humanistisches Empfinden."
Irena Versaitė wurde der Universität in Vilnius verwiesen, konnte dann aber in Moskau Germanistik studieren. 1963 promovierte sie in Leningrad.
"Während der Sowjetjahre brachte man uns eine Menge über Marxismus, Leninismus und historischen Materialismus bei", erinnert sie sich.
"Sobald ich das Examen bestanden hatte, vergaß ich das Gelernte. Es war so eine Ideologisierung, das war für mich inakzeptabel. Ich musste es über mich ergehen lassen, aber wahrscheinlich hat sich dadurch meine Weltanschauung herausgebildet: dass ich niemals den Begriff der Diktatur des Proletariats akzeptieren werde – die Idee, dass Gewalt im Namen einer proletarischen Diktatur gerechtfertigt ist."
Stalinistische Schauprozesse nicht nur in der Sowjetunion
Auch Egon Gál hat erlebt, wie ein totalitäres Regime das andere ablöste. Theresienstadt hatten er, seine Mutter und der Bruder überlebt. Doch kaum in ihren Heimatort zurückgekehrt, wurde der Besitz der zuvor wohlhabenden Familie von den Kommunisten beschlagnahmt. Und 1948 muss Egon Gál sein Zuhause erneut verlassen. In Bratislava wurde die Familie von einer Freundin aus Theresienstadt aufgenommen. Zwei Jahre lang mussten sie sich zu dritt ein Zimmer teilen.
"Und dann, 1950, wurde mein Onkel Militärattaché in der Botschaft in Belgrad", sagt Gál. "Wir zogen in seine Wohnung. Es war eine anständige Wohnung. Als dann in den 1950ern das Staatsgericht seine Arbeit aufnahm und die Prozesse stattfanden, war auch mein Onkel involviert. Er kam für sechs Monate ins Gefängnis."
Ein Opfer der Schauprozesse, die Anfang der 50er-Jahre gegen vermeintliche Staatsverschwörer durchgeführt wurden – ganz nach sowjetischem Vorbild. Indem man die eigenen Reihen säuberte, wollte man die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei festigen. Wie der Onkel Egon Gàls war ein großer Anteil der Angeklagten jüdischer Abstammung.
Eine gemeinsame Erinnerungskultur in Ost und West?
Einerseits hatten die Sowjets Osteuropa von Hitlers Schergen befreit, andererseits brachten sie neuen Terror. Für die Etablierung einer gemeinsamen Erinnerungskultur in Europa birgt diese Erfahrung mit zwei aufeinanderfolgenden Schreckensregimen einen Konflikt – einen Konflikt, der mit dem Historikerstreit Ende der 1980er-Jahre einen Höhepunkt fand.
Die Anerkennung der Sowjetverbrechen scheiterte im Westen Europas immer wieder an der Frage, ob man Holocaust und stalinistische Verbrechen vergleichen darf. Aleida Assmann, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, spricht vom gespaltenen Gedächtnis Europas.
"Weder darf der Holocaust relativiert werden, noch dürfen die Sowjetverbrechen trivialisiert werden." So brachte der Historiker Bernd Faulenbach das Dilemma auf den Punkt.
Aleida Assmann plädiert für eine "dialogische Erinnerung".
Eine solche umzusetzen ist das Ziel des "Europäischen Archivs der Stimmen": Die Initiatoren wollen die unterschiedlichen Erinnerungen an das vergangene Jahrhundert in einen Dialog bringen. Zukünftige Generationen sollen auf dieses Zeitzeugenarchiv zugreifen können, um Erfahrungen der Vergangenheit im Gedächtnis zu halten – gemeinsame Erinnerung als europäische Bildung.
Irena Veisaitė und Egon Gàl haben erfahren, was es bedeutete, im 20. Jahrhundert als Juden in Osteuropa zu leben.
Christian Meier hat eine ganz andere Geschichte. Er wurde 1929 in Pommern geboren – eigentlich auch im Osten Europas gelegen, aber damals Teil des Deutschen Reiches.
"Ich habe meinen Vater in Posen besucht, im Winter Anfang 1940, wenn Sie das als Ausland bezeichnen, damals war es ja eigentlich schon 'eingemeindet'. Dann gab es natürlich die langen Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften und mein Vater erzählte, als Deutsche brauchen wir nicht Schlange zu stehen, kommt man gleich vorne dran, denn die Polen müssen halt warten. Das fand ich mit meinen zehn, elf Jahren wunderschön, worauf mein Vater sagte: 'Das tut man aber nicht.'"
Hitlerdeutschland hatte Polen besetzt, Christian Meiers Vater gefiel das Gebaren der Nazis nicht. Zuhause schimpfte er über sie, warnte aber den Sohn: Niemals darfst du in der Öffentlichkeit so reden, sonst kommen wir in ein KZ. Zugleich freute sich der jugendliche Sohn über die Erfolge der Deutschen im Krieg:
"Ich muss wohl mit einer gewissen Freude die allmähliche Vergrößerung Deutschlands verfolgt haben, also Österreich dazu, Sudetenland und so weiter. Also in der Schule, auf den Schulbänken – man schrieb ja mit Feder und Tinte – und da gab es also an der Schulbank ein Tintenfass. Und das Tintenfass hatte einen Metalldeckel und den klappte man so auf, und da hatte ich immer eine Deutschlandkarte angebracht. Und insofern muss ich da irgendwie eine gewisse Freude an dem wachsenden Vaterland gehabt haben. Nicht an den Nazis, aber an diesem Vaterland."
"Dass es Vernichtungslager gab, hat man zuerst ja kaum geglaubt"
Im Laufe des Krieges zog die Familie von Pommern nach Rostock. Eigentlich wollte Christian Meier Offizier in der Wehrmacht werden. Eher zufällig blieb ihm das erspart.
"Auf der einen Seite war es so, dass 1944 so gerüchteweise verbreitetet wurde, dass unser heißgeliebter Führer sich gewünscht hätte, dass der Jahrgang ’29 geschlossen zur Waffen-SS geht. Und dann wurde man im Januar ’45 gemustert, mit 15 Jahren damals, und dann wurden die Offiziersbewerber zurückgestellt, weil es hieß, dann haben wir ja am Ende 16-jährige Leutnants und das geht nicht."
Rostock bedeutete: Bombenhagel, 85 Prozent der Wohnhäuser wurden zerstört. Als die Sowjets gegen Kriegsende in den Nordosten des Deutschen Reiches vordrangen, floh Christian Meier mit seiner Mutter nach Hamburg. Sie kehrte einige Zeit später nach Rostock zurück, er blieb bei einer Pflegefamilie, um die Schule in Hamburg zu beenden. Heute ist Christian Meier ein bekannter Althistoriker.
Der Krieg war vorbei und die Alliierten hatten Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Wie sollte das Leben weitergehen - angesichts der Trümmerhaufen und der Frage nach der Schuld für die begangenen Verbrechen.
"Dass es diese Vernichtungslager gab, hat man zuerst ja kaum geglaubt und ich vermute mal, dass ich es auch nicht geglaubt habe. Ich weiß es nicht mehr genau", sagt Christian Meier.
"Da gab es merkwürdige Geschichten und innere Widerstände, würde ich sagen. Ich kann nicht ausschließen, dass ich daran auch zunächst teilgehabt habe. Aber das Problem stellte sich an sich ja nicht, denn man lebte ja zunächst mal überhaupt und freute sich, dass die Züge wieder fuhren, sogar pünktlich, dass die Brücken wiederhergestellt wurden und so weiter. Und ich glaube, das wäre auch gar nicht anders möglich gewesen, als dass man das Ganze zu Anfang entweder nicht glaubte oder zumindest verdrängte."
Das Leben in Osteuropa: "bestimmt von täglicher Rebellion"
Neuanfang: Mit einer unglaublichen Energie gingen die Deutschen daran, ihr zerstörtes Land wieder aufzubauen. Blick nach vorn, nicht zurück – den wagte eine Minderheit erst seit den 60er-Jahren.
In den 1960er-Jahren – da befand sich Europa schon mitten im Kalten Krieg. Der Eiserne Vorhang spaltete den europäischen Kontinent in zwei Lager. Der heute 89 Jahre alte dänische Literaturkritiker Niels Barfoed hat diese Zeit intensiv erlebt. Auch seine Erlebnisse werden Teil des Europäischen Archivs der Stimmen:
"Es war direkt auf der anderen Seite der Ostsee! Direkt dort drüben. Man konnte den Ort in kürzester Zeit erreichen. Und doch war man auf fremdem Boden, obwohl es europäischer Boden war. Dort lebten Menschen, deren Leben bestimmt war von täglicher Rebellion."
Dänemark lag im Westen. Hier waren die Amerikaner die Helden, man sah amerikanische Filme, rauchte Lucky Strikes und trug Jeans. Mit dem, was im Osten vor sich ging, hätte sich Niels Barfoed nicht weiter beschäftigen müssen.
Doch 1958 reist der junge Journalist zum ersten Mal nach Berlin. Organisiert wird die Reise vom westdeutschen Innenministerium in Bonn. Man will den Journalisten aus dem Ausland zeigen, wie weit man mit der jungen Demokratie gekommen ist. Und die Bundesrepublik hat jeden Grund stolz zu sein, sagt Barfoed.
"Bei dieser Gelegenheit kamen wir mit einem Bus, den die Abteilung des Innenministeriums organisierte, und er brachte uns vom fröhlich strahlenden Berlin, West-Berlin, mit lauter Musik im Radio, Popmusik und so weiter an diesen düsteren, dunklen, obskuren, leeren, ärmlichen Ort, der die DDR war."
Der Eiserne Vorhang kann den Austausch nicht verhindern
Weitere Reisen führen ihn tiefer nach Osteuropa. Er tritt in Kontakt mit östlichen Oppositionellen: Künstler und Schriftsteller, die bei jedem Wort überlegen müssen, welchen Preis sie dafür bezahlen.
"Es war wichtig für sie, Zugang zur westlichen Literatur zu bekommen, die wir schmuggelten. Und es war wichtig für sie, dass ihre Manuskripte den Weg in den Westen finden konnten, zu den Zeitschriften, die dort gegründet worden waren, Zeitschriften, die sich auf osteuropäische Literatur konzentrierten."
Auch der Eiserne Vorhang kann den Gedankenaustausch nicht verhindern. Allmählich ändert sich das Klima. Bürgerrechtsbewegungen werden stärker. Angefangen mit der Gewerkschaft Solidarnosć in Polen erfasst der Wunsch nach Freiheit den gesamten Ostblock.
1986 kommt es in Island zu einem Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow.
"Dieser Gipfel war ein Wendepunkt, und wir können ewig dankbar sein, dass er in Island stattfand", erzählt Vigdís Finnbogadóttir, eine weitere Zeitzeugin des Stimmenarchivs.
"Island hat keine Armee, wir hatten also keine Möglichkeit, uns militärisch zu schützen. Stattdessen kamen die Rettungstruppen und Pfadfinder. Sie bildeten einen großen Kreis um Höfði an der Küste, wo das Treffen stattfand. Draußen im Hafen waren die Kriegsschiffe, die Gorbatschow brachten, und natürlich die amerikanischen Marineschiffe. Und hier bei uns standen die Rettungstrupps in ihren Uniformen - keine Polizei, kein Militär. Es war ein eindrucksvolles Bild."
Berufswunsch: Kapitänin. Am Ende wurde sie Staatspräsidentin
An den Verhandlungen zwischen Gorbatschow und Reagan war Vigdís Finnbogadóttir unmittelbar beteiligt, als isländische Präsidentin. Sie war die erste Frau weltweit, die ein solches Amt bekleidete.
Jahrgang 1930. Beide Eltern hatten im Ausland studiert.
"Ich bin mit einem sehr reichen Isländisch aufgewachsen, einer reichen Sprache. Mein Großvater war Pfarrer in Sauðlauksdalur; er war Lehrer für Isländisch und zwang mir ständig Bücher und Lesestoff auf. Er wusste, dass ich interessiert war. Doch ich interessierte mich auch für das, was jenseits von Island lag, denn ich hatte vor, Kapitänin eines Schiffes zu werden."
Eine Frau als Kapitän? Man sagte ihr, das sei für ein Mädchen undenkbar. Stattdessen studierte sie Literaturwissenschaften in Grenoble und in Paris an der Sorbonne. Freundete sich mit Autoren und Malern an, sah Avantgarde-Theateraufführungen. Es war die Zeit von Sartre, von Simone de Beauvoir und der Frauenbewegung. Sie kehrte nach Island zurück, arbeitete als Französischlehrerin, später als Theaterdirektorin.
"Nach dem Frauenstreik von 1975 sagten viele, man könne keine Präsidentschaftswahlen ohne eine weibliche Kandidatin abhalten. Zuerst weigerte ich mich kategorisch, eine solche Kandidatur anzunehmen, aber nach und nach ließ ich mich darauf ein. Und als die Fischer mir dieses schöne Telegramm schickten, gab es kein Zurück mehr. Es war eine Trawlerbesatzung auf See, die mir ein Telegramm schickte, das so groß war wie ein Akkordeon. Alle hatten sie unterschrieben."
Mit Vigdís Finnbogadóttir wurde eine geschiedene und alleinerziehende Mutter Präsidentin Islands und machte die Insel damit zu einem Musterland der Gleichstellung.
Die Frauenrechtsbewegung wurde ein europäisches Phänomen.
Lidia Falcón ist eine der prägenden Figuren der feministischen Bewegung in Spanien. Als sie ein halbes Jahr alt war, begann in Spanien der Bürgerkrieg. Sie wuchs mit sechs Frauen auf – die Männer waren entweder im Kampf gegen den Faschismus gestorben oder lebten im Exil, wie ihr Vater.
"Die beste Lehrerin, die ich je hatte, war meine Mutter", sagt Lidia Falcón. "Und auch meine Großmutter, die Anarchistin war und sich vor und während des Krieges sehr aktiv in der Genossenschafts-Bewegung engagierte."
Ihr Vater, Cesar Falcón, war ein berühmter Kommunist.
"Wir mussten in der Tat sehr vorsichtig sein. Ich sage das im Plural, weil ich auch meine Cousinen, die Töchter der Schwester meiner Mutter, dazu zähle. Wir mussten aufpassen, was wir sagen und wem wir es sagen. Irgendwann fanden wir jedoch einige Leute, mit denen wir unsere Gedanken teilen konnten, oder sogar Leute, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie wir. Zu diesem Zeitpunkt – ich beziehe mich auf meine Kindheit und Jugend – waren die Gewerkschafter, politischen Führer, Schriftsteller und viele Arbeiter entweder im Gefängnis oder ins Exil geflohen, wenn sie nicht getötet worden waren, natürlich."
Spaniens schwieriger Weg aus der Franco-Ära
1975 starb Spaniens faschistischer Diktator Francisco Franco, der das Land seit dem Bürgerkrieg 40 Jahre lang geführt hatte. Es begann die Zeit der Transición, die Übergangsphase zur Demokratie.
Geprägt von Dissidentinnen, beginnt die alleinerziehende Mutter Lidia Falcón, sich für Frauenrechte einzusetzen. Während der Transición gründet sie ein feministisches Kollektiv und einen feministischen Verlag, bringt eine feministische Zeitschrift heraus und ruft eine Organisation ins Leben, aus der die heutige feministische Partei Spaniens hervorging.
"In der Vergangenheit wurden Frauen ständig schikaniert. Immer. Man konnte nicht aus dem Haus gehen, ohne dass einen auf der Straße, im Bus oder in der U-Bahn ein Kerl anspricht oder sogar anfasst."
Das Leben von Frauen spielte sich viel mehr drinnen ab.
Über Jahrhunderte wurden Frauen der häuslichen Sphäre zugerechnet und Verstöße gegen ihre Rechte wurden bis in die späten 1970er-Jahre oft nicht als Menschenrechtsverletzungen wahrgenommen.
Auch wenn die Frauen- und Menschenrechtsbewegung weit gekommen ist: Lidia Falcón blickt auch heute mit Argwohn auf ihr Land, das zu ihrer Enttäuschung noch immer eine Monarchie ist – und auf die Europäische Union, die zwar behauptet, Menschenrechte hochzuhalten, aber auch mit Unrechtsstaaten kooperiert.
An den unaufhaltsamen Fortschritt der Menschenrechte, der vielen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erwiesen schien, hat sie nie geglaubt.
"Nun, ich würde gerne an die Menschen glauben – dass Menschen in der Lage sind, eine bessere Welt zu schaffen, nicht wahr?"
1991: Auf europäischem Boden bricht wieder ein Krieg aus
In den 1990er-Jahren war die Hoffnung groß, dass eine Ära des Friedens, der Demokratie und der Menschenrechte anbrechen würde. Doch dann brach mitten auf dem europäischen Kontinent erneut ein blutiger Krieg aus: im zerfallenden Jugoslawien.
Jovan Divjak ist einer der Zeitzeugen, der seine Geschichte für das Europäische Archiv der Stimmen erzählt hat. Geboren 1937 in Belgrad.
"Meine Mutter war eine mutige Frau, sie wollte sich nicht misshandeln lassen und ließ sich scheiden", sagt er.
Als alleinerziehende Mutter konnte sie seine Ausbildung nicht finanzieren, deshalb ging Jovan Divjak auf die kostenlose Militärakademie in Belgrad und diente später unter Tito in der Jugoslawischen Volksarmee.
"Ich war in Titos Garde. Ich durfte ihm Bericht erstatten, ihm folgen. Wir waren sogar bei der Eröffnung des Wasserkraftwerks Radovan-Đerdap dabei. Ich liebte es, in seiner Begleitung zu sein, wenn er sich Filmvorführungen in der Arena von Pula ansah, ich liebte es, einen Monat in Brijuni, in Vanga, zu verbringen. All dies ist mir in lebhafter Erinnerung als etwas, das nur sehr wenige Menschen tatsächlich erleben konnten. Und es hat mich mein ganzes Leben lang motiviert, eine richtige Richtung im Leben einzuschlagen."
Jovan Divjaks Mutter war Serbin, der Vater bosnischer Serbe. Im Vielvölkerstaat Jugoslawien spielte Religion keine große Rolle: Orthodoxe Serben, katholische Kroaten und muslimische Bosniaken heirateten untereinander und lebten meist friedlich miteinander. Mit dem Aufschwung nationalistischer Strömungen nach Titos Tod kam es in den 80er-Jahren zu Ausbrüchen von Gewalt. Führende Politiker wie der serbische Präsident Milosevic ließen Angst und Hass verbreiten, um ihre eigenen Machtinteressen voranzutreiben.
Held oder Kriegsverbrecher?
1992* bricht der Bosnienkrieg aus. Jovan Divjak entscheidet sich, auf der Seite der bedrohten Bosniaken zu kämpfen und verteidigt die Stadt Sarajevo gegen die Serben. Und das, obwohl er ethnischer Serbe ist. Von den Bosniaken bekommt er den Spitznamen "Retter von Sarajewo".
"Das ist meine größte persönliche Genugtuung, dass ich den Zivilisten und Soldaten beistand, als die Situation am schwierigsten war. Über das Radio. Sie kamen nachts, ein Angriff auf Dobrinja, 'Was machen wir?', schrien sie. Ich schickte ihnen einen Funkspruch: 'Tut, was ihr in den Filmen aus Rom gesehen habt. Kocht Wasser, kocht Öl, und gießt es über diejenigen, die euch angreifen.' Ich kommunizierte mit den Bürgern über das Radio."
Für manche ist General Divjak ein Held, für andere ist er ein Kriegsverbrecher. 2011 wird er im Alter von 73 Jahren auf einen serbischen Haftbefehl hin festgenommen. Wegen mangelnder Beweise lässt man ihn kurz darauf wieder frei.
Ethnische Säuberungen, Massenmorde: Was in den jugoslawischen Nachfolgestaaten nach 1990 geschah, erinnert an die finstersten Zeiten der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Europa reagierte geschockt und hilflos und muss sich mit dieser Geschichte und dieser Erfahrung ernsthaft auseinandersetzen. Das meint der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, er sieht darin sogar eine Bedingung für das Fortbestehen der Demokratien in Europa. Solange der Jugoslawienkrieg nicht angemessen erinnert werde, schreibt er, werde auch Kerneuropa dem Wiederaufleben religiöser Spaltungen und ethnonationalistischer Konflikte hilflos gegenüberstehen. Nur durch die fortwährende Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit und die Anerkennung strittiger Erinnerungen könne es auf Dauer ein friedliches Zusammenleben auf dem europäischen Kontinent geben.
Geschichten, nicht Geschichte
Was ist Erinnerung?
Diese Frage beschäftigt den Slowaken Egon Gál, der als kleiner Junge im Konzentrationslager Theresienstadt eingesperrt war, dessen Vater vor dem Kriegsende 1945 auf einem Todesmarsch gestorben war, dessen Familienbesitz von den kommunistischen Machthabern in der Tschechoslowakei konfisziert worden war. Er hat später Chemie studiert und wurde nach 1989 ein slowakischer Philosoph an der Comenius-Universität in Bratislava. Was ist für Egon Gál, den Slowaken und engagierten Europäer, Erinnerung?
"Es ist eine Geschichte, die mein gegenwärtiges Selbst über meine Vergangenheit erzählt. Und es gibt das Bedürfnis nach Selbstachtung. Deswegen passen wir unsere Geschichten so sehr an."
Geschichten: Plural. Nicht Geschichte.
*Wir haben an dieser Stelle eine falsche Jahreszahl korrigiert.