Das evangelische Pfarrhaus - ein Abgesang
Das evangelische Pfarrhaus ist vom Aussterben bedroht. Diesen Klageruf erhob der Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen bereits vor 25 Jahren. Und die Lage ist bedrohlicher geworden. Landeskirchen müssen sich aus Kostengründen von Pfarrhäusern trennen, die überflüssig werden, weil Gemeinden zusammengelegt werden; die alten Pfarrhäuser, einst für große Familien gebaut, sind für die Kleinfamilie oder den Single-Pastor überdimensioniert; und immer weniger Pfarrer wollen Tag und Nacht im Dienst des Herrn stehen; sie wohnen lieber etwas privater - nicht direkt neben dem Gotteshaus. Und dennoch wird das klassische Pfarrhaus vermisst - als Seele der Gemeinde, als Nukleus der Kerngemeinde. Michael Hollenbach stimmt einen Abgesang auf das evangelische Pfarrhaus an.
Christel Köhle-Hezinger: "'Pfarrers Kinder, Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie' - es gibt ja solche und ähnliche Sprichwörter, die besagen: die Pfarrfamilie saß im Glashaus, ganz ohne Zweifel, sie wurde beäugt, weil man natürlich wissen wollte, ob der Pfarrer es schafft, dass er nach den christlichen Prinzipien, nach der lutherischen Haustafel, seine kleine Truppe im Griff hat, ob da was draus wird, oder ob er die gleichen Probleme hat wie jedermann."
Christel Köhle-Hezinger ist Pfarrhaus-Expertin. Die Professorin für Volkskunde und empirische Kulturwissenschaft in Jena beschäftigt sich schon seit 30 Jahren mit dem Thema.
Das Pfarrhaus steht unter Beobachtung: Es ist profan und leidet zugleich unter dem Heiligkeitsanspruch der Gemeinde und unter seiner Stellvertreterrolle. Im Pfarrhaus soll geleistet werden, was unmöglich ist: das Leben in reinen Beziehungen, in Nächstenliebe; wenn überhaupt, dann nur ein kultivierter Disput; Mäßigung, dezente Heiterkeit, Strebsamkeit.
Vor dem Hintergrund der Überhöhung des evangelischen Pfarrhauses reizt der Bruch, der tiefe Fall, das Dämonische.
Mord im Pfarrhaus,
Tod im Pfarrhaus,
Blues im Pfarrhaus,
Entführung aus dem Pfarrhaus,
Der Teufel im Pfarrhaus.
Die Buchtitel einiger Krimis, die im Pfarrhaus spielen. Allerdings: Tod und Teufel sind eher die Ausnahme im Pfarrhaus.
Rezzo Schlauch: "Das war ein absolut offenes Haus. Wir hatten Besuche von den Studienfreunden von meinem Vater, die dann schwäbische Lederfabrikanten waren oder berühmte Rechtsanwälte, und die kamen dann auf das Bauerndorf mit einem großen Daimler schon damals, (...) also in diesem Haus war immer etwas los. Wenn man sich heute überlegt, dass da so ein Kind auf dem Sofa sitzt, könnte man auf den Gedanken kommen, es langweilt sich, aber ich habe mich nie gelangweilt, sondern es war eine hoch spannende Zeit."
Der Schwabe Rezzo Schlauch, ehemaliger Fraktionschef der Grünen im Bundestag, hat ganz ähnliche Erinnerungen an seine Kindheit im Pfarrhaus in den 50er und 60er Jahren wie der frühere Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reinhold Höppner. Er wuchs in einem Pfarrhaus in Magdeburg auf.
Reinhold Höppner: "Also da sind dann Leute auch gekommen, da habe ich Gespräche mitbekommen, da konnte man still dabei sitzen, wenn die Erwachsenen diskutierten; auf diese Art und Weise hat man was über Probleme erfahren und den Horizont erweitert, wie dies kaum einer meiner Schulkameraden erleben konnte. das Aufregende und Schöne ist in Erinnerung geblieben."
Christoph Bartels: "Also ich hatte viele Klassenkameraden, die ständig bei uns waren und gern kamen."
Erinnert sich der heute 73-jährige Christoph Bartels.
"Das habe ich aber erst hinterher richtig mitgekriegt, viele von denen, die auch nie eine auch nur einigermaßen intakte Familie erlebt hatten, in der sie sich wohl fühlten. Wir bekamen hinterher die Rückmeldung: Wir waren immer verblüfft, bei euch ist ja immer so toll, da reden ja alle miteinander beim Mittagessen."
Reiner Kunze: Pfarrhaus
Wer da bedrängt ist findet
Mauern, ein dach und
Muss nicht beten.
Christoph Bartels: "Es war das einzige Pfarrhaus in der Innenstadt, was als Pfarrhaus zu erkennen war, wir wurden eingedeckt mit gestrandeten Menschen, die kamen zu jeder Tages- und Nachtzeit."
Katharina Saalfrank: "Die Lutherkirche in Wiesbaden, die liegt sehr nahe am Hauptbahnhof, und ist dadurch auch immer eine der ersten Anlaufstellen."
Die Pädagogin Katia Saalfrank, bekannt durch ihre Coachingrolle als "Super-Nanny" auf RTL.
"Und deswegen kamen ganz viele - meine Eltern haben die immer Durchreisende genannt - bei uns und wir hatten so ein kleines Fensterchen, wo auch so ein Fensterbrett auch war, da konnte man die Sachen rausreichen, wir haben auch Kaffee verteilt in bestimmten Bechern, die dafür da waren, auch Brote geschmiert, und unsere Mutter hat uns dann auch runtergeschickt, die zu geben ... Also mit Angst war das nicht verbunden, eher so mit den Geschichten, wo kommen die her, wo gehen die hin, und ich fand auch dieses Wort Durchreisende sehr schön."
Das klassische Pfarrhaus, wie man es bis in die 70er Jahre und vereinzelt auch noch heute antrifft, war ein offenes Haus. Ein Haus, in dem sich oft das Gemeindeleben abspielte - zumal in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als vielfach keine Gemeindehäuser für Kreise und Chöre zur Verfügung standen.
Reinhold Höppner: "Es hat sich auch eine Menge in unserer Wohnung abgespielt; gerade als ich noch sehr klein war, in Magdeburg-Vorort, das war ein kleines Pfarrhaus, und die Chorprobe war in unserer Wohnstube und die Übungen des Kirchenchores haben mich manchmal in den Schlaf gesungen."
Eckart von Vietinghoff: "Das Gefühl, zu kurz zu kommen, das habe ich so nicht gehabt."
Eckart von Vietinghoff, später Präsident des hannoverschen Landeskirchenamtes, über seine Kindheit und Jugend in Hameln:
"Das lag sicher daran, dass in einem so engen, menschenreichen Umfeld auch viele dabei sind, die freundlich mit einem umgehen. Das muss man auch so sehen. Es waren nicht nur die alten Damen aus dem Frauenkreis, die dann gern einem kleinen zehnjährigen Jungen mit blonden Haaren mal über den Kopf streicheln wollten, was ich natürlich nicht schön fand, da habe ich immer einen weiten Kringel drumgemacht, das waren ja auch viele Jugendliche. Also dieses Gefühl habe ich nicht gehabt."
Kindheit und Jugend im Pfarrhaus war aber nicht immer so weltoffen, fröhlich und gesellig. Friedrich Christian Delius beschreibt in seinem Buch "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde", wie sehr sich auch die christliche Theologie in dem Kopf des damals elfjährigen Pfarrersohnes ausbreiten konnte:
"Ich war Isaak, der Sohn, der Vater griff seinen Sohn und fasste das Messer, weil sein Vater ihm befohlen hatte, dass er seinen Sohn schlachtete, (...) ich war Isaak, gefesselt, ängstlich, gebeugt, gedrückt an den Vater Abraham. Isaak konnte es nicht fassen, der Vater ersticht ihn, ich konnte es nicht fassen: was für ein Gott, der so etwas befiehlt. Was für ein Vater, der ohne Widerworte einem solchen Befehl gehorcht. Ich zitterte, ich blutete, sah mich brennen auf dem Altar. Was denkt der schreckstarre Isaak? Was dachte ich? Wie konnte ich mich sicher und angenommen und aufgehoben fühlen, von der frohen Botschaft eines Herrn, der meinem frommen Vater ähnliche Prüfungen abverlangte, wie weit würde mein Vater gehen? Wäre ihm Gott lieber als seine Kinder?"
Das Pfarrhaus - der Kern der Kerngemeinde, ein kleines kirchliches Familienunternehmen. Was der Pfarrer nicht schaffte, übernahmen die "Frau Pastor" und die Pfarrerskinder - wie zum Beispiel Katia Saalfrank. Die "Super-Nanny" wuchs in den 70er Jahren in Wiesbaden auf.
"Wir waren schon auch alle eingebunden, wenn es irgendwelche Adventsnachmittage gab, dann mussten die Pfarrerskinder auch singen, natürlich waren wir im Kinderchor, ich war im Posaunenchor, ich habe Kindergottesdienst gemacht, also ich habe das auch in vollen Zügen genossen."
Christoph Bartels: "Ich habe die damalige Kirchenzeitung verteilt und wurde immer von den Hunden auf den Bauernhöfen verfolgt, das war immer mit Angst verbunden. Der Kirchenchor sang in unserem Wohnzimmer und wir versuchen nebenan einzuschlafen, und meine Mutter leitete die Kreise, also das war ein Familienunternehmen."
Eckart von Vietinghoff: "Nachher in dem Gemeindehaus war eine koksbeheizte Gasheizung, die mussten wir betreiben, sonntags morgens um sechs musste die angeschmissen werden, richtig volle Pulle, dann war eingeteilt, wer die anwirft und voll schaufelt, wurde ja alles mit der Schaufel gemacht."
Rezzo Schlauch: "Also, aber das hat man gern gemacht, wir waren halt Läutbuben, wir haben die Glocken geläutet, für den Gottesdienst am Sonntag, da gab es noch keine elektrischen Läutwerke, da haben wir an den Seilen gehangen, das hat Spaß gemacht."
Sieglinde Bartels hat aber nicht nur positive Erinnerung an ihre Kindheit im Pfarrhaus:
"Ich denke, es war sehr ambivalent. Es war schon sehr schön, aber es hatte auch Schattenseiten, man konnte kaum je seine Eltern so für sich haben oder so was wie eine Rückzugsmöglichkeit oder eine Nestwärme empfinden, das war weniger möglich gewesen."
Und Friedrich Christian Delius schreibt in seinem "Sonntagsbuch":
"Hilfesuchend sah ich zur Mutter hinüber (...) Sie fand meinen Blick, weil sie immer wieder in die Runde lächelte, aber sie schaute nicht so, wie ich es mir erhoffte, einem Lächeln, einem freundlichen Witz der Erlösung. Vielleicht war ich so verwegen, etwas von der Güte, mit der sie die kranken Kinder umsorgte und von der tröstenden Wärme zu erwarten, die sie abends beim Beten und Singen ausstrahlte, wenn sie mit den Melodien der Nachtlieder den innigen, liebevollen Ton der Geborgenheit traf. (...) Sie schien nicht zu merken, welche Nahrung ich mehr brauchte als das Brot; ihre Stimme, ihre Augen, eine Umarmung."
"Andreas Gryphius, Johann Christoph Gottsched, Christian Fürchtegott Gellert, Christoph Maria Wieland, Gotthold Ephraim Lessing, Georg Christoph Lichtenberg, Matthias Claudius, Friedrich Schleiermacher, August Wilhelm von Schlegel, Kuno Fischer, Jean Paul, Friedrich Wilhelm Schelling, Wilhelm Dilthey, Friedrich Nietzsche, Hermann Hesse, Albert Schweitzer, Gottfried Benn, Jochen Klepper, Arnold Ludwig Hohl, Friedrich Dürrenmatt, Christine Brückner, Klaus Harpprecht, Gabriele Wohmann, Friedrich Christian Delius."
Christel Köhle-Hezinger: "Das Pfarrhaus als Hort der Bildung: Ich denke, es gibt einen schönen Beweis, die kleine deutsche Literaturgeschichte von Heinz Schlaffer. Er fragt, was unterscheidet uns von anderen Literaturen in anderen Ländern und Kulturen, und ein für ihn wesentliches und zentrales Moment ist eben das evangelische Pfarrhaus, aus dem viele unserer Dichter und Denker kommen, das ist das größte Segment ganz sicher beruflich gesehen."
Nach Recherchen des Altkatholiken Johann Friedrich von Schulte stammten Mitte des 19. Jahrhunderts von 1600 prominenten Deutschen 861 aus einem evangelischen Pfarrhaus.
Der Protestantismus ist die Konfession des Wortes, der Hinwendung zur Bibel, des Ringens um die theologische richtige Interpretation. Und diese Ausrichtung wurde im Pfarrhaus zum allgemeinen Erkenntnisprinzip erhoben: Die Sprache wird zur Seele der Dinge.
Friedrich Christian Delius: "Ich habe da als Kind sehr unter diesen Verhältnissen zu leiden gehabt, aber ich denke auch, dass ich durch diese Art Erziehung und durch dieses Aufwachsen im Pfarrhaus und dem Konfrontiert-Sein mit dem Wort, mit dem Wort Gottes, was vertreten wurde durch den Vater, eigentlich diese Sensibilität für Sätze, für Worte, für Formulierungen entwickelt habe und eigentlich mein Oppositionsgeist sich so langsam geschult hat, einfach bestimmten Formeln zu widersprechen."
Sagt der Schriftsteller Friedrich Christian Delius:
"Und meine ersten Bücher, die sich so auseinandersetzen mit Unternehmersprache oder Politikersprache, ich erkenne darin heute auch die Rebellion gegen die verordneten Worte und damit auch die Sensibilität für die Wörter. Ich sehe das heute so, dass bei allem, was ich da wirklich abbekommen habe an Schäden, eben auch meine Qualitäten entwickelt habe und die Grundlagen dessen, was ich jetzt jahrzehntelang praktiziere, nämlich das Schreiben und das auch daher ganz stark fundiert ist."
Die große Predigtkultur des Protestantismus wurde im Pfarrhaus entwickelt und kultiviert - nicht nur durch theologisch-dogmatische Werke, sondern gerade auch durch schöngeistige Literatur. Fulbert Steffensky, ehemaliger Benediktinermönch, der 1969 zum Protestantismus konvertierte, kennt beide christlichen Pfarrhäuser:
"Es war auch der Ort der Bücher, wenn ich das mit dem katholischen Pfarrhaus vergleiche, da waren viele Madonnen oder Papstbilder, aber wenig Bücher. Wenn Bücher, dann erwartete Bücher, die Dogmatiken oder spirituelle Literatur, aber kaum Romane, das ist in evangelischen Pfarrhäusern immer anders gewesen, es war ein hoher Ort der Kultur."
Eckart von Vietinghoff: "Lesen, lesen, lesen. Jetzt kommt mein Vater aus einer großen Verlegerfamilie, und auch bei meiner Mutter war das gängig, es wird gelesen, und was wir nicht kaufen können, wird ausgeliehen, das ist das A und O."
Sieglinde Bartels: "Vor allen Dingen Literatur: mein Vater war in Literatur sehr beschlagen und hat mit uns darüber gesprochen, er hat immer wieder seine Bücher vermisst, die in Schlesien geblieben waren. Das war ein Bereich, den haben wir mitgekriegt und politische Diskussionen."
Rezzo Schlauch: "Oder wenn es dann ans Lesen ging, dann hat er neben dem Karl May auch mal ein anderes Buch gelesen: Versuch doch mal da reinzulesen. Dann kann ich mich daran erinnern: Mörike. Das ist doch Poesie, dann hat er mir diesen Künstlerroman Maler Nolten hingelegt, und schon war das was Anderes, oder die spannenden Novellen, aber nicht, dass er gesagt hat: Du musst."
Neben der Literatur war vor allem die Musik prägend für das evangelische Pfarrhaus - bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wie Katia Saalfrank bestätigt.
"Musik haben wir alle gemacht, damit sind wir aufgewachsen, und das ist gar nicht was, wo ich das Gefühl hatte, dass es mir vermittelt wurde, sondern etwas, was schon in mir war, das ist so das Gefühl, wahrscheinlich ist es auch sehr gefördert und geweckt worden was wir viel gemacht haben, wir haben viel gesungen (...) und dann spiele jeder ein klassisches Instrument, Klavier, Geige, Trompete, ich hätte fast gesagt, das Übliche. (...) mit der Musik habe ich nie aufgehört."
"Wenn irgendwo, dann findet die Idee der bürgerlichen Familie im Pfarrhaus ihre exemplarische Verwirklichung. Für die Pfarrfamilie ist das Pfarrhaus die Sinnwelt, aus der sich ihr das Leben erschließt; für die Kinder ist es der Maßstab, an dem sie ihre späteren Erfahrungen messen. Kein Pfarrerskind verlässt das Haus, ohne symbolisch immer wieder dorthin zurückzukehren. Das Pfarrhaus ist für seine Bewohner ein unverlierbarer Kosmos an Erfahrung und Erleben. Es ist mehr als ein Vorbild. Es ist Sinnbild unverwechselbarer Lebensidentität."
Schreibt der Theologe Wolfgang Steck.
Das Pfarrhaus prägt. Lange. Auch wenn sich Pfarrerskinder wie Friedrich Nietzsche oder Gottfried Benn ideologisch längst vom Pfarrhaus losgesagt haben und eher einem Nihilismus folgen, können sie sich ihren Wurzeln nicht entziehen. So schreibt Gottfried Benn über sein Elternhaus, in dem sein Vater und schon sein Großvater Pfarrer waren:
"Dort wuchs ich auf, ein Dorf mit 700 Einwohnern in der norddeutschen Ebene, großes Pfarrhaus, großer Garten. Das ist auch heute noch meine Heimat, obgleich ich niemanden dort mehr kenne. Kindheitserde, unendlich geliebtes Land. Eine riesige Linde stand vorm Haus, steht noch heute da, eine kleine Birke wuchs auf dem Haustor, wächst noch heute dort. Unendlich blühte der Flieder, die Akazien, der Faulbaum."
Katrin Wetzer: "Wir sind hier in Luthers Wohnhaus in Wittenberg, das immer erst so ein bisschen Verwunderung auslöst bei unseren Gästen, weil das doch ein Riesen-Anwesen ist, wer nach Wittenberg kommt, der meint, Luthers Haus müsste klein und bescheiden aussehen."
Katrin Wetzer führt eine Reisegruppe durch das Lutherhaus in Wittenberg: die Urzelle des evangelischen Pfarrhauses.
Katrin Wetzer: "Das wird dann das erste Pfarrhaus. Nachdem die Mönche ausgezogen sind, wird das Haus erst mal drei Jahre leer stehen, Leben zieht dann hier wieder ein 1525. Luther wird beispielgebend vorangehen, er wird heiraten, eine Familie gründen und bekommt später das Haus sogar geschenkt von seinem Landesherren, das heißt, das alte Kloster wird zum Wohnhaus."
Seine Frau, die ehemalige Nonne Katharina von Bora, bringt insgesamt sechs Kinder zur Welt. Sie nimmt später Studenten auf, betreut zeitweilig bis zu elf Pflegekinder, hat zehn Hausangestellte. Gäste kommen und gehen. In Luthers Haus halten sich oft 40 bis 50 Personen auf. Privatleben ist hier kaum möglich:
Katrin Wetzer: "Es gibt natürlich das Wohnzimmer, aber auch da weiß man, da wurde ein Großteil der Tischreden gehalten, so privat war es im Grunde auch nicht, ich denke, privat ist er selten gewesen. Es gibt ja sogar Kollegen, die ihn bedauern, dass er hier überhaupt keine Ecke zum Arbeiten hat, die sagen, es ist immer jemand da, der was von ihm will, der Mann hat nie Ruhe.
Also Luther ist ja der Meinung, die Pfarrer sollten eine Familie haben, damit sie sich besser einfühlen können in die Sorgen ihrer Gemeinde, und der Bugenhagen ist ja der Stadtpfarrer hier in Wittenberg und stellt eines der ersten Modelle dar: verheirateter Pfarrer mit Familie. Dieses Modell möchte man gern - ja heute sagt man - exportieren. Bugenhagen wird in den Norden geschickt. Bis nach Dänemark reichen seine Dienstreisen, und damit die Welt sehen kann, wie schön das ist: ein verheirateter Pfarrer mit Kindern, da muss er die ganze Familie mitnehmen. Das heißt: Die Frau fährt mit, die Kinder fahren mit. Jeder soll sehen: Das ist was ganz Feines."
Das evangelische Pfarrhaus wird exportiert - als Modell, auch nach Mecklenburg.
Besuch in dem Dorf Kladrum, östlich von Schwerin. Ein ehemaliges Pfarrhaus, das der Architekt Werner Teltscher vor einigen Jahren gekauft hat.
Zu Besuch im Kladrumer Pfarrhaus ist auch Christiane Schadewaldt. Die Germanistin aus Heidelberg, die ursprünglich aus Schwerin stammt, hat einen wunderschönen Bildband über die mecklenburgischen Pfarrhäuser und Pfarrgärten veröffentlicht.
Christiane Schadewaldt: "Wenn man hier vorne vor dem Pfarrhaus steht, erkennt man schon gleich, was das Typische von der Architektur ist: die Zweigliederung des Hauses, auf der einen Seite war der amtliche Teil, auf der anderen Seite der private Teil, und dies ist ein spätbarockes Pfarrhaus, man erkennt es auch an den Fledermausgauben, am Gesamtbau des Hauses, wunderschön finde ich diese Ziegeln und diese Fachwerksstruktur. Die Ziegeln wurden eigens hergestellt für die Pfarrhäuser; sie wurden im Winter im Wasser gelagert, damit der Frost sie erproben konnte, ob sie auch wirklich gut waren, damit das Pfarrhaus lange hielt."
"Der Herr ist mein Hirte", steht über der blau gestrichenen Haustür.
Christiane Schadewaldt: "Da gab es eine klare Gliederung im Dorf, das Haus des Lehrers durfte nicht so kostbar sein, war auch nicht so kostbar, wie das Pfarrhaus gebaut, man verwendete niemals Luxusmaterialien wie Marmor, aber man verwendete gute solide Baumaterialien, die auf eine lange Zeit hin angelegt waren. Marmor war verpönt, das gab es in adeligen Häusern. Als Diener Gottes zeigt man natürlich nicht Geld."
Genaue Vorschriften über die Baumaterialen, die in einem Pfarrhaus verwendet werden dürfen, gibt es bis heute.
"Ein klassischer Pfarrhausgarten hat sich in drei Teile gegliedert: Auf der einen Seite gab es den Blumen- und Nutzgarten, der wirklich sehr wichtig war; dann gab es die Streuobstwiese, da erkennen wir auch noch viele Birnenbäume, Äpfelbäume, Pflaumenbäume waren die Regel, man brauchte das Obst, um über den Winter zu kommen, und der dritte Teil war der Parkteil, in den sich der Pastor auch mal zurückziehen konnte, der jetzt nicht so öffentlich war für die Gemeinde."
Das Pfarrhaus in Kladrum wurde 1750 erbaut und fällt damit in eine Übergangsphase: bislang war der Pfarrer nicht nur Theologe, sondern zugleich Landwirt. Er lebte vom Zehnten, die die Pfarrleute zu entrichten hatten, vor allem von dem Pfarrland, das er verpachtete, aber auch selbst bewirtschaftete.
Christiane Schadewaldt: "Es gab hier in Mecklenburg so genannte Champagner-Pfarreien, die reiche Pfründe hatten, sehr viel Land drum herum, was sehr ertragreich war, und dann ging es dem Pastor auch sehr viel besser, und es gab auch wirklich sehr arme Pfarreien, die bitterarm waren."
Eine weitere Einnahmequelle waren die Sportel, Abgaben, die für kirchliche Handlungen bezahlt wurden.
Christel Köhle-Hezinger: "Es gab auch die Anmeldung zum Abendmahl. Und diese Anmeldung zum Abendmahl, da musste man am Sonnabend vor dem Gottesdienst dann ins Pfarrhaus gehen, da hat man dann Naturalien gebracht, Geld bezahlt, und das hat dann die Frau Pfarrer gemacht."
Berichtet die Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger.
"Die Kirchenleitung hatte immer Angst, dass der Pfarrer zu sehr verbauert, es gibt richtig dieses Wort, dass die Pfarrer nicht verbauern sollen, also nicht mit ihrem Weinberg und ihrem Acker eins werden, und ihrer Bienenzucht, und ihre Apfelbäume zu sehr lieben, die sie gepflanzt haben."
"Wir armen Pfarrern auf den Dörfern können nicht immer studieren, dieweil wir mit der beschwerlichen Mühe des Ackerbaus beladen sind".
Schreibt der Verfasser des ersten deutschen Gartenbuches, Pastor Johann Peschelius 1597. Doch die Pfarrer ziehen sich - so weit es geht - immer mehr von der körperlichen Arbeit zurück und konzentrieren sich auf das Geistig-Geistliche. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts erscheint eine Vielzahl an landwirtschaftlichen Lehrbüchern und Ratgebern, die von Pastoren verfasst wurden. Es dauert aber noch einmal bis ins 18. Jahrhundert, bis sich die Pfarrer fast ganz aus der praktischen Landwirtschaft zurückziehen.
Christel Köhle-Hezinger: "Aber wir können das nicht von der gesellschaftlichen Entwicklung ablösen. Das ist immer nur ein Spiegel, der kleine Kosmos Pfarrhaus ein Spiegel vom großen Kosmos draußen in der Welt, und die Geldwirtschaft hält jetzt zunehmend Einzug in der gesamten Gesellschaft. Und da drängen nun die Pfarrer drauf, dass sie einen festen Sockel von Geldbesoldung kriegen. Da wird auch schnell die Spur der Aufklärung sichtbar, dass die Pfarrer sich genieren, es ihnen nicht mehr passend scheint, dass sie auch Ökonomen sind."
Die evangelischen Pfarrer wurden im preußischen Staat zu landesherrlichen Beamten. Allerdings:
Christel Köhle-Hezinger: "Es blieb immer noch dieser Naturaliensockel, dass, wenn die Leute geschlachtet haben, wenn Feste waren, dass man dem Pfarrer ins Pfarrhaus Nahrung gebracht hat, und das war auch eine Art Huldigung, wie den weltlichen Herren hat man den geistlichen Herren etwas gebracht, das hat sich bis ins 20. Jahrhundert in vielen ländlichen Regionen erhalten, dass man eine Gans oder eine Schlachtsuppe gebracht hat."
"David Fabricius, geb. 1564, Pfarrer und Astronom
Johann Valentin Andreae, geb. 1586, Pfarrer, Mathematiker und Astronom;
Phillip Matthäus Hahn, geb. 1739, Pfarrer und Begründer der feinmechanischen Industrie in Württemberg.
Johann Heinrich August Duncker, geb. 1787, Pfarrer und Optiker
Wilhelm Zimmermann, geb. 1807, Pfarrer und Historiker;
Heinrich Höhn, geb. 1877, Pfarrer und Volkskundler;
Christian Ludwig Brehm, geb. 1787, Pfarrer und Ornithologe."
Brehms Sohn, Alfred Edmund, trat in die Fußstapfen seines Vaters und verfasste in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts das berühmte Nachschlagewerk "Brehms Thierleben".
Hagen Jäger: "Das Eigenartige ist eben, dass Pfarrer sich nicht nur mit Theologie beschäftigt haben, sondern sich zum Teil auch ganz andere Wissensgebiete rausgesucht haben, in dem sie ihr Wissen vertieft haben."
Hagen Jäger ist wissenschaftlicher Leiter des Pfarrhausarchivs in Eisenach.
"Das kann Zoologie gewesen sein, Botanik spielt eine wichtige Rolle, Obstbau, Landwirtschaft, das hängt auch mit ganz praktischen Erfordernissen zusammen, aber auch in verschiedenen künstlerischen Bereichen, und das gilt auch für die Kinder. Es sind eine ganze Menge Pfarrerssöhne und Töchter aus dem Pfarrhaus hervorgegangen, die keine Pfarrer wurden, aber dann Anregungen, die sie aus dem Hause mitnahmen, beruflich umgesetzt haben und da zum Teil auch Bedeutendes geleistet haben."
Warum sich die Pfarrer so intensiv der wissenschaftlichen Arbeit zuwandten, dafür hat Christel Köhle-Hezingers ihre eigene These:
"Was mich am meisten beeindruckt, dass im Pfarrhaus eine große Einsamkeit geherrscht hat. Und ich denke, diese Einsamkeit rührt daher, dass die Obrigkeit immer drauf gesehen hat, dass die Pfarrer sich nicht gemein machen mit dem Volk, dass sie ihre Amtstracht tragen, sie waren die Herren und sie waren im Ort die einzigen Gebildeten, die einzigen Akademiker, das verpflichtet sie, standesgemäß zu leben. Und was tut dann der Gute den ganzen Tag? Er muss sich verkrümeln in seinem Studierzimmer, er muss lesen und studieren, es gab ja nicht diese ganzen seelsorgerlichen Aktivitäten, die Jugendarbeit, wie heute. Er war also sehr eng im Korsett seines Standes eingebunden, ich denke, da war es für die eine richtige Befreiung, andere Interessen ausleben zu können, die wissenschaftlich durch die Aufklärung legitimiert waren, als guter Seelsorger auch in anderen Bereichen wirken zu dürfen."
Bis zur Weimarer Republik war die evangelische Kirche eine Staatskirche. Seit der Reformation war der Territorialfürst zugleich der oberste Kirchenherr. Das bedeutete: auch das Pfarrhaus und der Pfarrer waren in jedem Dorf so etwas wie Repräsentant der Obrigkeit.
Christel Köhle-Hezinger: "Das war ein großes Problem, er musste es sein, Thron und Altar war eine Einheit, man denkt dann immer an Bismarck und den Kaiser, wenn man Thron und Altar sagt, aber das hat eben bis in die kleinste Dorfkirche hinein Spuren gezeitigt, es wurde gebetet für die Herrscher, und wenn man wusste, der hatte eine Mätresse, dann musste man auch für das Luder mit beten, die Gesetze wurden verkündet von der Kanzel und es wurde gesammelt für das Regierungsjubiläum, und es war für die Leute in der Wahrnehmung, also auch im mentalen Bereich, eine komplette Einheit."
Werner Teltscher, der das alte Pfarrhaus in Kladrum gekauft hat, zeigt auf ein besonderes Beispiel der Nähe zwischen Thron und Altar:
"Wir haben noch was Interessantes gefunden, und zwar ist das hier das Eiserne Kreuz genagelt, und das bedeutet, dass die Leute, die einen Nagel dort einschlagen durften, Geld gespendet haben für den Ersten Weltkrieg. Das ist 1916 entstanden, und so wurde eben für den Krieg Geld gesammelt."
Christel Köhle-Hezinger: "Wenn wir uns klar machen, dass wir bis 1919 eine Staatskirche hatten, also Gottesdienstbesuch, Abendmahlsbesuch im protestantischen Bereich ist Pflicht, wird kontrolliert, wird bestraft mit Geld, früher noch mit Ehrenstrafen, mit Brandmarkungen, oder mit dem Hurenstuhl in der Kirche für uneheliche Geburten, das ist in eins geflossen in den Wahrnehmungen der Menschen, und das war sicher auch eine große Belastung für das Pfarramt."
Gehörte das Pfarrhaus bis 1919 zum obrigkeitlichen Staat, so reagierten die meisten evangelischen Pfarrer eher irritiert und distanziert auf die Demokratie der Weimarer Republik. Im Nationalsozialismus meinten viele Pastoren anfangs ein Wiederaufleben des nationalkonservativen Deutschlands erkennen zu können. Doch auch als Hitler sein wahres Gesicht zeigte, waren die wenigsten Geistlichen zum Widerstand bereit.
Deutlicher artikulierten viele Pfarrer ihren Protest gegen die Obrigkeit in der DDR nach 1949. Vor allem in den 50er Jahren bildete sich ein scharfer Gegensatz zwischen dem sozialistischen Staat und der evangelischen Kirche heraus.
Wer in der DDR im Pfarrhaus wohnte, der wurde gesellschaftlich ausgegrenzt, berichten Reinhard Höppner und Christoph Dieckmann, Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit".
Christoph Dieckmann: "Für mich sah das konkret so aus, dass ich von Anfang an, seit der 1.Klasse der Außenseiter gewesen bin. Ich war als einziger nicht in der Pionierorganisation Ernst Thälmann, trug nicht das blaue Halstuch und nicht den glänzenden Klappausweis, ich ging nicht zur Mai-Demonstration, ich versaute also immer die 100-Prozent-Statistik."
Reinhold Höppner: "Ich bin dann ja auch nicht zur Jugendweihe gegangen, und wenn man dann einen Schulaufsatz schreiben muss über die Jugendweihe unter der Überschrift 'Der schönste Tag in meinem Leben' und ich nicht weiß, was ich schreiben soll, und ich für diesen Aufsatz eine Fünf kriege, dann ist das schon ärgerlich."
Christoph Dieckmann: "Ich erinnere mich noch an den unvergesslichen Satz der Kreisschulrätin Richter, die kein Kirchenkind zum Abitur zuließ, und hätte es den Durchschnitt 1,0 gehabt. Sie sagte mir: Sie tun nichts fürs Volk, da tut die Volksmacht auch nichts für sie."
Christoph Klessmann: "Das Interessante scheint mir zu sein, dass das nicht einfach eine Opposition war."
Christoph Klessmann, Historiker am Zeithistorischen Institut der Universität Potsdam.
"Sie waren ein resistentes Milieu, was auch mit diesen bildungsbürgerlichen Traditionen zu tun hat, das die Partei nicht so schnell, wie sie gewollt hätte, kleingekriegt hat. Sie haben stärker als andere Bereiche eine Eigenständigkeit bewahrt und das hängt dann zusammen mit der Rolle der evangelischen Kirche."
Christoph Dieckmann: "Man muss sagen, dass der ideologische Druck der DDR manches zusammenhielt, auch an Bürgerlichkeit, was sonst - wie im Westen - schon eher gebröckelt wäre. Viele Pfarrhäuser empfanden sich als Zitadellen des geistigen Bürgertums."
Christoph Klessmann: "Ich glaube, es ist ein typisches Element für die DDR, also für Ostdeutschland, dass unglaublich viele Pfarrerskinder in die Politik gegangen sind. Das hat natürlich Gründe. Das waren diejenigen, die schon so ein bisschen Einübung hatten in öffentliche Darstellung, in demokratische Prozeduren, und die eben auch nicht alle Dissidenten und Oppositionelle waren, die aber zumindest politisch in der Regel nicht kompromittiert waren."
Das Pfarrhaus war ein politischer Freiraum, aber für die Bewohner - in Ost wie West - auch mit Einschränkungen verbunden.
Christoph Dieckmann: "'Scheiß-Kirche' habe ich des öfteren gedacht, weil mein Vater mir nicht gestattete, der Fußball-Schülermannschaft beizutreten, die spielten nämlich sonntags vormittags und da hatte das Pastorenkind in der Kirche zu erscheinen."
Friedrich Christian Delius: "Ich war nicht nur der älteste von vier Geschwistern, sondern ich wusste auch, wenn ich durchs Dorf ging oder wenn ich mit den Dorfjungen spiele, dass ich eine besondere Rolle habe als jemand, dass man auf mich besonders guckt, und das macht einen natürlich nicht gerade freier oder lebhafter oder fröhlicher."
Katharina Saalfrank: "Ich habe mich den ganzen Tag in der Woche sehr belastet gefühlt, und wollte am Samstag und Sonntag ausschlafen, und das ging dann nicht. Samstag war großer Familienaufruhr, und sonntags war Gottesdienst und davor das große Frühstück. Dann war das schon für meine Begriffe sehr früh. Gottesdienst war Pflicht, das haben meine Eltern heute auch verdrängt."
Friedrich Christian Delius: "Das bekommt man von zwei Seiten zu hören: einmal von den Eltern, die einem das immer wieder sagen, und dann von den Leuten aus dem Dorf, die einen damit so ein bisschen hänseln, und der berühmte Spruch: Pfarrers Kinder, Müllers Vieh, geraten selten oder nie, den hörte man jeden dritten Tag, so kommt es mir heute vor, also war man darauf aus, den Spruch zu widerlegen. Vielleicht war das keine schlechte Motivation fürs Leben, aber jedenfalls war man dieser Erwartung immer ausgesetzt."
"Der Teufel wohnt unter der Tempelschwelle. Pfarrkinder geraten oft so schwierig, weil es so schwer ist, das Evangelium ohne Gesetzlichkeit zu leben, fromm zu sein, ohne die Freiheit zu verlieren. Der natürliche, notwendige Widerstand der jungen Generation gegen die ältere gerät, da die Dinge im evangelischen Pfarrhaus stilisiert werden, zum Widerspruch gegen die Sache, die hier vertreten wird: im Vater trifft das Kind leider den Pfarrer."
Schreibt der Pastor und Schriftsteller Johann Christoph Hampe.
"Der Tisch ist gedecket und alles bereit, sang ich, die rechte Hand in der Vaterhand, die linke an der Bruderhand. Oh seht, was die Liebe des Vater uns beut, singend hörte ich unsern Gesang, oh schmecket und sehet, wie freundlich er ist. Wir standen hinter den Stühlen um den Tisch herum, fassten einander locker die Hände und schweißten uns zum Chor zusammen, um das Tischgebet am Sonntag zur Feier des Bratens und des Gottes zu singen, der niemals und nirgends die Seinen vergisst. Die Wörter steckten voller kleiner Widerhaken, und ich sang kräftig dagegen an, oh seht, was die Liebe des Vaters. Ich sah auf den Tisch und wusste, damit war der Vater im Himmel gemeint, und nicht der Vater neben mir, aber doch wieder der Vater neben mir, der mit seiner Arbeit die Liebe des Vaters im Himmel verkündete, ihn vertrat und damit sein Geld verdiente."
"Bescheiden in den Falten des Talars" - So lautet der Titel eines Buches über 50 Jahre Pfarrfrauenleben. Autorin ist die Kulturwissenschaftlerin Andrea Hausser.
Andrea Hausser: "Man kann sagen, bis in die 60er Jahre hinein war Pfarrfrau-Sein ein Beruf, das heißt, die Pfarrfrau musste das Amt ihres Mannes mittragen, und mitgestalten und auch mitarbeiten in den verschiedensten Dimensionen des Gemeindelebens, sie hatte eigentlich nicht die Chance, eigene Interessen zu verfolgen."
Anne Delfenthal ist seit 35 Jahren mit dem Pfarrer Wolfgang Delfenthal verheiratet. Als junge Frau ging sie mit ihrem Mann in eine kleine Gemeinde in der Lüneburger Heide. Dass sie ihrem Mann als Pfarrfrau zur Seite stehen wollte, war für sie keine Frage:
Anne Delfenthal: "Es war klar, weil ich mir das gewünscht habe, ich bin schon von Kindesbeinen an in der Landeskirche zu Hause gewesen, und ich war froh, dass ich meinen Beruf als Krankenschwester aufgeben konnte und bin mit Leib und Seele 20 Jahre Pfarrfrau gewesen. Ich war eingebunden in diese Gemeinde, es war mein Leben."
Andrea Hausser: "Sie mussten den Frauenkreis leiten, den Bibelkreis leiten, sie mussten im Pfarrhaus ständig präsent sein und ansprechbar sein, also das Pfarrhaus war eine Art Informationsbörse, oft war sie auch im Chor tätig, auf jeden Fall einen maßgeblichen Teil der Gemeindearbeit hat sie mitgestaltet."
Eine Pfarrfrau konnte fast alles sein, nur sexy sollte sie möglichst nicht sein. Eher unauffällig, bescheiden, zurückhaltend. So heißt es in einer dienstrechtlichen Anweisung:
"Der Pfarrer soll sich bei der Wahl seiner Ehefrau bewusst sein, dass er mit seinem Hause eine besondere Stellung im Leben der Gemeinde einnimmt."
Andrea Hausser: "Auch solche Sachen dass man kein Lippenstift tragen durfte als Pfarrfrau, sich nicht modisch kleiden durfte, immer diese Beobachtung von der Gemeinde, ob man sich adäquat als Frau verhält."
Die Kirchenleitung legte Frauen, die berufstätig waren, massiv nahe, nach der Heirat und der Ordination ihres Mannes ihren Beruf aufzugeben.
"Der Pfarrer ist verpflichtet, auf Verlangen dahin zu wirken, dass die Ehefrau um seines Dienstes willen von der Ausübung ihres Berufes absieht."
Anne Delfenthal: "Das war für mich auch vollkommen selbstverständlich, weil ich wusste, ich gehöre da an die Seite meines Mannes. Ich denke schon, es ist ein großer Mangel, dass das Pfarrhaus nicht mehr so ist, wie es damals war und dass es auch manche Schwierigkeiten gibt, dadurch dass Pastorenehepaare auch getrennte Wege gehen, aber das wäre für mich nicht in Frage gekommen. Ich habe geheiratet und habe dieses Amt mitgeheiratet, das habe ich gar nicht reflektiert, das war einfach so."
In den 70er und 80er Jahren verändert sich die Rolle der Pfarrfrau: Die Landeskirchen erlauben eine Berufstätigkeit. Zugleich ziehen die ersten Pastorinnen ins Pfarrhaus ein.
Viele Gemeindemitglieder begreifen anfangs nicht so recht, dass die neue Pastorin nicht die Pfarrfrau ist. Nicht nur immer mehr Pastorinnen ziehen mit ihrem Männern in die Pfarrhäuser; gleichzeitig professionalisieren sich seit den 70er Jahren die Gemeinden: Diakone werden für die Kinder- und Jugendarbeit eingestellt; Kirchenmusiker übernehmen die Chorarbeit.
Andrea Hausser: "Das hat natürlich die Rolle der Pfarrfrau wieder verändert, weil vorher hatte sie ja eine ziemliche Kompetenz- und Machtposition, und indem jetzt eben andere qualifizierte Kräfte rein kamen, die sich auch nicht reinreden lassen wollten, war das auch wieder eine Beschneidung der Pfarrfrauenrolle."
Das hat auch Anne Delfenthal zu spüren bekommen. Als ihr Mann nach 20 Jahren vom Dorf in eine Kleinstadt-Gemeinde wechselt, ist für sie als Pfarrfrau kein Platz mehr.
Anne Delfenthal: "Das war für mich ganz schlimm, weil ich einfach uns als Pastorenehepaar zusammen gesehen habe. Da bin ich in eine heftige Krise gekommen, weil ich diesen Beruf für mich als Pfarrfrau nicht mehr ausüben durfte. Da waren erheblich Blockierungen. Damals war das für wie in die Arbeitslosigkeit geschickt zu werden. Das war für mich ganz schwer."
Eigentlich sehnt sich Anne Delfenthal die vermeintlich heile Welt des alten Pfarrhauses zurück:
"Ich wünschte mir wieder etwas mehr, weil ich denke, in dieser Zeit der großen Umbrüche und Einsamkeit wünschen sich die Menschen auch einen Ort, wo sie vielleicht das Gefühl haben, da können wir hinkommen, da ist noch ein Stück heile Welt, wo man Geborgenheit findet und da glaube ich, zerbricht einfach was."
Die heile Welt war gestern. Aber so heil war die Welt auch im Pfarrhaus nicht. Ehekrisen im Pfarrhaus gab es immer schon. Doch seit den 70er Jahren steigen dann die Scheidungszahlen auch im Pfarrhaus rapide an. Heute haben sie den gesellschaftlichen Durchschnitt erreicht.
Andrea Hausser: "Es kam zu sehr vielen Scheidungen dadurch, dass die Frauen berufstätig waren und nicht mehr automatisch alles übernommen haben, Messiasphänomene des Pastors nicht mehr tragen wollten."
Also die pastorale Haltung, sich selbst für unfehlbar und moralisch rein zu halten.
"Ich denke, da ist so eine Prozess in Gang gekommen, wo die Pfarrfrau sich von einem Beruf hin zu einer Frau an der Seite des Pastors entwickelt hat und ein eigenständiges Leben beansprucht hat."
Nicht unerheblich an der neuen Bereitschaft zur Scheidung im Pfarrhaus dürfte auch das geänderte Scheidungsrecht gewesen sein, meint Pastor Burkhard Kindler:
"Es war früher so: Das gab es ja noch die schuldhafte Scheidung, dass der Pastor möglichst in den Akten nicht der Schuldige war, dann war er weg, der wurde rausgeschmissen, und ich meine, wir haben '77 das Schuldprinzip ersetzt durch das Zerrüttungsprinzip und da war es natürlich für die Kirche etwas schwieriger, Schuld festzustellen, und da kam dann die Reaktion: das wollen wir auch gar nicht mehr."
Denn wurde der Pfarrer früher schuldhaft geschieden, folgte die sofortige Entlassung aus dem Dienst - mit der Konsequenz, dass sowohl er als auch seine Ex-Frau zunächst ohne Einkommen da standen.
Burkhard Kindler hat als Pfarrer eine Scheidung selbst durchlitten - nach dem neuen Scheidungsrecht:
"Meine Frau ist ausgezogen, die hatte gemeint, mit einem anderen glücklicher zu werden. Ich musste mich dann offenbaren der kirchlichen Obrigkeit, dass ich alleine bin, meine Frau weg ist, und dann hieß es: Wer geschieden ist, der geht, egal, was da war, wir fragen nicht nach schmutziger Wäsche. Der Pastor, den das betrifft, der geht. Und damit fing das Problem an, denn die, die mich da als Pastor erlebt haben, meine erste Gemeinde, die wollten mich nicht gehen lassen, und ich wollte auch gar nicht gehen."
Scheidung im Pfarrhaus, das Thema haben die Landeskirchen bis vor wenigen Jahren nur mit spitzen Fingern angefasst.
Burkhard Kindler: "Ich wurde ja auch nicht versetzt, ich wurde massiv unter Druck gesetzt, zu gehen, man hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt: Du gehst oder es gibt richtig Ärger. Ich habe keine Akte in der Hand, keine Versetzungsverfügung, ich habe nichts."
Die einzige Begründung vom Personalchef, vom Landessuperintendenten und dem damaligen hannoverschen Landesbischof Horst Hirschler:
Burkhard Kindler: "Wir machen das immer so, wir wollen keine schmutzige Wäsche waschen, wir haben uns entschlossen als Kirchenleitung, immer so zu handeln, damit wir nicht in die Gefahr geraten, bewerten zu müssen."
Nach monatelangem Suchen fand Kindler - als allein erziehender Vater - dann endlich eine neue Gemeinde.
Burkhard Kindler: "Ich habe das immer als Bestrafung gesehen, und ich habe das nie anders interpretieren können, und die Leute, denen so was begegnet, die Gemeindeglieder, für die ist das auch Bestrafung. Da können sie reden, wie sie wollen, das ist so: Der ist bestraft, weil er geschieden ist."
Das evangelische Pfarrhaus droht langsam zu verschwinden. Zum einen aus Kostengründen. So besaß die mecklenburgische Landeskirche 1945 noch 550 Pfarrstellen mit den entsprechenden Häusern; heute sind es weniger als die Hälfte: noch 200 Pfarrhäuser werden von Pastoren bewohnt. Andreas Flade, Sprecher der mecklenburgischen Landeskirche:
"Viele Kirchgemeinden bestehen ja heute aus mehreren Kirchgemeinden - früher waren das mehrere Kirchgemeinden, und es gibt dann im Bereich einer Kirchgemeinde manchmal noch mehrere Pfarrhäuser. Die Aufgabe ist heute, ein Pfarrhaus zu erhalten und dafür etwas zu tun, und wenn dann in einem Pfarrhausensemble das Gemeindeleben stattfindet, dann ist das Ziel erreicht. "
Seit 1989 musste die Landeskirche auch 40 Prozent ihrer Stellen streichen; immer weniger Pastoren sind für immer mehr Gemeinden zuständig - und damit immer seltener im Pfarrhaus anzutreffen. Viele Pfarrfrauen oder Pfarrmänner sind zudem berufstätig; immer mehr Pastoren leben auch als Single im Pfarrhaus.
Andreas Flade: "Es hat nicht mehr den Charakter wie früher, dass man oft im eigenen Dorf zu Fuß zum Pastor laufen konnte, sondern man muss sich heute auf den Weg machen, mit dem Auto normalerweise."
Vor allem in den Innenstadtgemeinden steht die Residenzpflicht, also die Vorgabe, dass der Pastor vor Ort im Pfarrhaus wohnt, zur Disposition. Denn in Innenstädten wie zum Beispiel Göttingen befinden sich zwar die fünf Altstadtkirchen - alle in Sichtweite. Aber die Wohnsituationen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten radikal verändert, berichtet Pastor Gerhard Weber:
"Die Wohnbevölkerung ist aus der Innenstadt ausgezogen in die Vorort-Bezirke. In der Innenstadt ist das ein Problem, weil die Menschen gar nicht mehr da wohnen. Das sieht man auch an den Gemeindegliederzahlen im Innenstadtbereich, die stark abgenommen haben."
Statt auf Bewohner trifft man abends und nachts eher auf Discogänger und Kneipenbummler - nicht selten betrunken und lärmend. Für die Pfarrhausfamilie in der Innenstadt eine Zumutung, meint Gerhard Weber:
"Als Pfarrer ist man gezwungen, weil man eine Residenzpflicht hat, da zu wohnen, jeder andere würde wegziehen, und so ist ja auch in der Innenstadt, das Wohnungen kaum noch da sind. Da sind Arztpraxen, Geschäfte, die da sind, aber Familien mit Kindern, die würden nicht in dem Bereich Wohnungen suchen."
Kein Wunder, dass man gerade in vielen städtischen Pfarrhäusern keine Pastoren mehr antrifft.
Hausser: "Es ist in Bremen zum Beispiel so, dass nur noch die wenigsten Pastoren im Pfarrhaus leben. Die haben ihre Residenzpflicht aufheben können, und von daher ist das Pfarrhaus auch nicht mehr der zentrale Ort innerhalb der Gemeinde, wo sich vieles abspielt."
Gerade die jüngeren Pfarrer möchten gern Arbeit und Privatleben stärker trennen und im Pfarrhaus nicht permanent im Dienste der Kirche stehen.
Andreas Flade: "Im Blick auf die Pfarrhäuser haben wir eine Entwicklung hinter uns, die anderen Landeskirchen noch blühen könnte."
Zu dieser Entwicklung gehört auch der Verkauf zahlreicher Pfarrhäuser an Privatpersonen wie Werner Teltscher, der das alte, halb verfallene Pfarrhaus in Kladrum gekauft hat mit der Zusage, einen Raum für die Gemeinde zur Verfügung zu stellen.
Werner Teltscher: "Ein Haus, das diese Geschichte hat, diese Tradition, wieder zum Leben zu erwecken, das ist eine Genugtuung, ein Zurückbringen von Kulturgut zu einer Gesellschaft, die das manchmal nicht zu würdigen weiß. Das Haus ist wie eine liebevolle Mutter, die einen umarmt. Alles hat seine Markierungen, das Haus umarmt einen, und deshalb fühlen wir uns so wohl hier. Und dadurch, dass wir die Atmosphäre auch nicht kaputt gemacht haben mit modernen Möbeln, wir haben versucht, das Haus so zu halten wie es ist. Wir haben ihm ein Facelifting gegeben, und ich glaube, es ist dankbar."
Es ist vielleicht dankbar, dass es überlebt hat - aber eben nicht als Pfarrhaus.
Fulbert Steffensky: "Es gibt das Haus kaum noch; es gibt die Pfarrfrau in diesem Sinn nicht mehr, Pfarrerskinder sind nicht mehr unterscheidbar von den Kindern des Schmiedes, und es gibt auch die alten Gewohnheiten immer weniger, der Pfarrer ist ein viel beschäftigter Mensch, atemlose Menschen."
Sagt der Theologe Fulbert Steffensky. Auch Reinhard Höppner weiß um den Niedergang des evangelischen Pfarrhauses, aber:
"Ich glaube, dass man das, was wir da als Botschaft zu vermitteln haben, nicht nur durch Worte vermitteln kann, sondern dass man das durch Leben vermitteln muss, und das ist ohne eine gewisse Offenheit, ohne dass man sein Leben mit einbringt, ganz schwer zu transportieren. Ich glaube, dass manchmal die Überzeugungskraft, die jetzt Pfarrern oder Verkündigern des Evangeliums fehlt, ein bisschen was damit zu tun hat, das als Job zu machen und daneben ihren Privatraum zu behalten, das ist problematisch und es ist ja so, gerade in unserer säkularisierten Welt, da ist ja die Frage, was überzeugt: da überzeugt nur das Leben, und da ist es beispielsweise auch gut, dass ein paar Nicht-Christen nicht in die Kirche kommen, aber ins Pfarrhaus kommen, und da Ansprechpartner finden und ein Gefühl dafür bekommen: da ist doch eine Atmosphäre, da ist irgendwas, was neugierig macht."
Fulbert Steffensky: "Man könnte ja sagen: Häuser insgesamt sind im Verschwinden, früher gab es die großen Herrenhäuser, es sind Wohnungen geworden, weil Langfristigkeit im Verschwinden ist, kurzfristiger Wechsel, IKEA-Möbel, eigentlich eher das Zelt als das Haus. Wenn ich daran denke, auch die Langfristigkeit in der Symbolik, ich denke immer, zu einem Pfarrhaus gehört der Nussbaum oder die Linde, der da vorsteht, das heißt ein Symbol des ruhigen Wachsens, aber auch der langen Zeit. Wer wohnt von uns heute noch in Häusern? Wer wohnt in einem Gebilde, in dem die Kinder noch wohnen werden oder die Enkelkinder oder wo die Dielen knarren?"
Christel Köhle-Hezinger ist Pfarrhaus-Expertin. Die Professorin für Volkskunde und empirische Kulturwissenschaft in Jena beschäftigt sich schon seit 30 Jahren mit dem Thema.
Das Pfarrhaus steht unter Beobachtung: Es ist profan und leidet zugleich unter dem Heiligkeitsanspruch der Gemeinde und unter seiner Stellvertreterrolle. Im Pfarrhaus soll geleistet werden, was unmöglich ist: das Leben in reinen Beziehungen, in Nächstenliebe; wenn überhaupt, dann nur ein kultivierter Disput; Mäßigung, dezente Heiterkeit, Strebsamkeit.
Vor dem Hintergrund der Überhöhung des evangelischen Pfarrhauses reizt der Bruch, der tiefe Fall, das Dämonische.
Mord im Pfarrhaus,
Tod im Pfarrhaus,
Blues im Pfarrhaus,
Entführung aus dem Pfarrhaus,
Der Teufel im Pfarrhaus.
Die Buchtitel einiger Krimis, die im Pfarrhaus spielen. Allerdings: Tod und Teufel sind eher die Ausnahme im Pfarrhaus.
Rezzo Schlauch: "Das war ein absolut offenes Haus. Wir hatten Besuche von den Studienfreunden von meinem Vater, die dann schwäbische Lederfabrikanten waren oder berühmte Rechtsanwälte, und die kamen dann auf das Bauerndorf mit einem großen Daimler schon damals, (...) also in diesem Haus war immer etwas los. Wenn man sich heute überlegt, dass da so ein Kind auf dem Sofa sitzt, könnte man auf den Gedanken kommen, es langweilt sich, aber ich habe mich nie gelangweilt, sondern es war eine hoch spannende Zeit."
Der Schwabe Rezzo Schlauch, ehemaliger Fraktionschef der Grünen im Bundestag, hat ganz ähnliche Erinnerungen an seine Kindheit im Pfarrhaus in den 50er und 60er Jahren wie der frühere Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reinhold Höppner. Er wuchs in einem Pfarrhaus in Magdeburg auf.
Reinhold Höppner: "Also da sind dann Leute auch gekommen, da habe ich Gespräche mitbekommen, da konnte man still dabei sitzen, wenn die Erwachsenen diskutierten; auf diese Art und Weise hat man was über Probleme erfahren und den Horizont erweitert, wie dies kaum einer meiner Schulkameraden erleben konnte. das Aufregende und Schöne ist in Erinnerung geblieben."
Christoph Bartels: "Also ich hatte viele Klassenkameraden, die ständig bei uns waren und gern kamen."
Erinnert sich der heute 73-jährige Christoph Bartels.
"Das habe ich aber erst hinterher richtig mitgekriegt, viele von denen, die auch nie eine auch nur einigermaßen intakte Familie erlebt hatten, in der sie sich wohl fühlten. Wir bekamen hinterher die Rückmeldung: Wir waren immer verblüfft, bei euch ist ja immer so toll, da reden ja alle miteinander beim Mittagessen."
Reiner Kunze: Pfarrhaus
Wer da bedrängt ist findet
Mauern, ein dach und
Muss nicht beten.
Christoph Bartels: "Es war das einzige Pfarrhaus in der Innenstadt, was als Pfarrhaus zu erkennen war, wir wurden eingedeckt mit gestrandeten Menschen, die kamen zu jeder Tages- und Nachtzeit."
Katharina Saalfrank: "Die Lutherkirche in Wiesbaden, die liegt sehr nahe am Hauptbahnhof, und ist dadurch auch immer eine der ersten Anlaufstellen."
Die Pädagogin Katia Saalfrank, bekannt durch ihre Coachingrolle als "Super-Nanny" auf RTL.
"Und deswegen kamen ganz viele - meine Eltern haben die immer Durchreisende genannt - bei uns und wir hatten so ein kleines Fensterchen, wo auch so ein Fensterbrett auch war, da konnte man die Sachen rausreichen, wir haben auch Kaffee verteilt in bestimmten Bechern, die dafür da waren, auch Brote geschmiert, und unsere Mutter hat uns dann auch runtergeschickt, die zu geben ... Also mit Angst war das nicht verbunden, eher so mit den Geschichten, wo kommen die her, wo gehen die hin, und ich fand auch dieses Wort Durchreisende sehr schön."
Das klassische Pfarrhaus, wie man es bis in die 70er Jahre und vereinzelt auch noch heute antrifft, war ein offenes Haus. Ein Haus, in dem sich oft das Gemeindeleben abspielte - zumal in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als vielfach keine Gemeindehäuser für Kreise und Chöre zur Verfügung standen.
Reinhold Höppner: "Es hat sich auch eine Menge in unserer Wohnung abgespielt; gerade als ich noch sehr klein war, in Magdeburg-Vorort, das war ein kleines Pfarrhaus, und die Chorprobe war in unserer Wohnstube und die Übungen des Kirchenchores haben mich manchmal in den Schlaf gesungen."
Eckart von Vietinghoff: "Das Gefühl, zu kurz zu kommen, das habe ich so nicht gehabt."
Eckart von Vietinghoff, später Präsident des hannoverschen Landeskirchenamtes, über seine Kindheit und Jugend in Hameln:
"Das lag sicher daran, dass in einem so engen, menschenreichen Umfeld auch viele dabei sind, die freundlich mit einem umgehen. Das muss man auch so sehen. Es waren nicht nur die alten Damen aus dem Frauenkreis, die dann gern einem kleinen zehnjährigen Jungen mit blonden Haaren mal über den Kopf streicheln wollten, was ich natürlich nicht schön fand, da habe ich immer einen weiten Kringel drumgemacht, das waren ja auch viele Jugendliche. Also dieses Gefühl habe ich nicht gehabt."
Kindheit und Jugend im Pfarrhaus war aber nicht immer so weltoffen, fröhlich und gesellig. Friedrich Christian Delius beschreibt in seinem Buch "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde", wie sehr sich auch die christliche Theologie in dem Kopf des damals elfjährigen Pfarrersohnes ausbreiten konnte:
"Ich war Isaak, der Sohn, der Vater griff seinen Sohn und fasste das Messer, weil sein Vater ihm befohlen hatte, dass er seinen Sohn schlachtete, (...) ich war Isaak, gefesselt, ängstlich, gebeugt, gedrückt an den Vater Abraham. Isaak konnte es nicht fassen, der Vater ersticht ihn, ich konnte es nicht fassen: was für ein Gott, der so etwas befiehlt. Was für ein Vater, der ohne Widerworte einem solchen Befehl gehorcht. Ich zitterte, ich blutete, sah mich brennen auf dem Altar. Was denkt der schreckstarre Isaak? Was dachte ich? Wie konnte ich mich sicher und angenommen und aufgehoben fühlen, von der frohen Botschaft eines Herrn, der meinem frommen Vater ähnliche Prüfungen abverlangte, wie weit würde mein Vater gehen? Wäre ihm Gott lieber als seine Kinder?"
Das Pfarrhaus - der Kern der Kerngemeinde, ein kleines kirchliches Familienunternehmen. Was der Pfarrer nicht schaffte, übernahmen die "Frau Pastor" und die Pfarrerskinder - wie zum Beispiel Katia Saalfrank. Die "Super-Nanny" wuchs in den 70er Jahren in Wiesbaden auf.
"Wir waren schon auch alle eingebunden, wenn es irgendwelche Adventsnachmittage gab, dann mussten die Pfarrerskinder auch singen, natürlich waren wir im Kinderchor, ich war im Posaunenchor, ich habe Kindergottesdienst gemacht, also ich habe das auch in vollen Zügen genossen."
Christoph Bartels: "Ich habe die damalige Kirchenzeitung verteilt und wurde immer von den Hunden auf den Bauernhöfen verfolgt, das war immer mit Angst verbunden. Der Kirchenchor sang in unserem Wohnzimmer und wir versuchen nebenan einzuschlafen, und meine Mutter leitete die Kreise, also das war ein Familienunternehmen."
Eckart von Vietinghoff: "Nachher in dem Gemeindehaus war eine koksbeheizte Gasheizung, die mussten wir betreiben, sonntags morgens um sechs musste die angeschmissen werden, richtig volle Pulle, dann war eingeteilt, wer die anwirft und voll schaufelt, wurde ja alles mit der Schaufel gemacht."
Rezzo Schlauch: "Also, aber das hat man gern gemacht, wir waren halt Läutbuben, wir haben die Glocken geläutet, für den Gottesdienst am Sonntag, da gab es noch keine elektrischen Läutwerke, da haben wir an den Seilen gehangen, das hat Spaß gemacht."
Sieglinde Bartels hat aber nicht nur positive Erinnerung an ihre Kindheit im Pfarrhaus:
"Ich denke, es war sehr ambivalent. Es war schon sehr schön, aber es hatte auch Schattenseiten, man konnte kaum je seine Eltern so für sich haben oder so was wie eine Rückzugsmöglichkeit oder eine Nestwärme empfinden, das war weniger möglich gewesen."
Und Friedrich Christian Delius schreibt in seinem "Sonntagsbuch":
"Hilfesuchend sah ich zur Mutter hinüber (...) Sie fand meinen Blick, weil sie immer wieder in die Runde lächelte, aber sie schaute nicht so, wie ich es mir erhoffte, einem Lächeln, einem freundlichen Witz der Erlösung. Vielleicht war ich so verwegen, etwas von der Güte, mit der sie die kranken Kinder umsorgte und von der tröstenden Wärme zu erwarten, die sie abends beim Beten und Singen ausstrahlte, wenn sie mit den Melodien der Nachtlieder den innigen, liebevollen Ton der Geborgenheit traf. (...) Sie schien nicht zu merken, welche Nahrung ich mehr brauchte als das Brot; ihre Stimme, ihre Augen, eine Umarmung."
"Andreas Gryphius, Johann Christoph Gottsched, Christian Fürchtegott Gellert, Christoph Maria Wieland, Gotthold Ephraim Lessing, Georg Christoph Lichtenberg, Matthias Claudius, Friedrich Schleiermacher, August Wilhelm von Schlegel, Kuno Fischer, Jean Paul, Friedrich Wilhelm Schelling, Wilhelm Dilthey, Friedrich Nietzsche, Hermann Hesse, Albert Schweitzer, Gottfried Benn, Jochen Klepper, Arnold Ludwig Hohl, Friedrich Dürrenmatt, Christine Brückner, Klaus Harpprecht, Gabriele Wohmann, Friedrich Christian Delius."
Christel Köhle-Hezinger: "Das Pfarrhaus als Hort der Bildung: Ich denke, es gibt einen schönen Beweis, die kleine deutsche Literaturgeschichte von Heinz Schlaffer. Er fragt, was unterscheidet uns von anderen Literaturen in anderen Ländern und Kulturen, und ein für ihn wesentliches und zentrales Moment ist eben das evangelische Pfarrhaus, aus dem viele unserer Dichter und Denker kommen, das ist das größte Segment ganz sicher beruflich gesehen."
Nach Recherchen des Altkatholiken Johann Friedrich von Schulte stammten Mitte des 19. Jahrhunderts von 1600 prominenten Deutschen 861 aus einem evangelischen Pfarrhaus.
Der Protestantismus ist die Konfession des Wortes, der Hinwendung zur Bibel, des Ringens um die theologische richtige Interpretation. Und diese Ausrichtung wurde im Pfarrhaus zum allgemeinen Erkenntnisprinzip erhoben: Die Sprache wird zur Seele der Dinge.
Friedrich Christian Delius: "Ich habe da als Kind sehr unter diesen Verhältnissen zu leiden gehabt, aber ich denke auch, dass ich durch diese Art Erziehung und durch dieses Aufwachsen im Pfarrhaus und dem Konfrontiert-Sein mit dem Wort, mit dem Wort Gottes, was vertreten wurde durch den Vater, eigentlich diese Sensibilität für Sätze, für Worte, für Formulierungen entwickelt habe und eigentlich mein Oppositionsgeist sich so langsam geschult hat, einfach bestimmten Formeln zu widersprechen."
Sagt der Schriftsteller Friedrich Christian Delius:
"Und meine ersten Bücher, die sich so auseinandersetzen mit Unternehmersprache oder Politikersprache, ich erkenne darin heute auch die Rebellion gegen die verordneten Worte und damit auch die Sensibilität für die Wörter. Ich sehe das heute so, dass bei allem, was ich da wirklich abbekommen habe an Schäden, eben auch meine Qualitäten entwickelt habe und die Grundlagen dessen, was ich jetzt jahrzehntelang praktiziere, nämlich das Schreiben und das auch daher ganz stark fundiert ist."
Die große Predigtkultur des Protestantismus wurde im Pfarrhaus entwickelt und kultiviert - nicht nur durch theologisch-dogmatische Werke, sondern gerade auch durch schöngeistige Literatur. Fulbert Steffensky, ehemaliger Benediktinermönch, der 1969 zum Protestantismus konvertierte, kennt beide christlichen Pfarrhäuser:
"Es war auch der Ort der Bücher, wenn ich das mit dem katholischen Pfarrhaus vergleiche, da waren viele Madonnen oder Papstbilder, aber wenig Bücher. Wenn Bücher, dann erwartete Bücher, die Dogmatiken oder spirituelle Literatur, aber kaum Romane, das ist in evangelischen Pfarrhäusern immer anders gewesen, es war ein hoher Ort der Kultur."
Eckart von Vietinghoff: "Lesen, lesen, lesen. Jetzt kommt mein Vater aus einer großen Verlegerfamilie, und auch bei meiner Mutter war das gängig, es wird gelesen, und was wir nicht kaufen können, wird ausgeliehen, das ist das A und O."
Sieglinde Bartels: "Vor allen Dingen Literatur: mein Vater war in Literatur sehr beschlagen und hat mit uns darüber gesprochen, er hat immer wieder seine Bücher vermisst, die in Schlesien geblieben waren. Das war ein Bereich, den haben wir mitgekriegt und politische Diskussionen."
Rezzo Schlauch: "Oder wenn es dann ans Lesen ging, dann hat er neben dem Karl May auch mal ein anderes Buch gelesen: Versuch doch mal da reinzulesen. Dann kann ich mich daran erinnern: Mörike. Das ist doch Poesie, dann hat er mir diesen Künstlerroman Maler Nolten hingelegt, und schon war das was Anderes, oder die spannenden Novellen, aber nicht, dass er gesagt hat: Du musst."
Neben der Literatur war vor allem die Musik prägend für das evangelische Pfarrhaus - bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wie Katia Saalfrank bestätigt.
"Musik haben wir alle gemacht, damit sind wir aufgewachsen, und das ist gar nicht was, wo ich das Gefühl hatte, dass es mir vermittelt wurde, sondern etwas, was schon in mir war, das ist so das Gefühl, wahrscheinlich ist es auch sehr gefördert und geweckt worden was wir viel gemacht haben, wir haben viel gesungen (...) und dann spiele jeder ein klassisches Instrument, Klavier, Geige, Trompete, ich hätte fast gesagt, das Übliche. (...) mit der Musik habe ich nie aufgehört."
"Wenn irgendwo, dann findet die Idee der bürgerlichen Familie im Pfarrhaus ihre exemplarische Verwirklichung. Für die Pfarrfamilie ist das Pfarrhaus die Sinnwelt, aus der sich ihr das Leben erschließt; für die Kinder ist es der Maßstab, an dem sie ihre späteren Erfahrungen messen. Kein Pfarrerskind verlässt das Haus, ohne symbolisch immer wieder dorthin zurückzukehren. Das Pfarrhaus ist für seine Bewohner ein unverlierbarer Kosmos an Erfahrung und Erleben. Es ist mehr als ein Vorbild. Es ist Sinnbild unverwechselbarer Lebensidentität."
Schreibt der Theologe Wolfgang Steck.
Das Pfarrhaus prägt. Lange. Auch wenn sich Pfarrerskinder wie Friedrich Nietzsche oder Gottfried Benn ideologisch längst vom Pfarrhaus losgesagt haben und eher einem Nihilismus folgen, können sie sich ihren Wurzeln nicht entziehen. So schreibt Gottfried Benn über sein Elternhaus, in dem sein Vater und schon sein Großvater Pfarrer waren:
"Dort wuchs ich auf, ein Dorf mit 700 Einwohnern in der norddeutschen Ebene, großes Pfarrhaus, großer Garten. Das ist auch heute noch meine Heimat, obgleich ich niemanden dort mehr kenne. Kindheitserde, unendlich geliebtes Land. Eine riesige Linde stand vorm Haus, steht noch heute da, eine kleine Birke wuchs auf dem Haustor, wächst noch heute dort. Unendlich blühte der Flieder, die Akazien, der Faulbaum."
Katrin Wetzer: "Wir sind hier in Luthers Wohnhaus in Wittenberg, das immer erst so ein bisschen Verwunderung auslöst bei unseren Gästen, weil das doch ein Riesen-Anwesen ist, wer nach Wittenberg kommt, der meint, Luthers Haus müsste klein und bescheiden aussehen."
Katrin Wetzer führt eine Reisegruppe durch das Lutherhaus in Wittenberg: die Urzelle des evangelischen Pfarrhauses.
Katrin Wetzer: "Das wird dann das erste Pfarrhaus. Nachdem die Mönche ausgezogen sind, wird das Haus erst mal drei Jahre leer stehen, Leben zieht dann hier wieder ein 1525. Luther wird beispielgebend vorangehen, er wird heiraten, eine Familie gründen und bekommt später das Haus sogar geschenkt von seinem Landesherren, das heißt, das alte Kloster wird zum Wohnhaus."
Seine Frau, die ehemalige Nonne Katharina von Bora, bringt insgesamt sechs Kinder zur Welt. Sie nimmt später Studenten auf, betreut zeitweilig bis zu elf Pflegekinder, hat zehn Hausangestellte. Gäste kommen und gehen. In Luthers Haus halten sich oft 40 bis 50 Personen auf. Privatleben ist hier kaum möglich:
Katrin Wetzer: "Es gibt natürlich das Wohnzimmer, aber auch da weiß man, da wurde ein Großteil der Tischreden gehalten, so privat war es im Grunde auch nicht, ich denke, privat ist er selten gewesen. Es gibt ja sogar Kollegen, die ihn bedauern, dass er hier überhaupt keine Ecke zum Arbeiten hat, die sagen, es ist immer jemand da, der was von ihm will, der Mann hat nie Ruhe.
Also Luther ist ja der Meinung, die Pfarrer sollten eine Familie haben, damit sie sich besser einfühlen können in die Sorgen ihrer Gemeinde, und der Bugenhagen ist ja der Stadtpfarrer hier in Wittenberg und stellt eines der ersten Modelle dar: verheirateter Pfarrer mit Familie. Dieses Modell möchte man gern - ja heute sagt man - exportieren. Bugenhagen wird in den Norden geschickt. Bis nach Dänemark reichen seine Dienstreisen, und damit die Welt sehen kann, wie schön das ist: ein verheirateter Pfarrer mit Kindern, da muss er die ganze Familie mitnehmen. Das heißt: Die Frau fährt mit, die Kinder fahren mit. Jeder soll sehen: Das ist was ganz Feines."
Das evangelische Pfarrhaus wird exportiert - als Modell, auch nach Mecklenburg.
Besuch in dem Dorf Kladrum, östlich von Schwerin. Ein ehemaliges Pfarrhaus, das der Architekt Werner Teltscher vor einigen Jahren gekauft hat.
Zu Besuch im Kladrumer Pfarrhaus ist auch Christiane Schadewaldt. Die Germanistin aus Heidelberg, die ursprünglich aus Schwerin stammt, hat einen wunderschönen Bildband über die mecklenburgischen Pfarrhäuser und Pfarrgärten veröffentlicht.
Christiane Schadewaldt: "Wenn man hier vorne vor dem Pfarrhaus steht, erkennt man schon gleich, was das Typische von der Architektur ist: die Zweigliederung des Hauses, auf der einen Seite war der amtliche Teil, auf der anderen Seite der private Teil, und dies ist ein spätbarockes Pfarrhaus, man erkennt es auch an den Fledermausgauben, am Gesamtbau des Hauses, wunderschön finde ich diese Ziegeln und diese Fachwerksstruktur. Die Ziegeln wurden eigens hergestellt für die Pfarrhäuser; sie wurden im Winter im Wasser gelagert, damit der Frost sie erproben konnte, ob sie auch wirklich gut waren, damit das Pfarrhaus lange hielt."
"Der Herr ist mein Hirte", steht über der blau gestrichenen Haustür.
Christiane Schadewaldt: "Da gab es eine klare Gliederung im Dorf, das Haus des Lehrers durfte nicht so kostbar sein, war auch nicht so kostbar, wie das Pfarrhaus gebaut, man verwendete niemals Luxusmaterialien wie Marmor, aber man verwendete gute solide Baumaterialien, die auf eine lange Zeit hin angelegt waren. Marmor war verpönt, das gab es in adeligen Häusern. Als Diener Gottes zeigt man natürlich nicht Geld."
Genaue Vorschriften über die Baumaterialen, die in einem Pfarrhaus verwendet werden dürfen, gibt es bis heute.
"Ein klassischer Pfarrhausgarten hat sich in drei Teile gegliedert: Auf der einen Seite gab es den Blumen- und Nutzgarten, der wirklich sehr wichtig war; dann gab es die Streuobstwiese, da erkennen wir auch noch viele Birnenbäume, Äpfelbäume, Pflaumenbäume waren die Regel, man brauchte das Obst, um über den Winter zu kommen, und der dritte Teil war der Parkteil, in den sich der Pastor auch mal zurückziehen konnte, der jetzt nicht so öffentlich war für die Gemeinde."
Das Pfarrhaus in Kladrum wurde 1750 erbaut und fällt damit in eine Übergangsphase: bislang war der Pfarrer nicht nur Theologe, sondern zugleich Landwirt. Er lebte vom Zehnten, die die Pfarrleute zu entrichten hatten, vor allem von dem Pfarrland, das er verpachtete, aber auch selbst bewirtschaftete.
Christiane Schadewaldt: "Es gab hier in Mecklenburg so genannte Champagner-Pfarreien, die reiche Pfründe hatten, sehr viel Land drum herum, was sehr ertragreich war, und dann ging es dem Pastor auch sehr viel besser, und es gab auch wirklich sehr arme Pfarreien, die bitterarm waren."
Eine weitere Einnahmequelle waren die Sportel, Abgaben, die für kirchliche Handlungen bezahlt wurden.
Christel Köhle-Hezinger: "Es gab auch die Anmeldung zum Abendmahl. Und diese Anmeldung zum Abendmahl, da musste man am Sonnabend vor dem Gottesdienst dann ins Pfarrhaus gehen, da hat man dann Naturalien gebracht, Geld bezahlt, und das hat dann die Frau Pfarrer gemacht."
Berichtet die Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger.
"Die Kirchenleitung hatte immer Angst, dass der Pfarrer zu sehr verbauert, es gibt richtig dieses Wort, dass die Pfarrer nicht verbauern sollen, also nicht mit ihrem Weinberg und ihrem Acker eins werden, und ihrer Bienenzucht, und ihre Apfelbäume zu sehr lieben, die sie gepflanzt haben."
"Wir armen Pfarrern auf den Dörfern können nicht immer studieren, dieweil wir mit der beschwerlichen Mühe des Ackerbaus beladen sind".
Schreibt der Verfasser des ersten deutschen Gartenbuches, Pastor Johann Peschelius 1597. Doch die Pfarrer ziehen sich - so weit es geht - immer mehr von der körperlichen Arbeit zurück und konzentrieren sich auf das Geistig-Geistliche. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts erscheint eine Vielzahl an landwirtschaftlichen Lehrbüchern und Ratgebern, die von Pastoren verfasst wurden. Es dauert aber noch einmal bis ins 18. Jahrhundert, bis sich die Pfarrer fast ganz aus der praktischen Landwirtschaft zurückziehen.
Christel Köhle-Hezinger: "Aber wir können das nicht von der gesellschaftlichen Entwicklung ablösen. Das ist immer nur ein Spiegel, der kleine Kosmos Pfarrhaus ein Spiegel vom großen Kosmos draußen in der Welt, und die Geldwirtschaft hält jetzt zunehmend Einzug in der gesamten Gesellschaft. Und da drängen nun die Pfarrer drauf, dass sie einen festen Sockel von Geldbesoldung kriegen. Da wird auch schnell die Spur der Aufklärung sichtbar, dass die Pfarrer sich genieren, es ihnen nicht mehr passend scheint, dass sie auch Ökonomen sind."
Die evangelischen Pfarrer wurden im preußischen Staat zu landesherrlichen Beamten. Allerdings:
Christel Köhle-Hezinger: "Es blieb immer noch dieser Naturaliensockel, dass, wenn die Leute geschlachtet haben, wenn Feste waren, dass man dem Pfarrer ins Pfarrhaus Nahrung gebracht hat, und das war auch eine Art Huldigung, wie den weltlichen Herren hat man den geistlichen Herren etwas gebracht, das hat sich bis ins 20. Jahrhundert in vielen ländlichen Regionen erhalten, dass man eine Gans oder eine Schlachtsuppe gebracht hat."
"David Fabricius, geb. 1564, Pfarrer und Astronom
Johann Valentin Andreae, geb. 1586, Pfarrer, Mathematiker und Astronom;
Phillip Matthäus Hahn, geb. 1739, Pfarrer und Begründer der feinmechanischen Industrie in Württemberg.
Johann Heinrich August Duncker, geb. 1787, Pfarrer und Optiker
Wilhelm Zimmermann, geb. 1807, Pfarrer und Historiker;
Heinrich Höhn, geb. 1877, Pfarrer und Volkskundler;
Christian Ludwig Brehm, geb. 1787, Pfarrer und Ornithologe."
Brehms Sohn, Alfred Edmund, trat in die Fußstapfen seines Vaters und verfasste in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts das berühmte Nachschlagewerk "Brehms Thierleben".
Hagen Jäger: "Das Eigenartige ist eben, dass Pfarrer sich nicht nur mit Theologie beschäftigt haben, sondern sich zum Teil auch ganz andere Wissensgebiete rausgesucht haben, in dem sie ihr Wissen vertieft haben."
Hagen Jäger ist wissenschaftlicher Leiter des Pfarrhausarchivs in Eisenach.
"Das kann Zoologie gewesen sein, Botanik spielt eine wichtige Rolle, Obstbau, Landwirtschaft, das hängt auch mit ganz praktischen Erfordernissen zusammen, aber auch in verschiedenen künstlerischen Bereichen, und das gilt auch für die Kinder. Es sind eine ganze Menge Pfarrerssöhne und Töchter aus dem Pfarrhaus hervorgegangen, die keine Pfarrer wurden, aber dann Anregungen, die sie aus dem Hause mitnahmen, beruflich umgesetzt haben und da zum Teil auch Bedeutendes geleistet haben."
Warum sich die Pfarrer so intensiv der wissenschaftlichen Arbeit zuwandten, dafür hat Christel Köhle-Hezingers ihre eigene These:
"Was mich am meisten beeindruckt, dass im Pfarrhaus eine große Einsamkeit geherrscht hat. Und ich denke, diese Einsamkeit rührt daher, dass die Obrigkeit immer drauf gesehen hat, dass die Pfarrer sich nicht gemein machen mit dem Volk, dass sie ihre Amtstracht tragen, sie waren die Herren und sie waren im Ort die einzigen Gebildeten, die einzigen Akademiker, das verpflichtet sie, standesgemäß zu leben. Und was tut dann der Gute den ganzen Tag? Er muss sich verkrümeln in seinem Studierzimmer, er muss lesen und studieren, es gab ja nicht diese ganzen seelsorgerlichen Aktivitäten, die Jugendarbeit, wie heute. Er war also sehr eng im Korsett seines Standes eingebunden, ich denke, da war es für die eine richtige Befreiung, andere Interessen ausleben zu können, die wissenschaftlich durch die Aufklärung legitimiert waren, als guter Seelsorger auch in anderen Bereichen wirken zu dürfen."
Bis zur Weimarer Republik war die evangelische Kirche eine Staatskirche. Seit der Reformation war der Territorialfürst zugleich der oberste Kirchenherr. Das bedeutete: auch das Pfarrhaus und der Pfarrer waren in jedem Dorf so etwas wie Repräsentant der Obrigkeit.
Christel Köhle-Hezinger: "Das war ein großes Problem, er musste es sein, Thron und Altar war eine Einheit, man denkt dann immer an Bismarck und den Kaiser, wenn man Thron und Altar sagt, aber das hat eben bis in die kleinste Dorfkirche hinein Spuren gezeitigt, es wurde gebetet für die Herrscher, und wenn man wusste, der hatte eine Mätresse, dann musste man auch für das Luder mit beten, die Gesetze wurden verkündet von der Kanzel und es wurde gesammelt für das Regierungsjubiläum, und es war für die Leute in der Wahrnehmung, also auch im mentalen Bereich, eine komplette Einheit."
Werner Teltscher, der das alte Pfarrhaus in Kladrum gekauft hat, zeigt auf ein besonderes Beispiel der Nähe zwischen Thron und Altar:
"Wir haben noch was Interessantes gefunden, und zwar ist das hier das Eiserne Kreuz genagelt, und das bedeutet, dass die Leute, die einen Nagel dort einschlagen durften, Geld gespendet haben für den Ersten Weltkrieg. Das ist 1916 entstanden, und so wurde eben für den Krieg Geld gesammelt."
Christel Köhle-Hezinger: "Wenn wir uns klar machen, dass wir bis 1919 eine Staatskirche hatten, also Gottesdienstbesuch, Abendmahlsbesuch im protestantischen Bereich ist Pflicht, wird kontrolliert, wird bestraft mit Geld, früher noch mit Ehrenstrafen, mit Brandmarkungen, oder mit dem Hurenstuhl in der Kirche für uneheliche Geburten, das ist in eins geflossen in den Wahrnehmungen der Menschen, und das war sicher auch eine große Belastung für das Pfarramt."
Gehörte das Pfarrhaus bis 1919 zum obrigkeitlichen Staat, so reagierten die meisten evangelischen Pfarrer eher irritiert und distanziert auf die Demokratie der Weimarer Republik. Im Nationalsozialismus meinten viele Pastoren anfangs ein Wiederaufleben des nationalkonservativen Deutschlands erkennen zu können. Doch auch als Hitler sein wahres Gesicht zeigte, waren die wenigsten Geistlichen zum Widerstand bereit.
Deutlicher artikulierten viele Pfarrer ihren Protest gegen die Obrigkeit in der DDR nach 1949. Vor allem in den 50er Jahren bildete sich ein scharfer Gegensatz zwischen dem sozialistischen Staat und der evangelischen Kirche heraus.
Wer in der DDR im Pfarrhaus wohnte, der wurde gesellschaftlich ausgegrenzt, berichten Reinhard Höppner und Christoph Dieckmann, Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit".
Christoph Dieckmann: "Für mich sah das konkret so aus, dass ich von Anfang an, seit der 1.Klasse der Außenseiter gewesen bin. Ich war als einziger nicht in der Pionierorganisation Ernst Thälmann, trug nicht das blaue Halstuch und nicht den glänzenden Klappausweis, ich ging nicht zur Mai-Demonstration, ich versaute also immer die 100-Prozent-Statistik."
Reinhold Höppner: "Ich bin dann ja auch nicht zur Jugendweihe gegangen, und wenn man dann einen Schulaufsatz schreiben muss über die Jugendweihe unter der Überschrift 'Der schönste Tag in meinem Leben' und ich nicht weiß, was ich schreiben soll, und ich für diesen Aufsatz eine Fünf kriege, dann ist das schon ärgerlich."
Christoph Dieckmann: "Ich erinnere mich noch an den unvergesslichen Satz der Kreisschulrätin Richter, die kein Kirchenkind zum Abitur zuließ, und hätte es den Durchschnitt 1,0 gehabt. Sie sagte mir: Sie tun nichts fürs Volk, da tut die Volksmacht auch nichts für sie."
Christoph Klessmann: "Das Interessante scheint mir zu sein, dass das nicht einfach eine Opposition war."
Christoph Klessmann, Historiker am Zeithistorischen Institut der Universität Potsdam.
"Sie waren ein resistentes Milieu, was auch mit diesen bildungsbürgerlichen Traditionen zu tun hat, das die Partei nicht so schnell, wie sie gewollt hätte, kleingekriegt hat. Sie haben stärker als andere Bereiche eine Eigenständigkeit bewahrt und das hängt dann zusammen mit der Rolle der evangelischen Kirche."
Christoph Dieckmann: "Man muss sagen, dass der ideologische Druck der DDR manches zusammenhielt, auch an Bürgerlichkeit, was sonst - wie im Westen - schon eher gebröckelt wäre. Viele Pfarrhäuser empfanden sich als Zitadellen des geistigen Bürgertums."
Christoph Klessmann: "Ich glaube, es ist ein typisches Element für die DDR, also für Ostdeutschland, dass unglaublich viele Pfarrerskinder in die Politik gegangen sind. Das hat natürlich Gründe. Das waren diejenigen, die schon so ein bisschen Einübung hatten in öffentliche Darstellung, in demokratische Prozeduren, und die eben auch nicht alle Dissidenten und Oppositionelle waren, die aber zumindest politisch in der Regel nicht kompromittiert waren."
Das Pfarrhaus war ein politischer Freiraum, aber für die Bewohner - in Ost wie West - auch mit Einschränkungen verbunden.
Christoph Dieckmann: "'Scheiß-Kirche' habe ich des öfteren gedacht, weil mein Vater mir nicht gestattete, der Fußball-Schülermannschaft beizutreten, die spielten nämlich sonntags vormittags und da hatte das Pastorenkind in der Kirche zu erscheinen."
Friedrich Christian Delius: "Ich war nicht nur der älteste von vier Geschwistern, sondern ich wusste auch, wenn ich durchs Dorf ging oder wenn ich mit den Dorfjungen spiele, dass ich eine besondere Rolle habe als jemand, dass man auf mich besonders guckt, und das macht einen natürlich nicht gerade freier oder lebhafter oder fröhlicher."
Katharina Saalfrank: "Ich habe mich den ganzen Tag in der Woche sehr belastet gefühlt, und wollte am Samstag und Sonntag ausschlafen, und das ging dann nicht. Samstag war großer Familienaufruhr, und sonntags war Gottesdienst und davor das große Frühstück. Dann war das schon für meine Begriffe sehr früh. Gottesdienst war Pflicht, das haben meine Eltern heute auch verdrängt."
Friedrich Christian Delius: "Das bekommt man von zwei Seiten zu hören: einmal von den Eltern, die einem das immer wieder sagen, und dann von den Leuten aus dem Dorf, die einen damit so ein bisschen hänseln, und der berühmte Spruch: Pfarrers Kinder, Müllers Vieh, geraten selten oder nie, den hörte man jeden dritten Tag, so kommt es mir heute vor, also war man darauf aus, den Spruch zu widerlegen. Vielleicht war das keine schlechte Motivation fürs Leben, aber jedenfalls war man dieser Erwartung immer ausgesetzt."
"Der Teufel wohnt unter der Tempelschwelle. Pfarrkinder geraten oft so schwierig, weil es so schwer ist, das Evangelium ohne Gesetzlichkeit zu leben, fromm zu sein, ohne die Freiheit zu verlieren. Der natürliche, notwendige Widerstand der jungen Generation gegen die ältere gerät, da die Dinge im evangelischen Pfarrhaus stilisiert werden, zum Widerspruch gegen die Sache, die hier vertreten wird: im Vater trifft das Kind leider den Pfarrer."
Schreibt der Pastor und Schriftsteller Johann Christoph Hampe.
"Der Tisch ist gedecket und alles bereit, sang ich, die rechte Hand in der Vaterhand, die linke an der Bruderhand. Oh seht, was die Liebe des Vater uns beut, singend hörte ich unsern Gesang, oh schmecket und sehet, wie freundlich er ist. Wir standen hinter den Stühlen um den Tisch herum, fassten einander locker die Hände und schweißten uns zum Chor zusammen, um das Tischgebet am Sonntag zur Feier des Bratens und des Gottes zu singen, der niemals und nirgends die Seinen vergisst. Die Wörter steckten voller kleiner Widerhaken, und ich sang kräftig dagegen an, oh seht, was die Liebe des Vaters. Ich sah auf den Tisch und wusste, damit war der Vater im Himmel gemeint, und nicht der Vater neben mir, aber doch wieder der Vater neben mir, der mit seiner Arbeit die Liebe des Vaters im Himmel verkündete, ihn vertrat und damit sein Geld verdiente."
"Bescheiden in den Falten des Talars" - So lautet der Titel eines Buches über 50 Jahre Pfarrfrauenleben. Autorin ist die Kulturwissenschaftlerin Andrea Hausser.
Andrea Hausser: "Man kann sagen, bis in die 60er Jahre hinein war Pfarrfrau-Sein ein Beruf, das heißt, die Pfarrfrau musste das Amt ihres Mannes mittragen, und mitgestalten und auch mitarbeiten in den verschiedensten Dimensionen des Gemeindelebens, sie hatte eigentlich nicht die Chance, eigene Interessen zu verfolgen."
Anne Delfenthal ist seit 35 Jahren mit dem Pfarrer Wolfgang Delfenthal verheiratet. Als junge Frau ging sie mit ihrem Mann in eine kleine Gemeinde in der Lüneburger Heide. Dass sie ihrem Mann als Pfarrfrau zur Seite stehen wollte, war für sie keine Frage:
Anne Delfenthal: "Es war klar, weil ich mir das gewünscht habe, ich bin schon von Kindesbeinen an in der Landeskirche zu Hause gewesen, und ich war froh, dass ich meinen Beruf als Krankenschwester aufgeben konnte und bin mit Leib und Seele 20 Jahre Pfarrfrau gewesen. Ich war eingebunden in diese Gemeinde, es war mein Leben."
Andrea Hausser: "Sie mussten den Frauenkreis leiten, den Bibelkreis leiten, sie mussten im Pfarrhaus ständig präsent sein und ansprechbar sein, also das Pfarrhaus war eine Art Informationsbörse, oft war sie auch im Chor tätig, auf jeden Fall einen maßgeblichen Teil der Gemeindearbeit hat sie mitgestaltet."
Eine Pfarrfrau konnte fast alles sein, nur sexy sollte sie möglichst nicht sein. Eher unauffällig, bescheiden, zurückhaltend. So heißt es in einer dienstrechtlichen Anweisung:
"Der Pfarrer soll sich bei der Wahl seiner Ehefrau bewusst sein, dass er mit seinem Hause eine besondere Stellung im Leben der Gemeinde einnimmt."
Andrea Hausser: "Auch solche Sachen dass man kein Lippenstift tragen durfte als Pfarrfrau, sich nicht modisch kleiden durfte, immer diese Beobachtung von der Gemeinde, ob man sich adäquat als Frau verhält."
Die Kirchenleitung legte Frauen, die berufstätig waren, massiv nahe, nach der Heirat und der Ordination ihres Mannes ihren Beruf aufzugeben.
"Der Pfarrer ist verpflichtet, auf Verlangen dahin zu wirken, dass die Ehefrau um seines Dienstes willen von der Ausübung ihres Berufes absieht."
Anne Delfenthal: "Das war für mich auch vollkommen selbstverständlich, weil ich wusste, ich gehöre da an die Seite meines Mannes. Ich denke schon, es ist ein großer Mangel, dass das Pfarrhaus nicht mehr so ist, wie es damals war und dass es auch manche Schwierigkeiten gibt, dadurch dass Pastorenehepaare auch getrennte Wege gehen, aber das wäre für mich nicht in Frage gekommen. Ich habe geheiratet und habe dieses Amt mitgeheiratet, das habe ich gar nicht reflektiert, das war einfach so."
In den 70er und 80er Jahren verändert sich die Rolle der Pfarrfrau: Die Landeskirchen erlauben eine Berufstätigkeit. Zugleich ziehen die ersten Pastorinnen ins Pfarrhaus ein.
Viele Gemeindemitglieder begreifen anfangs nicht so recht, dass die neue Pastorin nicht die Pfarrfrau ist. Nicht nur immer mehr Pastorinnen ziehen mit ihrem Männern in die Pfarrhäuser; gleichzeitig professionalisieren sich seit den 70er Jahren die Gemeinden: Diakone werden für die Kinder- und Jugendarbeit eingestellt; Kirchenmusiker übernehmen die Chorarbeit.
Andrea Hausser: "Das hat natürlich die Rolle der Pfarrfrau wieder verändert, weil vorher hatte sie ja eine ziemliche Kompetenz- und Machtposition, und indem jetzt eben andere qualifizierte Kräfte rein kamen, die sich auch nicht reinreden lassen wollten, war das auch wieder eine Beschneidung der Pfarrfrauenrolle."
Das hat auch Anne Delfenthal zu spüren bekommen. Als ihr Mann nach 20 Jahren vom Dorf in eine Kleinstadt-Gemeinde wechselt, ist für sie als Pfarrfrau kein Platz mehr.
Anne Delfenthal: "Das war für mich ganz schlimm, weil ich einfach uns als Pastorenehepaar zusammen gesehen habe. Da bin ich in eine heftige Krise gekommen, weil ich diesen Beruf für mich als Pfarrfrau nicht mehr ausüben durfte. Da waren erheblich Blockierungen. Damals war das für wie in die Arbeitslosigkeit geschickt zu werden. Das war für mich ganz schwer."
Eigentlich sehnt sich Anne Delfenthal die vermeintlich heile Welt des alten Pfarrhauses zurück:
"Ich wünschte mir wieder etwas mehr, weil ich denke, in dieser Zeit der großen Umbrüche und Einsamkeit wünschen sich die Menschen auch einen Ort, wo sie vielleicht das Gefühl haben, da können wir hinkommen, da ist noch ein Stück heile Welt, wo man Geborgenheit findet und da glaube ich, zerbricht einfach was."
Die heile Welt war gestern. Aber so heil war die Welt auch im Pfarrhaus nicht. Ehekrisen im Pfarrhaus gab es immer schon. Doch seit den 70er Jahren steigen dann die Scheidungszahlen auch im Pfarrhaus rapide an. Heute haben sie den gesellschaftlichen Durchschnitt erreicht.
Andrea Hausser: "Es kam zu sehr vielen Scheidungen dadurch, dass die Frauen berufstätig waren und nicht mehr automatisch alles übernommen haben, Messiasphänomene des Pastors nicht mehr tragen wollten."
Also die pastorale Haltung, sich selbst für unfehlbar und moralisch rein zu halten.
"Ich denke, da ist so eine Prozess in Gang gekommen, wo die Pfarrfrau sich von einem Beruf hin zu einer Frau an der Seite des Pastors entwickelt hat und ein eigenständiges Leben beansprucht hat."
Nicht unerheblich an der neuen Bereitschaft zur Scheidung im Pfarrhaus dürfte auch das geänderte Scheidungsrecht gewesen sein, meint Pastor Burkhard Kindler:
"Es war früher so: Das gab es ja noch die schuldhafte Scheidung, dass der Pastor möglichst in den Akten nicht der Schuldige war, dann war er weg, der wurde rausgeschmissen, und ich meine, wir haben '77 das Schuldprinzip ersetzt durch das Zerrüttungsprinzip und da war es natürlich für die Kirche etwas schwieriger, Schuld festzustellen, und da kam dann die Reaktion: das wollen wir auch gar nicht mehr."
Denn wurde der Pfarrer früher schuldhaft geschieden, folgte die sofortige Entlassung aus dem Dienst - mit der Konsequenz, dass sowohl er als auch seine Ex-Frau zunächst ohne Einkommen da standen.
Burkhard Kindler hat als Pfarrer eine Scheidung selbst durchlitten - nach dem neuen Scheidungsrecht:
"Meine Frau ist ausgezogen, die hatte gemeint, mit einem anderen glücklicher zu werden. Ich musste mich dann offenbaren der kirchlichen Obrigkeit, dass ich alleine bin, meine Frau weg ist, und dann hieß es: Wer geschieden ist, der geht, egal, was da war, wir fragen nicht nach schmutziger Wäsche. Der Pastor, den das betrifft, der geht. Und damit fing das Problem an, denn die, die mich da als Pastor erlebt haben, meine erste Gemeinde, die wollten mich nicht gehen lassen, und ich wollte auch gar nicht gehen."
Scheidung im Pfarrhaus, das Thema haben die Landeskirchen bis vor wenigen Jahren nur mit spitzen Fingern angefasst.
Burkhard Kindler: "Ich wurde ja auch nicht versetzt, ich wurde massiv unter Druck gesetzt, zu gehen, man hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt: Du gehst oder es gibt richtig Ärger. Ich habe keine Akte in der Hand, keine Versetzungsverfügung, ich habe nichts."
Die einzige Begründung vom Personalchef, vom Landessuperintendenten und dem damaligen hannoverschen Landesbischof Horst Hirschler:
Burkhard Kindler: "Wir machen das immer so, wir wollen keine schmutzige Wäsche waschen, wir haben uns entschlossen als Kirchenleitung, immer so zu handeln, damit wir nicht in die Gefahr geraten, bewerten zu müssen."
Nach monatelangem Suchen fand Kindler - als allein erziehender Vater - dann endlich eine neue Gemeinde.
Burkhard Kindler: "Ich habe das immer als Bestrafung gesehen, und ich habe das nie anders interpretieren können, und die Leute, denen so was begegnet, die Gemeindeglieder, für die ist das auch Bestrafung. Da können sie reden, wie sie wollen, das ist so: Der ist bestraft, weil er geschieden ist."
Das evangelische Pfarrhaus droht langsam zu verschwinden. Zum einen aus Kostengründen. So besaß die mecklenburgische Landeskirche 1945 noch 550 Pfarrstellen mit den entsprechenden Häusern; heute sind es weniger als die Hälfte: noch 200 Pfarrhäuser werden von Pastoren bewohnt. Andreas Flade, Sprecher der mecklenburgischen Landeskirche:
"Viele Kirchgemeinden bestehen ja heute aus mehreren Kirchgemeinden - früher waren das mehrere Kirchgemeinden, und es gibt dann im Bereich einer Kirchgemeinde manchmal noch mehrere Pfarrhäuser. Die Aufgabe ist heute, ein Pfarrhaus zu erhalten und dafür etwas zu tun, und wenn dann in einem Pfarrhausensemble das Gemeindeleben stattfindet, dann ist das Ziel erreicht. "
Seit 1989 musste die Landeskirche auch 40 Prozent ihrer Stellen streichen; immer weniger Pastoren sind für immer mehr Gemeinden zuständig - und damit immer seltener im Pfarrhaus anzutreffen. Viele Pfarrfrauen oder Pfarrmänner sind zudem berufstätig; immer mehr Pastoren leben auch als Single im Pfarrhaus.
Andreas Flade: "Es hat nicht mehr den Charakter wie früher, dass man oft im eigenen Dorf zu Fuß zum Pastor laufen konnte, sondern man muss sich heute auf den Weg machen, mit dem Auto normalerweise."
Vor allem in den Innenstadtgemeinden steht die Residenzpflicht, also die Vorgabe, dass der Pastor vor Ort im Pfarrhaus wohnt, zur Disposition. Denn in Innenstädten wie zum Beispiel Göttingen befinden sich zwar die fünf Altstadtkirchen - alle in Sichtweite. Aber die Wohnsituationen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten radikal verändert, berichtet Pastor Gerhard Weber:
"Die Wohnbevölkerung ist aus der Innenstadt ausgezogen in die Vorort-Bezirke. In der Innenstadt ist das ein Problem, weil die Menschen gar nicht mehr da wohnen. Das sieht man auch an den Gemeindegliederzahlen im Innenstadtbereich, die stark abgenommen haben."
Statt auf Bewohner trifft man abends und nachts eher auf Discogänger und Kneipenbummler - nicht selten betrunken und lärmend. Für die Pfarrhausfamilie in der Innenstadt eine Zumutung, meint Gerhard Weber:
"Als Pfarrer ist man gezwungen, weil man eine Residenzpflicht hat, da zu wohnen, jeder andere würde wegziehen, und so ist ja auch in der Innenstadt, das Wohnungen kaum noch da sind. Da sind Arztpraxen, Geschäfte, die da sind, aber Familien mit Kindern, die würden nicht in dem Bereich Wohnungen suchen."
Kein Wunder, dass man gerade in vielen städtischen Pfarrhäusern keine Pastoren mehr antrifft.
Hausser: "Es ist in Bremen zum Beispiel so, dass nur noch die wenigsten Pastoren im Pfarrhaus leben. Die haben ihre Residenzpflicht aufheben können, und von daher ist das Pfarrhaus auch nicht mehr der zentrale Ort innerhalb der Gemeinde, wo sich vieles abspielt."
Gerade die jüngeren Pfarrer möchten gern Arbeit und Privatleben stärker trennen und im Pfarrhaus nicht permanent im Dienste der Kirche stehen.
Andreas Flade: "Im Blick auf die Pfarrhäuser haben wir eine Entwicklung hinter uns, die anderen Landeskirchen noch blühen könnte."
Zu dieser Entwicklung gehört auch der Verkauf zahlreicher Pfarrhäuser an Privatpersonen wie Werner Teltscher, der das alte, halb verfallene Pfarrhaus in Kladrum gekauft hat mit der Zusage, einen Raum für die Gemeinde zur Verfügung zu stellen.
Werner Teltscher: "Ein Haus, das diese Geschichte hat, diese Tradition, wieder zum Leben zu erwecken, das ist eine Genugtuung, ein Zurückbringen von Kulturgut zu einer Gesellschaft, die das manchmal nicht zu würdigen weiß. Das Haus ist wie eine liebevolle Mutter, die einen umarmt. Alles hat seine Markierungen, das Haus umarmt einen, und deshalb fühlen wir uns so wohl hier. Und dadurch, dass wir die Atmosphäre auch nicht kaputt gemacht haben mit modernen Möbeln, wir haben versucht, das Haus so zu halten wie es ist. Wir haben ihm ein Facelifting gegeben, und ich glaube, es ist dankbar."
Es ist vielleicht dankbar, dass es überlebt hat - aber eben nicht als Pfarrhaus.
Fulbert Steffensky: "Es gibt das Haus kaum noch; es gibt die Pfarrfrau in diesem Sinn nicht mehr, Pfarrerskinder sind nicht mehr unterscheidbar von den Kindern des Schmiedes, und es gibt auch die alten Gewohnheiten immer weniger, der Pfarrer ist ein viel beschäftigter Mensch, atemlose Menschen."
Sagt der Theologe Fulbert Steffensky. Auch Reinhard Höppner weiß um den Niedergang des evangelischen Pfarrhauses, aber:
"Ich glaube, dass man das, was wir da als Botschaft zu vermitteln haben, nicht nur durch Worte vermitteln kann, sondern dass man das durch Leben vermitteln muss, und das ist ohne eine gewisse Offenheit, ohne dass man sein Leben mit einbringt, ganz schwer zu transportieren. Ich glaube, dass manchmal die Überzeugungskraft, die jetzt Pfarrern oder Verkündigern des Evangeliums fehlt, ein bisschen was damit zu tun hat, das als Job zu machen und daneben ihren Privatraum zu behalten, das ist problematisch und es ist ja so, gerade in unserer säkularisierten Welt, da ist ja die Frage, was überzeugt: da überzeugt nur das Leben, und da ist es beispielsweise auch gut, dass ein paar Nicht-Christen nicht in die Kirche kommen, aber ins Pfarrhaus kommen, und da Ansprechpartner finden und ein Gefühl dafür bekommen: da ist doch eine Atmosphäre, da ist irgendwas, was neugierig macht."
Fulbert Steffensky: "Man könnte ja sagen: Häuser insgesamt sind im Verschwinden, früher gab es die großen Herrenhäuser, es sind Wohnungen geworden, weil Langfristigkeit im Verschwinden ist, kurzfristiger Wechsel, IKEA-Möbel, eigentlich eher das Zelt als das Haus. Wenn ich daran denke, auch die Langfristigkeit in der Symbolik, ich denke immer, zu einem Pfarrhaus gehört der Nussbaum oder die Linde, der da vorsteht, das heißt ein Symbol des ruhigen Wachsens, aber auch der langen Zeit. Wer wohnt von uns heute noch in Häusern? Wer wohnt in einem Gebilde, in dem die Kinder noch wohnen werden oder die Enkelkinder oder wo die Dielen knarren?"