Das fruchtbare Umfeld

Von Michael Frantzen · 26.06.2006
1,3 Kinder bringt jede Frau im Bundesdurchschnitt zur Welt, in Cloppenburg sind es 1,9. "Ich habe es sogar schon mal auf Seite Eins der "Bild"-Zeitung gebracht", amüsiert sich CDU-Bürgermeister Wolfgang Wiese. 33.000 Einwohner hat seine Stadt, sieben katholische Kirchen, eine evangelische, kein Theater.
Eine erzkatholische Gegend, "unsere Frauenarbeitsquote ist niedrig", sagt der Bürgermeister. Und dann sind da noch die Russlanddeutschen. 6500, jeder fünfte Cloppenburger. "Viele Russlanddeutsche hier sind Freikirchler oder Baptisten", erklärt Heinrich Pister, der Aussiedler-Seelsorger. "Die leben die Bibel im Wortlaut und lehnen Verhütungsmittel ab." Und deshalb: Kinder.

Wolfgang Wiese: "Ich denke, es geht um die Kinder."

Korrekt.

Wolfgang Wiese: "Um die vielen Kinder, denk ich mal."

Korrekt.

Heinrich Pister: "Wir haben eben fünf Kinder. In unser Eheleben. Alles normal!"

Aber auch nur in Cloppenburg.

Bernd Bergmann: "Wir sind die Abteilung mit den meisten Geburten schon."

In Cloppenburg.

Stephan Jürgens: "Es gibt auf jeden Fall mehr Taufen als Beerdigungen."

Und das in Deutschland?! Wahnsinn.

Mechthild Brinkmann: "Es ist ein ländlicher Raum."

So so.

Mechthild Brinkmann: "Aber es ist auch keine heile Welt."

Cloppenburg also! Niedersächsische Provinz. Rund 32.000 Einwohner. Keine Oper, kein Theater, keine Universität, dafür aber sieben katholische Kirchen, eine evangelische - und elf Kindergärten! Das kommt nicht von ungefähr: Cloppenburg ist "Babyboomtown." In keiner anderen Stadt in Deutschland werden so viele Kinder geboren: 1,9 Prozent beträgt der "Fruchtbarkeits-Index", wie es im Behörden-Deutsch immer so schön heißt, im Bundesdurchschnitt sind es nur schlappe 1,3 Prozent.

Ist schon seit Jahren so und ungefähr genauso lange rätselt die halbe Nation, warum sie ausgerechnet in Cloppenburg so fruchtbar sind; fahnden Spiegel und Co nach dem "Cloppenburg-Faktor."

Das mit dem "Cloppenburg-Faktor" ist ganz nach dem Geschmack von Wolfgang Wiese. Dem CDU-Bürgermeister steht zwar noch dieses Jahr eine Wahl ins Haus, doch Sorgen um die Wiederwahl muss sich der gelernte Architekt nicht machen: Die Christdemokraten holen hier noch regelmäßig Zweidrittelmehrheiten. Aber positive Publicity a‘ la "Cloppenburg - die jüngste Region Deutschlands" kommen immer gut.

Der alerte CDU-Mann jedenfalls hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, warum das mit dem Kinderkriegen in Cloppenburg so gut klappt.

Wolfgang Wiese: "Die Baulandpreise sind noch so gestaltet, dass auch junge Familien gerade sich diese Baugrundstücke leisten können. Wir liegen immer noch so um die fünfzig Euro: Voll erschlossen; Wohnbaufläche in den Neubaugebieten. Das heißt, ich hab die Möglichkeit mir ein Grundstück zu kaufen und hab dann auch noch das Geld, mir ein Haus zu bauen. Also, ich glaub schon, dass, wenn insgesamt der Preis unten gehalten werden kann, es vielleicht auch mehr Familien gibt, die sich für ein Kind mehr entscheiden. Ich selbst habe fünf Jahre in Stuttgart gewohnt - mitten in der Stadt. Und da wäre es uns schwer gefallen - wir haben jetzt drei Kinder - auch tatsächlich drei Kinder da groß zu ziehen."

Endlich gefunden: der Cloppenburg Faktor. Oder doch nicht?

Heinrich Pister: "Es ist ja schön, dass man Grundstücke vergibt und dass es verschiedene Angebote gibt. Aber es ist doch einmal eine Tatsache... es ist mal so: Der größte Anteil an der Geburtenrate kommt aus Familien der Russlanddeutschen."

Meint Heinrich Pister, der Aussiedler-Seelsorger der evangelischen Kirche im Kreis Cloppenburg. Der 54-jährige ist einer von 6500 Spätaussiedlern hier, macht ein gutes Fünftel der Bevölkerung. Aber das hängen der Herr Bürgermeister und die anderen nicht gerade an die große Glocke, ärgert sich Pister.

Dabei sprechen die Zahlen doch eine klare Sprache: Ende der 80er kamen die ersten Russlanddeutschen ins Oldenburger Münsterland und seitdem ist die Bevölkerungszahl sprunghaft angestiegen: Allein bis Ende der 90er um ein Drittel. Kann doch kein Zufall sein. Pister selbst zog zusammen mit seiner Frau und den fünf Kindern 1994 nach "Cloppenburch", wie die Einheimischen immer sagen - und hat sich laut eigenem Bekunden "von der ersten Sekunde an zu Hause gefühlt."

Der kleine Mann mit den roten Haaren und den Lachfalten hat viel zu tun: Bietet diverse Glaubenskurse an, betreibt Seelsorge und "Aufklärungsarbeit." Nicht über Sexualität, davon hält er nichts, sondern über die "Konkurrenz" - die Russlanddeutschen Baptisten, Freikirchler und Pfingstler, die schon seit Jahren versuchen, seine Schäfchen abzuwerben.

Besonders die Pfingstler sind streng gläubig, einige in Cloppenburg sagen sogar fundamentalistisch: Radio, Fernsehen und Autos sind verboten, Frauen und Mädchen müssen Woll-Röcke und Kopfbedeckungen tragen, Verhütung wird als Teufelswerk abgelehnt.

Heinrich Pister: "Die nehmen das buchstäblich. Das Ehebett muss gesund sein. Und bleiben. Was eben Gott schenkt, das muss man nehmen. Man sagt: Kinder sind eine Gabe Gottes."

Katarina Kynast: "Die bekommen sehr früh ihre Kinder. Heiraten sehr früh. Bekommen die Kinder in sehr, sehr kurzen Abständen. Und eben auch bis an die Wechseljahre heran. Da hat man ohne weiteres auch mal Kinderzahlen von 14, 15."

Auf durchschnittlich 800 Geburten im Jahr kommen sie in der Entbindungsstation von Katarina Kynast im Cloppenburger Krankenhaus. Zwar gibt es keine offiziellen Statistiken, aber die Ärztin schätzt, dass zwei von drei Geburten auf Russlanddeutsche Kappe gehen.

Phänomen Kinderreichtum! In Cloppenburg ist das schon so gewesen, bevor der Russlanddeutsche Treck hier Station machte, erklärt Bernd Bergmann, der Verwaltungschef des Krankenhauses.

"Wir sind hier in einer Region, in der traditionell die Geburtenzahl immer hoch war. Wir waren zu neunt. Und die Schwester meiner Mutter hatte 13 Kinder. Das war vielleicht etwas hoch, aber fünf, sechs Kinder waren eigentlich normal."

Damals waren auch in der Bundesrepublik noch andere Zeiten, Kinderzeiten. Egal, das prägt - bis heute. Und der Einfluss der katholischen Kirche. Zwar kann auch Pfarrer Stephan Jürgens von der Heilig-Kreuz-Gemeinde im Cloppenburger Stadtteil Stapelfeld nicht gerade behaupten, seine Messen seien überfüllt, aber: In Cloppenburg, findet der Seelsorger, herrsche noch der Grundkonsens: "Kirche ist wichtig."

"Den gibt es hier in allen Generationen. Glauben ist wichtig. Werte sind wichtig. Da können sie mit Menschen aller Altersgruppen reden: Das ist einfach wichtig für die. Die Kirche hat ein Wort zu sagen und die Kirche ist nicht nur Glaubens-, sondern auch Kulturträger."

Faktor Kirche! Der Kinderreichtum, argumentiert nicht nur der Seelsorger, habe auch viel mit der Religion zu tun. Damit, dass Cloppenburg immer schon eine erzkatholische Gegend gewesen, die Rolle der Frau dementsprechend konservativ definiert sei.

Die Statistik bestätigt das. So liegt die Frauenerwerbsquote bei gerade einmal 30 Prozent. Das ist weniger als die Hälfte des Bundesdurchschnitts.

Stephan Jürgens: "Es gibt sehr, sehr viele - vielleicht überdurchschnittlich viele - die dann doch sagen: 'Wegen der Kinder bleibe ich eine gewisse Zeit zu Hause.' Und das liegt vielleicht auch ein Stück am traditionellen Familienbild."

Katarina Kynast: "Wir haben hier sicherlich nicht so ein hohes Potential an Akademikerfrauen, wie es in 'ner größeren Stadt wie Bremen der Fall wäre. Das spiegelt sich durchaus da wieder. Aber man kann nicht sagen, dass diese Frauen weniger emanzipiert sind. Die sind schon in ihren Familien dann sehr richtungsweisend auch und setzen die Dinge um, die sie möchten."

Stephan Jürgens: "Das sind sehr selbstbewusste Frauen. Ich hab den Eindruck, dass die sich wirklich ganz bewusst für Familie entscheiden. Und wenn das Umfeld familienfreundlich ist, wird man ja auch nicht abgestempelt als: Entweder machst du Karriere oder kriegst Kinder. Sondern es wird beides irgendwie gesehen und man hilft sich gegenseitig, dass beides geht."

"Kinder, Küche, Kirche." So titelte unlängst die "Welt am Sonntag" über Cloppenburg.

Mechthild Brinkmann: "Ich finde das ne unglaubliche Vereinfachung."

Regt sich Mechthild Brinkmann vom Sozialdienst Katholischer Frauen auf.

Mechthild Brinkmann: "Da heißt es: Katholische Gegend, viele Kinder, viele Schweine. Und: Alles ist schön. Oder: Wir haben so viele Kinder, weil die Luft so gut ist. Das glaub ich einfach nicht. Nein! Es ist sicherlich hier 'ne christliche Grundhaltung, aber ich würde das nicht so auf das Katholische festmachen. Das ist es nicht. Nein!"

Aber was denn dann?

Mechthild Brinkmann: "Also, ich finde, wir sind hier sehr tolerant. Die Cloppenburger haben nach dem Krieg sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Das war so ein Zusammenraufen, das war nicht alles eitel Sonnenschein. Es hat aber in dieser sehr konservativen, katholischen Gemeinde dann einen derartigen Zuzug gegeben und eine solche Vermischung gegeben, dass man auch gelernt hat, aufeinander zuzugehen. Und einzugehen. Und dann kam diese zweite große Welle aus Kasachstan und Russland nach Cloppenburg. Und die ist ja auch erst mal jahrelang... die sind sehr offen aufgenommen worden."

Heinrich Pister: ": "Und so entstand ein Ballungsgebiet. Ein (lacht) gläubiges Ballungsgebiet. Und wegen des großen Anteils von Russlanddeutschen ergibt sich auch das Ergebnis, dass es mehr Kinder gibt.""

Die Russlanddeutschen haben Cloppenburg nicht nur mehr Kinder beschert, sondern auch Integrationsprobleme, wie man sie sonst aus Großstädten wie Frankfurt am Main oder Berlin mit hohem Ausländeranteil kennt. Da haben sich Parallelgesellschaften gebildet, finden sich viele Russlanddeutsche Jugendliche, die nur schlecht Deutsch können, weil zu Hause Russisch geredet wird, nicht zurecht im betulichen Cloppenburg; ist die Kriminalität und der Drogen- und Alkoholmissbrauch unter Russlanddeutschen höher als im Durchschnitt.

Keine besonders positiven Nachrichten und das ist so gar nicht nach dem Geschmack vom Herrn Bürgermeister. Da rattert Wolfgang Wiese doch lieber die Erfolgsmeldungen seines Cloppenburgs runter. Prahlt mit den 7,2 Prozent Arbeitslosigkeit - eine der niedrigsten Quoten in ganz Niedersachsen; der boomenden, weil globalisierungsresistenten Nahrungsmittel- und Tierzuchtindustrie; und dass global players wie H&M, C&A und McDonald’s Filialen eröffnet haben - wegen des Babybooms.

Und die Russlanddeutschen?! Na ja, das mit der Integration - da sei man dran, sagt der CDU-Mann, der sich schon mal gern als "Babymeister" vorstellt, seitdem ihn die "Bild"-Zeitung zum "Gewinner des Tages" kürte. Von wegen Babyboom. Die Russlanddeutschen also?!

Wolfgang Wiese: "Für die sind Kinder eigentlich das höchste Gut. Und die sind dazu gekommen und haben dann dazu geführt, dass wir noch mal einen Schluck oben drauf bekommen haben, was die Kinderzahl betrifft."

"Einen Schluck oben drauf" - die Formulierung hat Valentina Weiss auch noch nicht gehört. Die gebürtige Russlanddeutsche holt gerade ihre 5-jährige Tochter aus der Kindertagesstätte Sonnenblume ab. Wenn man so will, ist Valentina Weiss Symbol dafür, dass sich mehr und mehr Russlanddeutsche in Cloppenburg den Realitäten des bundesdeutschen Alltags anpassen. Denn: Weiss hat nur zwei Kinder.

Valentina Weiss: "Mehr als zwei - das reicht. Heutzutage. Erst mal mit die Ausbildungsplätze. Bevor man jetzt Kinder in die Welt setzt, muss man überlegen, ob man das macht oder nicht. Es wird ja alles teurer. Und Ausbildungsplätze immer knapper und knapper."

90 Kinder werden zurzeit in der Kindertagesstätte Sonnenblume betreut, vor zehn Jahren, bei der Eröffnung, waren es nur fünfzig. Spricht für Cloppenburg. Und den Kindergarten mit den großen, hellen Räumen, den Unmengen an Spielzeug und dem Riesen-Spielplatz draußen. Zwei Betreuerinnen kümmern sich um eine Gruppe mit 25 Kindern.

Schöne, heile Cloppenburger Welt?! Könnte man meinen, wenn Leiterin Hedwig Meyer-Rau nicht dezent darauf hinweisen würde, dass ihr Kindergarten am oberen Limit arbeite.

"Für die Entwicklung der Kinder ist es ausschlaggebend, dass ausreichend Personal da ist. Die Eltern haben immer weniger Zeit für ihre Kinder. Und Erzieher haben auch immer weniger Zeit; die Rahmenbedingungen erschwert werden dadurch, dass immer mehr jüngere Kinder auch in die Gruppe kommen. Und dass immer mehr Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen in die Gruppe kommen...ist man einfach mehr gefordert. Und da ist das Verhältnis zwei Erzieher auf 25 Kinder sehr, sehr knapp bemessen. Da wünschte ich mir wirklich mehr Personal."

Es wird beim Wunsch bleiben! Denn Extra-Geld hat auch Cloppenburgs Bürgermeister nicht zu verteilen. Überhaupt: Die Finanzen. Auch der Sozialdienst Katholischer Frauen kann davon ein Lied singen. Die Kirche, meint Sozialpädagogin Marga Klinker, übernehme immer häufiger Aufgaben, die die Kommune nicht mehr leisten könne. Leisten wolle. Hier springt der Sozialdienst ein. Hilft den Familien; betreibt einen Kindertreff. Und berät immer mehr Mütter, die Schwierigkeiten damit haben, Kinder und Beruf unter einen Hut zu bekommen - auch in Cloppenburg.

"Es gibt viele allein erziehende Frauen, auch Frauen in ganz normalen Familien, die arbeiten müssten, weil das Einkommen nicht reicht; die keine passenden Arbeitsplätzen bekommen, wenn sie Kinder haben und deshalb zu Hause bleiben. Und wenn es die gibt, gibt es keine passenden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Das ist auch Cloppenburg. Und dann zu sagen: Wir machen das aus Überzeugung, weil wir uns nicht vorstellen können, was anderes zu machen als ein Kind nach dem anderen aufzuziehen... das ist rosarot gefärbt. So ist das in Cloppenburg auch nicht."

Jedes Kind ab drei bekommt in Cloppenburg einen Kindergartenplatz. Das ist die gute Nachricht. Es gibt immer noch keine einzige Kindertagesstätte in der Stadt. Das ist die schlechte. Doch das soll sich ändern. Im Kindergarten Sonnenblume haben sie jetzt eine Versuchsgruppe eingerichtet.

Allheilmittel Kinderbetreuung?! Seelsorger Stephan Jürgens hat da so seine Zweifel.

"Wenn man sich bewusst macht: Im Osten Deutschlands gibt es ganz viele Kinderhorte und wenig Kinder. Hier gibt es überhaupt keinen Kinderhort und viele Kinder. Also, nur an den äußeren Bedingungen liegt es nicht. Aber ich glaube, man kann für eine Mentalität sorgen, dass Kinder wirklich ein Glück und ein Segen sind und dass die Gesellschaft Familien unterstützt. Nicht nur materiell, sondern auch ideell."

Ein Segen - das, findet Mechthild Brinkmann vom Sozialdienst Katholischer Frauen, sind auch ihre Kinder - selbst wenn ihr Mann ab und zu scherzhaft meint, für das Geld, das sie für den Nachwuchs ausgegeben haben, hätten sie sich locker diverse Eigentumswohnungen kaufen können.

Mechthild Brinkmann: "Unsere Mädchen sagen schon: Es ist hier optimal. Und bleibt bitte schön möglichst lange hier sitzen. Und dann möglichst noch als Großeltern, obwohl se gar nicht verheiratet sind. Oder was in Aussicht steht. Weil: Wir hatten eine tolle Kindheit. Das sagen unsere drei Mädchen schon. Wir hatten alle Freiheiten."

In zehn Jahren wird in Cloppenburg jeder zweite keine vierzig sein - und die niedersächsische Kreisstadt bestimmt weiter in den Schlagzeilen. Da ist sich Bürgermeister Wiese ganz sicher. Aber:

"Ausruhen darf man sich nie."

Korrekt.

Wolfgang Wiese: "Das heißt, egal wo man steht."

Korrekt.

Wolfgang Wiese: "Und wir sind gehalten, diese Entwicklung ständig weiter zu betreiben."

Na, dann mal frohes Schaffen.