"Das Ganze ist noch ein Experiment"
Ein Roman, bei dem wöchentlich eine neue Folge auf der Handy- oder Tablet-App erscheint: So könnte der Buchvertrieb der Zukunft aussehen. Der Autor Neal Stephenson probiert genau das gerade aus und Journalist Steffan Heuer meint: derzeit noch eine Nischenform - die aber rasant wächst.
Britta Bürger: Der amerikanische Science-Fiction-Autor Neal Stephenson arbeitet gerade an seinem ersten interaktiven Roman. Gemeinsam mit mehreren Autoren und Lesern entsteht ein Werk unter dem Titel "The Mongoliad". Stevenson nennt es einen Test für die Zeit nach dem gedruckten Buch und ein Experiment mit neuen Erzählstrukturen. Der Journalist Steffan Heuer hat die Entwicklung dieses interaktiven Buchprojekts in den USA verfolgt. Als Korrespondent des Wirtschaftsmagazins "brand eins" lebt er in San Francisco, und zu einer für uns beide kompatiblen Tageszeit waren wir gestern miteinander verabredet. Zuerst wollte ich wissen, wie Neal Stephensons interaktiver Roman "The Mongoliad" ganz konkret funktioniert. Wie schreibt man einen interaktiven Roman?
Steffan Heuer: Ja, man muss sich das vorstellen wie bei einer Fernsehshow, wo es einen Pool aus mehreren Schreibern gibt, die sich zusammensetzen, einen Handlungsstrang entwickeln und den dann über eine ganze Saison mit mehreren Folgen – in diesem Fall bei der "Mongoliad" sind es 52, also ein Jahr, eine pro Woche – diesen Handlungsstrang ausspinnen und jede Woche eine neue Folge ins Netz stellen beziehungsweise an ihre Nutzer schicken.
Bürger: Aber diese Leute sitzen eben nicht an einem Tisch, die kennen sich überhaupt nicht – wie können die sich einbringen? Wie kann da jeder mitmachen, über eine bestimmte Internetseite muss man Mitglied einer bestimmten Community werden, wie geht das?
Heuer: Es gibt zwei verschiedene Ebenen. Hier das eine ist natürlich eine Kerngruppe professioneller Schreiber, dabei ist Neal Stephenson sozusagen der Chef, und die anderen drei, vier Ko-Autoren sitzen sehr wohl an einem Tisch in Seattle, wo Stevenson lebt – das ist sozusagen die Kerngruppe, die den Handlungsstrang vorgibt, weiterentwickelt und auch die eigentlichen Folgen schreibt. Die Leser oder Nutzer, wenn man das für Software so nennen will, kommen erst dann ins Spiel, wenn die Folgen auf die App gestellt wurden, und dann können sie kommentieren, Vorschläge unterbreiten, wie sich die Handlung weiterentwickeln soll. Sie können auch Illustrationen, Zeichnungen, Malerei einreichen, um bestimmte Handlungsstränge zu illustrieren.
Bürger: Was heißt das, wenn die Folgen auf die App gestellt werden?
Heuer: Das heißt ganz konkret, dass man dieses Buch sich nicht gedruckt kaufen kann, sondern da es ja jede Woche nur Kapitel für Kapitel erscheint. Man richtet sich ein Abonnement ein, das kostet im Moment, glaube ich, die billigste Variante zehn Dollar im Jahr, und dafür kriegt man ein Jahr lang jede Woche auf ein bestimmtes Programm, das man sich auf sein Smartphone oder sein iPad lädt, die neue Folge geschickt und dazu auch alles andere interaktive Material. Das heißt, wenn es Bilddateien gibt, kommen die zum Kapitel dazu, wenn es Tondateien gibt, kommen die zum Kapitel dazu, wenn es Landkarten gibt, um die Handlung besser zu erklären, wären die dazugeschickt. Also man kann sich das Ganze so vorstellen wie früher der Fortsetzungsroman in der Tageszeitung, nur auf eine digitale Version erweitert.
Bürger: Ein Spielemodul. Lassen Sie uns aber noch mal auf das Schreiben zurückkommen. "The Mongoliad", das ist ein Abenteuerepos, das im Jahr 1241 spielt, als man befürchtete, dass mongolische Horden Europa zerstören würden, und das heißt, um hier irgendwas Sinnvolles dazuzuschreiben, muss man sich ja schon ausführlicher mit der Geschichte befasst haben. Wer wählt denn die eingehenden Beiträge von schreibenden Lesern aus?
Heuer: Das Ganze ist noch ein Experiment, insofern ist es natürlich nicht so, dass wie bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia zum Beispiel jeder nach Belieben sich einloggt und dran rumschreiben kann, das würde wahrscheinlich sehr schnell in ein Chaos münden. In diesem Falle können Leser, je nachdem, wie aktiv sie sich dran beteiligen, Kommentare zu jedem Kapitel abgeben, die tauchen auch als Extraeintrag auf, als ob man sozusagen an die Ränder eines Buches schreiben würde. Es gibt Foren zu bestimmten Themen, die sich durch das ganze Buch ziehen, zu den Hauptcharakteren, zu den Orten, den Schauplätzen, aber den Handlungsstrang an sich bestimmten nach wie vor die vier, fünf Autoren, die das Ganze ausgeheckt haben. Das heißt, im Moment ist es nicht ein weit offenes Buch, in dem jeder nach Belieben weiterschreiben kann.
Bürger: Also auch kein stilistisches Kuddelmuddel?
Heuer: Nein, das auf jeden Fall nicht. Auf der anderen Seite hat Stevenson und seine Ko-Autoren haben mir das erzählt, als ich sie getroffen habe, es ist für sie natürlich in gewisser Weise ein Offenbarungseid, weil sie jetzt zum ersten Mal innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen merken, wo sie einen dramaturgischen Fehler begangen haben, weil sich sofort Leser einschalten und sagen: Moment, im Kapitel eins habt ihr das geschrieben, in Kapitel fünf schreibt ihr plötzlich das. Und da müssen sie dann oft doch wieder zurückgehen und Sachen korrigieren, die sie früher vielleicht einfach so gelassen hätten.
Bürger: Wie viele Nutzer haben sich bislang beteiligt?
Heuer: Darüber schweigt sich die Firma im Moment aus. Am Anfang waren es innerhalb von wenigen Wochen – und das Ganze wurde ja gar nicht beworben, sondern nur über Flüsterpropaganda übers Web weitergetragen – waren es 4500 registrierte Nutzer, allerdings haben davon nur ein Drittel ein Abonnement gekauft. Das hört sich jetzt nach einer relativ geringen Zahl an, man muss allerdings noch mal betonen, das Ganze gab es, als diese Zahl bekannt gegeben wurde, nur zwei Wochen, es gab keinerlei Werbung und die Leute haben das Abo gekauft, ohne dass es eine App gegeben hatte, die sie sich jemals angucken könnten. Es haben also 1500 Leute genug Interesse dran gehabt, die Katze im Sack zu kaufen.
Bürger: Was sind das für Leute? Erfolglose Schriftsteller, Fans von Nils Stevenson oder tatsächlich Menschen, die an einem neuen Konzept von Literatur interessiert sind?
Heuer: Ich glaube, das kann man für alle drei Kategorien bejahen. Zum einen ist das Thema interaktives Buch, die Zukunft des Buches oder Romans ein heißes Thema, deswegen wird sicherlich ein gehöriger Anteil der Abonnenten vom Fach sein, der sich angucken will, was Stevenson da alles ausbrütet und ausprobiert. Zum anderen ist natürlich Science-Fiction ein Genre, in dem die Leute sehr, sehr engagiert sind und sich die Köpfe heißreden über verschiedene Charaktere, ob es Verbindungen zu seinen früheren Büchern gibt, welche Querverbindungen man nachweisen kann, und sie wollen natürlich daran teilhaben. Das ist eine gewisse Stolzkultur auch, würde ich sagen, wo die Leute sagen wollen später, hier, ich habe zu diesem Nils-Stevenson-Buch, diese Illustration in Kapitel zwölf, die stammt aus meiner Feder.
Bürger: Also ist es doch aber eher etwas für Spieler als für seriöse Literatur-Interessierte?
Heuer: Das ist eine Frage der Zeit, würde ich sagen, denn im Moment ist das Feld noch so jung, dass es sicherlich eine Spielwiese ist. Das heißt, es gibt viele Schriftsteller, viele Verlage, die neue Ideen ausprobieren, viele davon sind sicherlich zum Scheitern verurteilt, aber deswegen befinden wir uns ja noch in einer Experimentierphase. Das heißt, irgendwann – das kann, so schnell, wie sich Technologie weiterentwickelt, vielleicht schon im nächsten Jahr sein – irgendwann wird es Modelle geben, die man auch ernst zu nehmende Literatur und Sachbücher als interaktives Format herausbringen kann, und vor allem auch, wie man das Ganze vom eigentlichen Verlagsmodell lösen kann.
Das Wichtige hier bei Stevensons Modell ist ja auch, der Kunde tritt direkt oder der Leser tritt direkt mit dem Autor in Kontakt, er geht nicht den Umweg über den Buchladen, er geht nicht den Umweg über einen Verlag, sondern die App, das kleine Programm, über das die Kapitel in die Welt geschickt werden, wird von Stevenson und seiner Firma entwickelt und geht ohne Umwege direkt an seine Fangemeinde oder Leserschaft.
Bürger: Also es ist ein tatsächlich neues Geschäftsmodell, das er da entwickelt, und das ist es ihm wert, einen Großteil seiner individuellen Kreativität als Autor aufzugeben? Rechnet sich das?
Heuer: Ja, ob es sich finanziell rechnet, das steht noch aus, denn wie gesagt, das Modell gibt es erst seit September, das ist also noch relativ jung, und die Rechenmaschinen laufen da sicherlich noch, aber da muss man, glaube ich, noch ein bisschen abwarten, ob es sich für den Autor selber rechnet. Es ist ein zweites Standbein für ihn, das hat er mir auch erzählt. Er schreibt nach wie vor Bücher, er wird nach wie vor weiterhin Bücher schreiben, und das höchste der Gefühle für ihn ist, wenn ein Buch in gedruckter Form auf Papier herauskommt. Das heißt, für "The Mongoliad" verwendet er zwar einen Großteil seiner Zeit, aber keineswegs seine gesamte Schaffenskraft, denn er schreibt weiterhin an einem Roman, der nächstes Jahr rauskommen wird, und der wird sehr wohl über einen traditionellen Verlag und gedruckt erscheinen.
Bürger: Und dieses "The Mongoliad", soll das auch als Buch erscheinen?
Heuer: Am Ende soll eines der Resultate dieses Experimentes ein gedrucktes Buch sein, aber nur ein Resultat. Und das ist sicherlich auch eine Sache, die man im Kopf behalten sollte beim Thema Experiment. Ein interaktives Buch hat natürlich viele Ausprägungsformen, das heißt, es gibt einmal eine App für einen Tablet, die relativ groß ist, dann gibt es eine App für ein Smartphone wie ein iPhone oder ein Android Handy, die relativ klein ist, die muss dann wieder anders aussehen. Und dann gibt es am Ende, wenn alle Kapitel geschrieben sind und die nächste Staffel beginnen würde, wie bei einer Fernsehserie, durchaus die Möglichkeit, den ersten Jahrgang als Buch herauszubringen.
Bürger: Haben Sie eines dieser Apps in Erinnerung, von denen Sie sagen, das hat mich wirklich vom Hocker gehauen?
Heuer: Für "The Mongoliad" würde ich das im Moment noch nicht so formulieren, dazu ist es mir zu sehr ein Buch mit klickbaren Flächen. Ich hab einige andere Apps für interaktive Bücher ausprobiert, eine insbesondere aus Großbritannien von Stephen Fry, der ist einen sehr, sehr ungewöhnlichen Weg gegangen und versucht sich – ja, man kann es nicht lineares Erzählen nennen. Man macht die App auf und man hat vor sich eine Art bunte Drehscheibe, wie früher die Wählscheibe auf einem Telefon, und kann sich dort durch Stichwörter bewegen und springt von Kapitel zu Kapitel, von Schlagwort zu Schlagwort, oder kann auch ganz ungeahnte Verbindungen zwischen verschiedenen Kapiteln aufdecken.
Bürger: Es gibt also natürlich auch schon andere Autoren, die das versuchen – würden Sie sagen, hier zeichnet sich tatsächlich ein neuer Trend ab, oder ist das doch eine ganz kleine Nische?
Heuer: Im Moment ist es eine Nische, ohne Frage – wie klein sie ist, darüber streiten sich die Marktforscher und die Statistiker. Also in den USA auf jeden Fall hat es sich inzwischen so entwickelt, dass ungefähr ein Zehntel des ganzen Umsatzes im Buchgeschäft inzwischen schon für elektronische Bücher ausgegeben wird, und Experten rechnen damit, dass das bis übernächstes Jahr schon ein Fünftel bis ein Viertel sein könnte. Das heißt, die Nische wächst rasant.
Das sieht man auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Elektronikmarken auf diesen Markt vorstoßen, also es gibt elektronische Lesegeräte, von Apple sowieso, von Amazon schon seit geraumer Zeit, Sony, die amerikanische Buchkette Barnes & Nobel hat ein eigenes Gerät entwickelt und so weiter und so fort. Das heißt, da herrscht viel, viel Aktivität, die Leute sind sich bewusst, dass man damit viel Geld verdienen kann. Und früher oder später, zumindest für die USA, erwarten Fachleute, dass elektronische Bücher gedruckte Bücher überholen werden, was Umsatzzahlen und Stückzahlen angeht.
Bürger: Der auf neue Wirtschafts- und Technologiemodelle spezialisierte Journalist Steffan Heuer beobachtet von San Francisco aus, wie der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson seinen ersten interaktiven Roman entwickelt. Herr Heuer, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Heuer: Gern geschehen, bitte!
Steffan Heuer: Ja, man muss sich das vorstellen wie bei einer Fernsehshow, wo es einen Pool aus mehreren Schreibern gibt, die sich zusammensetzen, einen Handlungsstrang entwickeln und den dann über eine ganze Saison mit mehreren Folgen – in diesem Fall bei der "Mongoliad" sind es 52, also ein Jahr, eine pro Woche – diesen Handlungsstrang ausspinnen und jede Woche eine neue Folge ins Netz stellen beziehungsweise an ihre Nutzer schicken.
Bürger: Aber diese Leute sitzen eben nicht an einem Tisch, die kennen sich überhaupt nicht – wie können die sich einbringen? Wie kann da jeder mitmachen, über eine bestimmte Internetseite muss man Mitglied einer bestimmten Community werden, wie geht das?
Heuer: Es gibt zwei verschiedene Ebenen. Hier das eine ist natürlich eine Kerngruppe professioneller Schreiber, dabei ist Neal Stephenson sozusagen der Chef, und die anderen drei, vier Ko-Autoren sitzen sehr wohl an einem Tisch in Seattle, wo Stevenson lebt – das ist sozusagen die Kerngruppe, die den Handlungsstrang vorgibt, weiterentwickelt und auch die eigentlichen Folgen schreibt. Die Leser oder Nutzer, wenn man das für Software so nennen will, kommen erst dann ins Spiel, wenn die Folgen auf die App gestellt wurden, und dann können sie kommentieren, Vorschläge unterbreiten, wie sich die Handlung weiterentwickeln soll. Sie können auch Illustrationen, Zeichnungen, Malerei einreichen, um bestimmte Handlungsstränge zu illustrieren.
Bürger: Was heißt das, wenn die Folgen auf die App gestellt werden?
Heuer: Das heißt ganz konkret, dass man dieses Buch sich nicht gedruckt kaufen kann, sondern da es ja jede Woche nur Kapitel für Kapitel erscheint. Man richtet sich ein Abonnement ein, das kostet im Moment, glaube ich, die billigste Variante zehn Dollar im Jahr, und dafür kriegt man ein Jahr lang jede Woche auf ein bestimmtes Programm, das man sich auf sein Smartphone oder sein iPad lädt, die neue Folge geschickt und dazu auch alles andere interaktive Material. Das heißt, wenn es Bilddateien gibt, kommen die zum Kapitel dazu, wenn es Tondateien gibt, kommen die zum Kapitel dazu, wenn es Landkarten gibt, um die Handlung besser zu erklären, wären die dazugeschickt. Also man kann sich das Ganze so vorstellen wie früher der Fortsetzungsroman in der Tageszeitung, nur auf eine digitale Version erweitert.
Bürger: Ein Spielemodul. Lassen Sie uns aber noch mal auf das Schreiben zurückkommen. "The Mongoliad", das ist ein Abenteuerepos, das im Jahr 1241 spielt, als man befürchtete, dass mongolische Horden Europa zerstören würden, und das heißt, um hier irgendwas Sinnvolles dazuzuschreiben, muss man sich ja schon ausführlicher mit der Geschichte befasst haben. Wer wählt denn die eingehenden Beiträge von schreibenden Lesern aus?
Heuer: Das Ganze ist noch ein Experiment, insofern ist es natürlich nicht so, dass wie bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia zum Beispiel jeder nach Belieben sich einloggt und dran rumschreiben kann, das würde wahrscheinlich sehr schnell in ein Chaos münden. In diesem Falle können Leser, je nachdem, wie aktiv sie sich dran beteiligen, Kommentare zu jedem Kapitel abgeben, die tauchen auch als Extraeintrag auf, als ob man sozusagen an die Ränder eines Buches schreiben würde. Es gibt Foren zu bestimmten Themen, die sich durch das ganze Buch ziehen, zu den Hauptcharakteren, zu den Orten, den Schauplätzen, aber den Handlungsstrang an sich bestimmten nach wie vor die vier, fünf Autoren, die das Ganze ausgeheckt haben. Das heißt, im Moment ist es nicht ein weit offenes Buch, in dem jeder nach Belieben weiterschreiben kann.
Bürger: Also auch kein stilistisches Kuddelmuddel?
Heuer: Nein, das auf jeden Fall nicht. Auf der anderen Seite hat Stevenson und seine Ko-Autoren haben mir das erzählt, als ich sie getroffen habe, es ist für sie natürlich in gewisser Weise ein Offenbarungseid, weil sie jetzt zum ersten Mal innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen merken, wo sie einen dramaturgischen Fehler begangen haben, weil sich sofort Leser einschalten und sagen: Moment, im Kapitel eins habt ihr das geschrieben, in Kapitel fünf schreibt ihr plötzlich das. Und da müssen sie dann oft doch wieder zurückgehen und Sachen korrigieren, die sie früher vielleicht einfach so gelassen hätten.
Bürger: Wie viele Nutzer haben sich bislang beteiligt?
Heuer: Darüber schweigt sich die Firma im Moment aus. Am Anfang waren es innerhalb von wenigen Wochen – und das Ganze wurde ja gar nicht beworben, sondern nur über Flüsterpropaganda übers Web weitergetragen – waren es 4500 registrierte Nutzer, allerdings haben davon nur ein Drittel ein Abonnement gekauft. Das hört sich jetzt nach einer relativ geringen Zahl an, man muss allerdings noch mal betonen, das Ganze gab es, als diese Zahl bekannt gegeben wurde, nur zwei Wochen, es gab keinerlei Werbung und die Leute haben das Abo gekauft, ohne dass es eine App gegeben hatte, die sie sich jemals angucken könnten. Es haben also 1500 Leute genug Interesse dran gehabt, die Katze im Sack zu kaufen.
Bürger: Was sind das für Leute? Erfolglose Schriftsteller, Fans von Nils Stevenson oder tatsächlich Menschen, die an einem neuen Konzept von Literatur interessiert sind?
Heuer: Ich glaube, das kann man für alle drei Kategorien bejahen. Zum einen ist das Thema interaktives Buch, die Zukunft des Buches oder Romans ein heißes Thema, deswegen wird sicherlich ein gehöriger Anteil der Abonnenten vom Fach sein, der sich angucken will, was Stevenson da alles ausbrütet und ausprobiert. Zum anderen ist natürlich Science-Fiction ein Genre, in dem die Leute sehr, sehr engagiert sind und sich die Köpfe heißreden über verschiedene Charaktere, ob es Verbindungen zu seinen früheren Büchern gibt, welche Querverbindungen man nachweisen kann, und sie wollen natürlich daran teilhaben. Das ist eine gewisse Stolzkultur auch, würde ich sagen, wo die Leute sagen wollen später, hier, ich habe zu diesem Nils-Stevenson-Buch, diese Illustration in Kapitel zwölf, die stammt aus meiner Feder.
Bürger: Also ist es doch aber eher etwas für Spieler als für seriöse Literatur-Interessierte?
Heuer: Das ist eine Frage der Zeit, würde ich sagen, denn im Moment ist das Feld noch so jung, dass es sicherlich eine Spielwiese ist. Das heißt, es gibt viele Schriftsteller, viele Verlage, die neue Ideen ausprobieren, viele davon sind sicherlich zum Scheitern verurteilt, aber deswegen befinden wir uns ja noch in einer Experimentierphase. Das heißt, irgendwann – das kann, so schnell, wie sich Technologie weiterentwickelt, vielleicht schon im nächsten Jahr sein – irgendwann wird es Modelle geben, die man auch ernst zu nehmende Literatur und Sachbücher als interaktives Format herausbringen kann, und vor allem auch, wie man das Ganze vom eigentlichen Verlagsmodell lösen kann.
Das Wichtige hier bei Stevensons Modell ist ja auch, der Kunde tritt direkt oder der Leser tritt direkt mit dem Autor in Kontakt, er geht nicht den Umweg über den Buchladen, er geht nicht den Umweg über einen Verlag, sondern die App, das kleine Programm, über das die Kapitel in die Welt geschickt werden, wird von Stevenson und seiner Firma entwickelt und geht ohne Umwege direkt an seine Fangemeinde oder Leserschaft.
Bürger: Also es ist ein tatsächlich neues Geschäftsmodell, das er da entwickelt, und das ist es ihm wert, einen Großteil seiner individuellen Kreativität als Autor aufzugeben? Rechnet sich das?
Heuer: Ja, ob es sich finanziell rechnet, das steht noch aus, denn wie gesagt, das Modell gibt es erst seit September, das ist also noch relativ jung, und die Rechenmaschinen laufen da sicherlich noch, aber da muss man, glaube ich, noch ein bisschen abwarten, ob es sich für den Autor selber rechnet. Es ist ein zweites Standbein für ihn, das hat er mir auch erzählt. Er schreibt nach wie vor Bücher, er wird nach wie vor weiterhin Bücher schreiben, und das höchste der Gefühle für ihn ist, wenn ein Buch in gedruckter Form auf Papier herauskommt. Das heißt, für "The Mongoliad" verwendet er zwar einen Großteil seiner Zeit, aber keineswegs seine gesamte Schaffenskraft, denn er schreibt weiterhin an einem Roman, der nächstes Jahr rauskommen wird, und der wird sehr wohl über einen traditionellen Verlag und gedruckt erscheinen.
Bürger: Und dieses "The Mongoliad", soll das auch als Buch erscheinen?
Heuer: Am Ende soll eines der Resultate dieses Experimentes ein gedrucktes Buch sein, aber nur ein Resultat. Und das ist sicherlich auch eine Sache, die man im Kopf behalten sollte beim Thema Experiment. Ein interaktives Buch hat natürlich viele Ausprägungsformen, das heißt, es gibt einmal eine App für einen Tablet, die relativ groß ist, dann gibt es eine App für ein Smartphone wie ein iPhone oder ein Android Handy, die relativ klein ist, die muss dann wieder anders aussehen. Und dann gibt es am Ende, wenn alle Kapitel geschrieben sind und die nächste Staffel beginnen würde, wie bei einer Fernsehserie, durchaus die Möglichkeit, den ersten Jahrgang als Buch herauszubringen.
Bürger: Haben Sie eines dieser Apps in Erinnerung, von denen Sie sagen, das hat mich wirklich vom Hocker gehauen?
Heuer: Für "The Mongoliad" würde ich das im Moment noch nicht so formulieren, dazu ist es mir zu sehr ein Buch mit klickbaren Flächen. Ich hab einige andere Apps für interaktive Bücher ausprobiert, eine insbesondere aus Großbritannien von Stephen Fry, der ist einen sehr, sehr ungewöhnlichen Weg gegangen und versucht sich – ja, man kann es nicht lineares Erzählen nennen. Man macht die App auf und man hat vor sich eine Art bunte Drehscheibe, wie früher die Wählscheibe auf einem Telefon, und kann sich dort durch Stichwörter bewegen und springt von Kapitel zu Kapitel, von Schlagwort zu Schlagwort, oder kann auch ganz ungeahnte Verbindungen zwischen verschiedenen Kapiteln aufdecken.
Bürger: Es gibt also natürlich auch schon andere Autoren, die das versuchen – würden Sie sagen, hier zeichnet sich tatsächlich ein neuer Trend ab, oder ist das doch eine ganz kleine Nische?
Heuer: Im Moment ist es eine Nische, ohne Frage – wie klein sie ist, darüber streiten sich die Marktforscher und die Statistiker. Also in den USA auf jeden Fall hat es sich inzwischen so entwickelt, dass ungefähr ein Zehntel des ganzen Umsatzes im Buchgeschäft inzwischen schon für elektronische Bücher ausgegeben wird, und Experten rechnen damit, dass das bis übernächstes Jahr schon ein Fünftel bis ein Viertel sein könnte. Das heißt, die Nische wächst rasant.
Das sieht man auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Elektronikmarken auf diesen Markt vorstoßen, also es gibt elektronische Lesegeräte, von Apple sowieso, von Amazon schon seit geraumer Zeit, Sony, die amerikanische Buchkette Barnes & Nobel hat ein eigenes Gerät entwickelt und so weiter und so fort. Das heißt, da herrscht viel, viel Aktivität, die Leute sind sich bewusst, dass man damit viel Geld verdienen kann. Und früher oder später, zumindest für die USA, erwarten Fachleute, dass elektronische Bücher gedruckte Bücher überholen werden, was Umsatzzahlen und Stückzahlen angeht.
Bürger: Der auf neue Wirtschafts- und Technologiemodelle spezialisierte Journalist Steffan Heuer beobachtet von San Francisco aus, wie der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson seinen ersten interaktiven Roman entwickelt. Herr Heuer, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Heuer: Gern geschehen, bitte!