Vladimir Dyck wurde 1882 in Odessa geboren. Im Alter von 17 Jahren ging er nach Paris auf die Musikhochschule. Später wurde er Franzose, nahm am nationalen Komponisten-Wettbewerb um den angesehenen "Prix de Rome" teil und gewann den dritten Preis. Dyck hat eine Oper, Klavierwerke und Lieder komponiert, außerdem arbeite er für Theater und Film. 1943 aber verhaftete ihn die deutsche Gestapo in seiner Pariser Wohnung. Der 61-Jährige wurde zusammen mit Frau und Tochter in Auschwitz vergast.
Europäisches Institut für Jüdische Musik
Hervé Roten, leitet das Europäische Institut für Jüdische Musik, das vor allem das reiche jüdische Musikerbe in Frankreich und Europa zusammenträgt. © Bettina Kaps
Das Gedächtnis jüdischer Musik
15:50 Minuten
Hervé Roten digitalisiert LPs und VHS, bringt CDs heraus und stellt Noten ins Netz. Der Musikwissenschaftler möchte so jüdische Musik vor dem Vergessen bewahren. In Paris hat er eigens dafür ein Dokumentationszentrum für jüdische Musik gegründet.
Eine Parterre-Wohnung im Süden von Paris. Die Fenster sind blickdicht verhängt. Auf dem Türschild stehen die Buchstaben IEMJ. Wohl kaum ein Passant ahnt, dass sich hinter diesem Kürzel und an diesem unauffälligen Ort eine wahre Schatztruhe verbirgt: das "Europäische Institut für Jüdische Musik".
„Unsere Einrichtung ist ziemlich einzigartig. Wir wollen das gesamte jüdische Musikerbe bewahren, aufwerten und verbreiten“, sagt der Gründer und Leiter des Instituts, Hervé Roten.
Mit Menschen sprechen, um zu bewahren
„Wir veranstalten Konzerte. Wir leisten aber auch alles, was diesen voraus geht. So suchen wir nach jüdischen Liedern, die mündlich überliefert wurden. Dafür gehen wir schon mal zu alten Menschen, nehmen ihre Geschichten und Gesänge auf. Vor allem aber spüren wir handschriftliche Noten und verschollene Partituren auf. Unsere Funde stellen wir allen interessierten Musikern zur Verfügung.“
Ein Beispiel für die vielseitige Arbeit des Instituts ist die Komposition "Hebräische Legende" von Vladimir Dyck. Sie wurde kürzlich bei einem Konzert im „Museum für jüdische Kunst und Geschichte“ von Paris gespielt – vielleicht war es sogar eine Uraufführung, meint Roten. Das Institut hat zudem eine CD mit dem Titel „Hebräische Melodien“ herausgegeben, auf der das Werk zu hören ist. Hervé Roten, ein promovierter Musikwissenschaftler, hat die Biografie des Komponisten recherchiert und auf der Webseite des Instituts veröffentlicht:
„Deshalb ist er völlig in Vergessenheit geraten", sagt Roten. "Die Nationalsozialisten haben nicht nur den Menschen ausgelöscht, sondern auch sein Werk.“
Dycks publizierte Kompositionen sind in der Französischen Nationalbibliothek hinterlegt, aber sein persönliches Archiv ist verschollen. Doch einige Noten sind überraschend wieder aufgetaucht, im Jahr 2011.
„Die Große Synagoge von Paris hat uns damals angerufen. Bei ihr war neben der Orgel und dem Notenarchiv ein Brand ausgebrochen. Die Feuerwehr konnte die Flammen gerade noch rechtzeitig löschen. Aber den Verantwortlichen war klar geworden, dass sie ihren Fundus unbedingt sichern mussten.“
Der Auftrag ging wie selbstverständlich an das "Institut für Jüdische Musik".
„Wir haben 30 laufende Meter an Dokumenten gesichtet. Es herrschte ein großes und furchtbar staubiges Durcheinander. Drei Jahre haben wir gebraucht, bis wir alle Dokumente gesäubert, katalogisiert und digitalisiert hatten. Dabei haben wir die Kompositionen von Vladimir Dyck gefunden.“
Ewige Frage: Was ist eigentlich jüdische Musik?
Seit seiner Gründung vor 16 Jahren hat das Institut nun schon 90.000 Musiktitel, fast 400.000 Seiten an Noten, 1000 Bücher, viele hundert Fotos, Radierungen, Poster und Videos zusammengetragen und digitalisiert. Die Webseite kann in fünf Sprachen abgerufen werden, auch auf Deutsch.
Für mich steht fest: Jüdische Musik ist einzigartig, weil sie so vielfältig ist. Sie ist genauso vielfältig wie die Juden selbst.
Das älteste Dokument stammt aus dem Jahr 1781, es wurde also kurz vor der französischen Revolution gedruckt. Ein katholischer Abt behandelt darin die Poesie und Musik der Hebräer. Viele Fotos des IEMJ stammen schon vom Ende des 19. Jahrhunderts. Sie zeigen Musiker oder musizierende Familien in jüdischer Kleidung. Das bedeute aber nicht, dass ihre Musik religiös war, sagt Roten. Er persönlich habe selbst nach 30-jähriger Beschäftigung mit diesem Feld keine Definition dafür, was jüdische Musik sei.
„Reden wir über die Musik der Juden? Oder über Musik, die in einem jüdischen Rahmen gespielt wurde? So sehen es manche Kollegen. Für mich steht fest: Jüdische Musik ist einzigartig, weil sie so vielfältig ist. Sie ist genauso vielfältig wie die Juden selbst. Sie haben über die ganze Welt verteilt gelebt und überall die Sprachen, Sitten und Einflüsse aufgesogen. Die jüdische Musik gleicht einem Erdreich voller Fossilien. Wer gräbt, macht wunderbare Entdeckungen. Und stets gibt es Verbindungen zu einer Epoche und einem Kulturraum. Unsere jüdischen Komponisten schreiben also keine ´jüdische Musik´. Sie tragen dazu bei, eine universelle Musik zu schaffen. Genau das interessiert mich: der Beitrag des Judentums zur Musik im Allgemeinen.“
Dazu gehört auch Musikförderung wie sie beispielsweise von der wohlhabenden jüdischen Pariser Familie Halphen betrieben wurde. In ihren Salons musizierten viele nicht-jüdische Künstler, wie Gabriel Fauré, Maurice Ravel und Claude Débussy. Einige Briefe zwischen den Komponisten und der Familie Halphen werden im IEMJ aufbewahrt.
Ravel ließ sich von jüdischer Kultur inspirieren
Ravel und andere Nicht-Juden haben sich von der jüdischen Religion und Kultur inspirieren lassen. Für Hervé Roten gehören auch diese Werke zur jüdischen Musik. Auf der CD „Hebräische Melodien“ ist Ravels „Kaddisch“ zu hören – so heißt eines der wichtigsten Gebete des Judentums.
„Allerhand Leute dachten, Ravel sei Jude gewesen. Das war er nicht, aber die jüdische Musik gefiel ihm offenbar. Er hat drei jüdische Melodien komponiert, darunter dieses wunderbare Kaddisch.“
Selbstverständlich interessiert sich das IEMJ auch für liturgische Musik. Der Direktor des Instituts geht voran ins Untergeschoss, wo das Archiv untergebracht ist, ein bis unter die Decke mit Regalen und Dokumentenkästen vollgestopfter Kellerraum. Gleich daneben arbeiten zwei seiner vier Mitarbeiter in einem fensterlosen Büro und archivieren neue Werke. Léa Couderc spielt eine alte Schallplatte mit liturgischen Gesängen ab.
Zu hören ist Kantor Joseph Rosenblatt. Der Tenor aus der Ukraine war zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Europa hinaus bis in die USA berühmt, eine Zeitlang arbeitete er in Hamburg, 1933 starb er in Jerusalem.
„Diese Schallplatte wurde uns von ihrem Besitzer nur geliehen. Ich digitalisiere sie rasch, scanne die Plattenhülle, dann geben wir sie zurück. Die meisten Leute schenken uns ihre Dokumente. Das ist uns noch lieber, weil wir solch ein wertvolles Exemplar dann fachgemäß aufbewahren können. Dieser Gesang steht jetzt schon im Internet. Alle unsere Titel kann man im Ganzen abhören, wenn man in eine Bibliothek geht, die zum Netzwerk Judaica-Hebraica gehört. Wenn man von Zuhause aus auf unser Internet-Portal geht, ist sie in Auszügen zu hören.“
In Deutschland herrscht bisher kein Interesse
Der Name deutet es an: Das „Europäische Institut für Jüdische Musik" bearbeitet vor allem das reiche jüdische Musikerbe in Frankreich und Europa. Kürzlich hat Hervé Roten dafür Kontakte mit Institutionen in Spanien und Italien geknüpft. Und wie steht es mit deutschen Einrichtungen?
„Bisher nicht. Deshalb rufe ich dazu auf: Wir suchen Partner in Deutschland. Den Zentralrat der Juden habe ich schon angesprochen, leider ohne Erfolg. Wir sind für jede Einrichtung offen, die dieses Kulturerbe interessiert. Ich betone: Es handelt sich nicht um Musik von Juden für Juden. Im Gegenteil. Unser Publikum ist breit gefächert, das ist uns wichtig. Wir haben keinen kultischen, sondern einen kulturellen Auftrag, selbst wenn wir liturgische Werke aufbewahren.“
Auch wenn Europa ein Schwerpunkt ist - das Institut kennt keine geografischen und inhaltlichen Grenzen. Gutes Beispiel dafür ist die Tätigkeit von Avner Azoulay. Der junge Mann sitzt vor einem Stapel VHS-Kassetten. Alles Videos mit marokkanischer Musik, die vor mindestens 30 Jahren in Israel aufgenommen worden sind.
„Israel ist ein Melting Pot. Dort leben Einwanderer aus vielen Ländern. Ein jeder hat einen Koffer voller Musik mitgebracht. Manche haben ihre traditionellen Weisen dann mit Orchestern in Israel aufgeführt und vermarktet. Indem ich diese Musik archiviere, kann ich jungen Franzosen beweisen, dass es auch anderswo jüdische Musik gegeben hat.“
Mündliche Überlieferungen am Leben erhalten
Azoulays Familie stammt selbst aus dem arabischen Raum: Der Vater kommt aus Marokko, die Mutter aus Tunesien. Avner spricht Hebräisch und Arabisch. Während er die Videofilme abspielt, notiert er den jeweiligen Inhalt und digitalisiert die Lieder. Die europäischen, aschkenasischen Juden hätten ihre Musik oft schriftlich festgehalten. In der orientalischen, sephardischen Welt hingegen sei vieles nur mündlich überliefert worden, von Ohr zu Ohr. Deshalb sei seine Archiv-Arbeit besonders wichtig.
„Ich wage einen Vergleich: Wir schreiben hier die Bibel der sephardischen Musik der Juden. Liturgische Gesänge, Folklore, die Musik von Familienfesten und Feiern. Wir wollen soviel wie möglich bewahren. Jede Katalogisierung ist ein weiterer Baustein im jüdischen Musik-Gedächtnis.“
Auch Avner hat sein musikalisches Wissen größtenteils mündlich erworben: von seinem Vater. Dieser hat jahrelang eine Radiosendung mit orientalischer Musik betreut. Heute sorgt der Sohn dafür, dass die orientalische Musik der Juden nicht nur konserviert, sondern am Leben erhalten wird. Ein Mal pro Woche strahlt er auf einem jüdischen Community-Sender die Musiksendung „Le festival oriental“ aus.
Dabei bedient er sich im Archiv des IEMJ. Zum Beispiel mit diesem Hit von Line Monty. Die Diva wurde 1926 unter in Algier geboren und sang zunächst nur auf Arabisch.
„Den schönsten Beweis dafür, dass meine Arbeit sinnvoll ist, haben mir muslimische Taxifahrer in Paris geliefert. Sie haben gesagt: ‚Im jüdischen Radio läuft bessere Musik als auf den arabischen Kanälen. Eure Klassiker erinnern uns an unsere Kindheit. Diese Musik haben unserer Eltern und Großeltern gehört.´ Lieder wie ‚Ya Oummi, Ya Oummi‘ beweisen, dass es in den arabischen Ländern ein goldenes Zeitalter zwischen Juden und Muslimen gegeben hat. Meine Eltern erzählen mir davon. Vielleicht ist diese Musik heute eins der wenigen Mittel, um die vielen Probleme und Spannungen zu vergessen. Weil sie bei Juden und Muslimen ähnliche Emotionen wecken.“
Einen Überblick über den breiten Umfang ihrer Arbeit gibt auch eine Vitrine mit den vielen CDs, die das Institut herausgegeben hat. Eine Reihe mit dem Namen „Musikerbe der Juden Frankreichs“ basiert auf musikwissenschaftlichen Recherchen. Hier findet man beispielsweise Musik der Juden, die im 14. Jahrhundert in der Provence lebten, unter dem Schutz der Päpste von Avignon. Eine CD der Klassik-Reihe ist den hebräischen Werke von Jacques Offenbach gewidmet. Der berühmte Operetten-Komponist hat seine musikalische Inspiration teils aus den Synagogengesängen geschöpft, die er als Kind bei seinem Vater Isaac Offenbach gelernt hatte.
Auf private Fördermittel angewiesen
In den besten Jahren habe sein Institut vier CDs pro Jahr herausgebracht, sagt Roten. Das schafft er heute nicht mehr. Obwohl das IEMJ gemeinnützige Arbeit leistet, erhält es keine öffentlichen Zuschüsse. Das Jahresbudget beträgt nur 300.000 Euro und diese Summe ist nicht garantiert. Hervé Roten investiert daher viel Zeit und Energie, um private Fördermittel aufzutreiben. Davon hängt ab, was er und seine Kolleg:innen verwirklichen können.
„Wir kennen unsere Grenzen. Mit unseren bescheidenen Mittel schaffen wir die Voraussetzungen, dass andere dieses Musikerbe spielen und neu beleben können. Viele Musiker entwickeln die jüdische Musik weiter. Das spiegelt unsere CD-Reihe ‚Découvertes‘ wieder. Da haben wir Jazz mit jüdischen Liedern. Oder Musiker, die Klezmer mit südamerikanischer Salsa-Musik vermischen. Oder aber die Begegnung von jüdisch-spanischen Melodien mit bulgarischer Polyphonie. Wir sind die Vermittler.“
Sein geheimer Wunsch: sein eigener Konzertsaal, dann könnte er der jüdisch-inspirierten Musik und ihren Interpreten noch mehr Geltung verschaffen.