Das Gefängnistheater
Mörder, Einbrecher, Drogendealer - das ist das Ensemble der Justizvollzugsanstalt Tegel in Berlin. Jedes Jahr machen die Häftlinge die JVA zur Bühne - in diesem Sommer hat die Inszenierung "Hannibal/Wolokolamsker Chaussee" nach Christian Dietrich Grabbe und Heiner Müller Premiere.
Maxi gibt Anweisungen und singt glockenhell vor: "Oh Haupt von Blut und Wunden". Christian gibt vor, brummender Männerchor stimmt ein: "Oh Haupt voll Blut und Wunden" – rhythmisches Stampfen.
Der Schauspieler: "Kunst ist es dann, wenn wir Tatsache die Aufführung bringen und die Leute dann aufstehen und Standing Ovations verpassen, was letztes Jahr gewesen ist. Das fand ich - uaaah – erhebend."
Der Regisseur: "Wer damit konfrontiert wird, wird sagen: Moment, ich war doch da drin, und die waren doch eigentlich ganz in Ordnung, und warum soll man denen keine Chance gegeben."
Der Sozialpädagoge: "Unglaubliche Talente entdecken wir eigentlich in jeder Produktion. Das heißt aber nicht, dass die danach alle nach Hollywood gehen oder im deutschen Film dann aktiv werden."
Der Kultursaal. Und was für einer: Groß wie ein Fußballfeld, hoch wie eine Kathedrale. Hellgelbe Wände, Fenster für Riesen. Auf den ersten Blick: Sprossen. Auf den zweiten Blick: Die Sprossen sind Gitter. Und die Glasscheiben dick wie in einer Bank.
Männer laufen herein. Große, kleine, dicke dünne, starke, schwache, blonde, dunkle, alte, junge, große, kleine, schöne und hässliche. Alle lächeln, alle strecken die Hand aus. Mörder, Kinderschänder, Drogendealer – das Theater-Ensemble der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel.
An die Eingangstür gelehnt schaut Lars Hoffmann, der Leiter der sozialpädagogischen Abteilung, ihnen zu. Kurzhaarschnitt, blaues Hemd, Hände in den Hosentaschen. Seit zwölf Jahren arbeiten die JVA Tegel und das Gefängnistheaterprojekt "Aufbruch – Kunst Gefängnis Stadt" zusammen. In dieser Kontinuität ist das einzigartig, sagt Hoffmann. Sein Ziel ist:
"dass wir damit als Gefängnis es schaffen, der interessierten Öffentlichkeit auch mal ein anderes Bild von Vollzug zu vermitteln. Also nicht immer nur die negativen Schlagzeilen in der Boulevardpresse:‚Wieder ein Knacki nicht wieder gekommen’ oder wieder das oder jenes passiert, sondern zu zeigen, wozu Gefangene auch fähig sind im Positiven."
In einem Monat erwartete Lars Hoffmann 150 Besucher im Tegeler Knast. Sie geben ihre Portemonnaies, Ausweise und Handys an der Pforte ab, lassen sich durch zig Gittertüren schließen, um das Schauspiel der Häftlinge zu sehen – ein Spektakel für beide Seiten.
Hoffmann schaut wieder in den Saal., sieht, wie die Gefangenen sich um die Theaterleute drängen: Maxi, die Choreografin, die Produzentin Sybille und der Regisseur Peter Atanassow. Atanassow trägt schwarz, auf dem Kopf eine Arbeitermütze, dazu rotblonde Koteletten und eine schwarze Intellektuellenbrille. In der Hand das Textbuch: "Hannibal und Wolokolamsker Chaussee". Eine Atanassow-Mischung aus Christian Dietrich Grabbes "Hannibal" und Heiner Müllers Drama. "Zwei deutsche Klassiker – ein Stück europäisch-deutsche Geschichte", sagt der Regisseur.
"Der Untergang Karthagos ist auf einer schiefen Geschichtsebene mit dem Untergang des Ostblocks zu vergleichen. Wissenschaftlich ist das schwer, wir sind auch keine Wissenschaftler, (....) aber über Bilder über Formen gelingt es plötzlich Zeitbezüge herzustellen, die uns ne Erkenntnis geben über Geschichte und über unsere Vergangenheit."
Kein Sozial- oder Spaßtheater, sondern schwerer Stoff für harte Jungs. Im Knast wird Kunst gemacht. Über die "Spartacus"-Aufführung im letzten Jahr berichtete das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Der Kritiker war begeistert.
Hinter Atanassows Kopf sind Stühle aufgereiht. Auf den Lehnen wie in Hollywood die Namen seiner Schauspieler: Wolfgang, Kurt, Faruk, Vito, Boban, Bibo, Volker, Christian, Süleyman, Denny. Am Süleyman-Stuhl bindet sich einer die schweren Schnürstiefel zu. Von hinten sieht er kerlig aus: Groß mit breiten, abfallenden Schultern. Durch die blauen Streifen auf dem weißen Sportshirt sehen sie wie Flügel aus. Die Haare sind abrasiert, schwarz und dicht - bis auf zwei Narben am Hinterkopf. Dann dreht sich Süleyman um. Das Gesicht ist rund und offen, fast kindlich, mit Grübchen in den Wangen.
Sülo nennen sie ihn. Fünf Jahre ist der 36-Jährige in Tegel – mit 40 will er draußen sein. Sein Delikt: Totschlag. Lieber redet er übers Theater, sagt Sülo. Das Knasttheater ist sein erstes seit er mit der Grundschulklasse "Schneewittchen" besucht hat:
"Nee, außerhalb der Mauern nicht, nee. Ich hab auch nie gedacht, dass ich irgendwann hier Theater spielen würde. Ich bin mit dem Gedanken mal hier reingekommen, mal gedacht: ‚Probierstes einfach mal’ - und wenn man einmal drin ist, dann ist es natürlich nicht mehr so einfach wieder rauszukommen, weil vor den Kumpels will man auch nicht so blöd dastehen und macht es auch."
Bis drei Uhr hat Sülo als Tischler in den Werkstätten der JVA gearbeitet. Von drei bis acht probt er mit dem Aufbruch-Team. Die 60-Stunden-Woche macht ihm nichts aus, sagt er und lächelt:
"Das ist ne Lustsache (...). Ne bestimmte Freiheit hat man schon beim Theater, das ist eigentlich auch die Hauptsache und der Spaß natürlich, der Spaßfaktor."
"Ok, gut Kollegen, dann lasst uns anfangen – heute haben wir ein straffes Programm."
Maxi, die Choreografin, reckt einen dünnen Arm in die Luft: Alle antreten zum Proben, heißt das: Sülo und die anderen Männer wimmeln so lange durcheinander, bis sie im Block stehen – ein geordnetes Gruppenbild:
"Ganz kurz Trockenprobe: ‚Oh Täler weit, oh Höhen’ – Auftakt gibt jetzt mal Sülo von der Seite: ‚Oh Täler weit oh Höhen’."
Der Chor steht schief. Wie ein Haus, das gerade auseinander bricht. Die einen sacken nach links ab, andere nach rechts oder nach vorne oder nach hinten. Ungerade Rücken und hängende Schultern, stippende Bäuche und krumme Beine – mitgenommene Körper in Reih und Glied. Die Disziplin sieht wackelig aus.
"1,2,3,4: ‚In den Sumpf, in den Sumpf’ – jetzt bitte kräftig deutlich sprechen, sonst kommt am Ende nur urgmbrfsdghsumpfMal. Sülo, gib bitte vor: ‚In den Sumpf, in den Sumpf, in den Sumpf’."
Szenenwechsel. Nach den Musikproben im Kultursaal gehen Sülo und die anderen Ensemble-Mitglieder in den Freiganghof.
"Man muss sich ja auch ständig die Sprüche von den Leuten anhören: ‚Du spielst Theater.’ Dann tun die so, als ob die ganz cool wären, dabei ist es gar nicht so einfach hier zu spielen. Die trauen sich das nicht, aber sagen das nicht so, sondern sagen: ‚Theater ist doof.’ So einfach ist das."
Der Freiganghof – hier ist die Bühne, hier findet nächsten Monat die Premiere statt. Bis dahin wird geprobt. Sieben Wochen lang jeden Tag über vier Stunden – wie die Profis. Der Hof ist eine Wiese, groß wie ein Fußballfeld. An zwei Seiten dann ein Blick auf den Knast wie aus dem Drehbuch: Backsteinwände aus der Gründerzeit, gerastert von vergitterten Fenstern. Sie sind der Länge nach durchnummeriert, in der Breite zählt man die Etagen - das Orten funktioniert wie beim Schiffeversenken: 3F, 4G oder 1S.
Berühmte Gefangene wie Bubi Scholz und Carl von Ossietzky oder die Literaturhelden Franz Biberkopf aus "Berlin Alexanderplatz" und der "Hauptmann von Köpenick" sitzen hier ein.
Auf den andern beiden Seiten umranden zwei graue Betonklötze aus den 70ern das Areal. Dort sind die Werkstätten, weiter hinten eine Bäckerei und natürlich eine Kirche, deren Turm über alle Dächer ragt - die JVA ist die etwas andere Stadt in der Stadt und mit 1700 Insassen das größte deutsche Gefängnis.
Auf der Wiese sind zwei Sperrholzgebirge aufgebaut. Sülo geht mit der halben Truppe dorthin - sie sind die Karthager. Ihre Gegenspieler, die Römer, schleppen Decken und Thermoskannen, einen Campingtisch und Tassen an. Die Älteren ziehen die T-Shirts aus und legen sich mit ihren weißen Bäuchen auf die hautfarbenen Wolldecken. "Stadt Berlin" steht am Rand und das Jahr der Herstellung: 1976.
Die Römer haben jetzt Pause. Einer kommt. Christian kommt vom Kaffeetisch herüber:
" Die Römer sind natürlich die Guten, also sollen sie sein in dem Stück - sind natürlich auch böse, denn die haben ja eine ganze Menge Schindluder getrieben. Aber ansonsten ist Hannibal der Angreifer und Rom der Verteidiger."
Christian guckt gerade durch seine dünnrandige Brille. Er trägt die informelle Knastuniform: Shirt und Jogginghose - bei Christian in grau. Er setzt sich. Wie alle im Ensemble hat er sich für die Mitarbeit hier beworben.
"Es gab natürlich ne ganze Menge Anfragen, allerdings ist es ja so, dass man hier durch eine Art Sicherheitsschleuse muss. Man wird überprüft, ob man dafür geeignet ist. Manche kommen dann, gucken sich das an, sind aber nicht so sehr begeistert, weil das zu viel Arbeit ist für die. Dann bleibt so ein Haufen, sag ich mal, zwischen 25 und 30 Personen. Das sortiert sich von alleine."
Im Laufe der Probenarbeit sortiert sich auch, wer eine Hauptrolle bekommt oder einen Platz im Chor. Dabei bleiben sollen alle. Christian spielt schon seit Jahren im Knasttheater mit.
"Das Schauspielern, das macht so viel Spaß einfach aus dem Grunde: Man kann mal von sich aus ablenken, man muss nicht immer an den Gedanken zurück: ‚Du bist im Knast und hast das und das zu tragen’, sondern man kann Spaß haben an der Sache, weil das soll das ja sein. Wir werden ja nicht bezahlt, wie Schauspieler draußen, sondern das ist wirklich nur Spaß an der Freude."
Christian zeigt seine Rolle im Textbuch: Er ist der Priester der Römer.
"Wenn wir die Eröffnungsszene haben, ist es ja so, dass wir den Chor geben, und nach dem Chor ziehen wir uns alle ganz schnell um. Und dann, dass ich dann in Würde auftreten kann als Priester, das ist für mich die schönste Szene."
Im Stück bringt der Priester Christian die Römer wieder auf Linie, damit sie sich den angreifenden Karthagern entgegen setzen.
"Auch wenn ich ne Rolle spiele, bin ich ja immer noch ich selber, und je besser ich spiele, desto besser repräsentiere ich mich auch und natürlich möchte ich gut sein (...), ich möchte dem Publikum auch gefallen. Aber das mache ich wahrscheinlich auch nur, um mich wieder einzugewöhnen ins Leben. Weil vorher, hier drin, hat es ja niemanden interessiert, was ich gemacht habe, oder was ich nicht gemacht habe (...). Ich möchte wieder in die Gesellschaft zurück und nächstes Jahr werde ich hoffentlich entlassen - endlich - und das ist für mich auch ein Stück Vorbereitung mit Menschen umzugehen, die von draußen kommen."
Ein tiefer Zug aus der Selbstgedrehten. Im Frühling 2009 ist Christian das erste Mal draußen. Das erste Mal seit 1984. Besuch bekommt der 44-Jährige schon lange nicht mehr. Als er vor einigen Jahren krank wird, gibt er seine Arbeit auf, sitzt nun fast den ganzen Tag in der Zelle. Knastalltag rund um die Uhr.
"Es gibt manche, die haben einen Porsche vor der Tür, die haben ein Schweizer Bankkonto oder sind die schärfsten Dealer gewesen, die größten Bosse - und im Endeffekt hat man fest gestellt, dass das die größten Mitläufer gewesen sind und sich hier nur groß gemacht haben, um nicht angegriffen zu werden, weil hier gibt’s Hierarchien. Hier erfindet sich jeder jeden Tag neu. Hier im Theater ist es so, hier kann man sich nicht jeden Tag neu erfinden, hier kann man sich nur besser kennen lernen."
An den Theaternachmittagen sind sie alle gleich: Christian der Langzeitinsasse, die Neuköllner Drogenbosse, die Trickbetrüger, die Schwarzfahrer – ein kleiner Ausbruch in die Kunstwelt.
Drüben bei den Sperrholzgebirgen fuchtelt Regisseur Atanassow mit den Armen: Zeit für die Atemübungen. Christian geht mit den Römern rüber in die Mitte des Freihofganges zu den Karthagern. Alle bilden einen Kreis. Die Schauspieler schlabbern mit den Lippen wie Pferde. Schwitzende Stirnen auf roten Gesichtern – die Sonne knallt.
In den Zellenfenstern am Rande des Hofes lehnen die Mitgefangenen. "Jetzt aber mal Ruhe, ich will schlafen", schreien sie rüber. Oder "Quatschköppe, Idioten, so ein Scheiß". Halb sechs. Zeit für die Textprobe. Die Karthager erklettern das Sperrholzgebirge, die Alpen-Kulisse.
"Rom will uns zwingen, nach seinen Gesetzen zu leben. Doch selbst hält es sich nicht an Gesetze – können wir das länger hinnehmen?
- Nieder mit den Römern!"
Sülo, der erste von rechts in der vordersten Reihe, spricht den ganzen Text tonlos mit, wippt dabei immer ein bisschen nach vorne, als wäre er auf dem Sprung. Sein Nachbar nickt jeden Satz ab. Einer trägt den Text wie eine schlecht sitzende Armverlängerung vor sich her. Ein kleiner Dicker hält die Blätter wie eine Frau im Arm.
"Für Willkür, gegen Unterdrückung!
- Dann müsst ihr jetzt auch kucken, und zwar auf Sülo. Sülö gibt das Zeichen, wir marschieren."
Peter Atanassow nickt zufrieden, schaut von den Karthagern rüber zum Römerpodest. Auf der Bühne ist der Kampf um Rom ein Zweikampf. Karthago, Rom. Hannibal, Wolokolamsker Chaussee, der Chor und der Einzelne. Die Struktur soll den Schauspielern Halt geben, sagt der Regisseur. Und, dass sich die Knackis in dem Drama wieder finden.
"Erstens: Es geht um eine Armee, die aus vielen verschiedenen Volksgruppen besteht - das ist hier im Knast natürlich auch so. Es sind viele Nationalitäten und das Gefängnis ist eine militärische Struktur. Es ist die Logistik, es sind die Hierarchien, es ist auch das Verhalten der Leute untereinander, ist eine quasi militärische Struktur und das ist natürlich eine ganz wesentliche Verbindung."
Der Regisseur kneift die Augen zusammen, beobachtet die Schauspieler genau. Seine Römer sind keine Schauspieler im modernen Sinne, also solche mit Psyche. Eher deklamieren die Gefangenen wie antike Schauspieler, sagt Peter Atanassow.
Sechs Wochen später, ein später Nachmittag im Sommer: der Premierenabend. 150 Menschen wollen ins Gefängnis. Boxen mit Schließfächern am Eingang der JVA Tegel in Berlin. Wer rein will, muss alle persönlichen Gegenstände abgeben: Portemonnaie, Handy, Schlüssel.
"Alles außer Ausweis, man nimmt die Eintrittskarte mit, ansonsten muss alles weggesteckt werden."
Ohne den ganzen Kram, der draußen zum Ich gehört, stehen die Theatergäste da mit nichts in der Hand als dem Personalausweis - der Grusel des Knasttourismus. Eine ältere Besucherin mit akkurater Frisur:
"Das ist ne sehr schlimmer Erfahrung, wenn man alles abgeben muss und dann wirklich eingeschlossen ist. Dass man überhaupt reinkommt, ist so schwierig. Und dann bekommt man regelrecht Platzangst, weil man das nicht gewöhnt ist, alles abzugeben und nicht einfach wieder raus zu kommen."
Ein Mann mit Lederjacke und grauen Locken, Beruf Schauspieler, steckt die Eintrittskarte in die Jeanstasche.
"Ich glaube, die haben was zu sagen. Also ich glaube schon - auch Laien - wenn die ihr Thema finden, dann finden die auch ihre Ausdrucksform mit Hilfe von Profis. Ich bin sehr gespannt, habe viel Gutes gehört - das soll sehr, sehr mächtig und sehr kraftvoll sein und beeindruckend."
Nur mit den Tickets in der Hand, dürfen die Gäste in den Freiganghof - ihre Eintrittskarte in die Welt da drinnen. Um das Römerpodest und die Sperrholzalpen herum stehen zwei Tribünen im rechten Winkel. Hinter diesem Vordergrund sehen die malerischen Backsteinmauern der JVA-Tegel aus wie ein schönes Theaterbild, das viele Assoziationen erlaubt: drinnen und draußen, Gewalt und Stillstand, Schuld und Sühne, Struktur und Hierarchie.
Frauen in avantgardistischen Capes und eine dicke Mutti mit Leopardenkopftuch und langem schwarzen Mantel sind gekommen, Männer im Pullunder und Mädchen mit Nasenringen, junge Anzugträger und alte Männer in Teenie-Lederjacken, echte Teenager in superengen Jeans und Damen im Kleid. Mitarbeiter der Senatsverwaltung sitzen in der Abendsonne. Sie wollen sehen, was das Aufbruch-Team und die Gefangenen mit ihren Fördergeldern aus dem Ressort Kultur machen.
Es geht los. Ein Massenkörper aus Männern rückt an: Auftritt der Römer, die schneeweiße Laken am Körper tragen:
"Mythologie: Wir geben heute die Geschichte des Feldherren Hannibal und seines Kampfes gegen Rom. Rom und Karthago kämpften am Mittelmeer um die Vormacht."
Ausschwingende Arme, Griffe ans Herz - die Gesten im Gefängnistheater sind groß. Auf dem goldenen Römerpodest tritt Christian vor, jetzt Priester im vollen, der Auftritt in Würde - sein Lieblingsmoment:
"Einer wird kommen, der die Gebirge durchzieht, eine entsetzliche Schlange… lechzt nach gewaltigem Kriege."
Die Souffleuse hat gut zu tun an dem Abend. Immer mal wieder bleibt einer im Text stecken. Die, die den Text noch wissen, geben alles. Sie schreien als müssten sie ein ganzes Amphitheater beschallen.
"Rom hat uns beleidigt. Rom will uns zwingen, nach seinen Gesetzen zu leben – wollen wir das länger hinnehmen? Nieder mit den Römern. Rom provoziert uns."
Die Karthager in ihren schwarzen Klamotten sehen aus wie urbane Underdogs. Der Marsch auf Rom soll diesen - so sagen die Römer - Barbaren reiche Beute bringen.
Am Ende des Stückes ziehen die Schauspieler wie Fußballspieler nach dem Spiel ihre Kostümjacken aus und stehen in Unterhemden da. Da sind sie wieder die Dicken und Dünnen, die Tätowierten und Behaarten, die Schmerbäuchigen und Durchtrainierten. Sie sind wieder zu sehen, nach 70 Minuten unter den Theaterkleidern. Kunst trifft auf Realität:
"Ich weiß, was ihr gebaut habt: ein Gefängnis. Wenn morgen hinter dir die Tür ins Schloss fällt, weißt du den Unterschied - Gefängnis."
Lachende Schauspieler, mehrere Male werden sie auf die Bühne geklatscht. Siegesfäuste recken sich in den Himmel, rote Rosen und Küsschen für alle. Die Premierenparty kann beginnen.
Ein Tapeziertisch-Büffet mit Knabberzeugs, Kuchen und Knoblauchwürsten. Häftlinge, Schauspieler, Angehörige, Theaterfreunde und Aufbruch-Mitarbeiter balancieren Pappteller durch die Menge. Die von draußen begegnen jetzt offiziell denen von drinnen.
Ein korrekt aussehender Mann in Hemd und Jeans: "Wenn man jetzt mal so eine Gruppe von 27 Mann casten würde, dann würde man, glaube ich, außerhalb dieser Mauern - so eine Gruppe könnte man gar nicht zusammen stellen, so unterschiedlich wie die alle aussehen - von der Größe, von der Statur."
Eine rothaarige Schriftstellerin: "Die spielen mit sehr große Wucht, Leidenschaft - viel mehr Natürlichkeit ist drin, dass die vergessen die Rolle weiter zu sprechen. Das gehört dazu, und das finde ich toll."
Und ein gut gelauntes Pärchen mit vollen Papptellern: "Einer hat uns sehr freimütig erzählt von seiner Beziehung, von seiner Heirat hier - inklusive seiner Hochzeitsnacht im Knast."
Sülo läuft mit einem Teller und Weintrauben in Richtung Tribüne. Acht Frauen erwarten ihn dort. In der Menge steht Christian, der ewige Gefangene und Römer:
"Ich kann gar nicht richtig sprechen."
Zwanzig Jahre ohne Besuch von draußen, jetzt ist der Abend des Small-Talks endlich da. Breit lächelnd redet Christian mit den Premierengästen. Eine Familie kennt er schon vom letzten Jahr.
"Gesundheitlich ist es auch besser geworden?
- Ja, einigermaßen,. Ich hab mit jetzt noch Alterdiabetes eingefangen.
Gesund leben, das haben Sie ja hier gelernt, viel Schlaf - man kann auch viel dagegen tun: Bewegung, Radfahren.
- Na toll, wie soll ich denn hier Radfahren?"
Die Besucher kommen aus einem Vorort im Osten von Berlin. Als Christian 1984 ins Gefängnis geht, steht die Mauer noch. Ob er mal in Ostberlin war?
"Für mich steht die Berliner Mauer noch. Ich hörte davon, aber ich hab’s noch nicht gesehen. Ich bin Westberliner durch und durch. Ich weiß nicht, ob ich was versäumt habe oder nicht. Ich habe ein paar Dokumentationen gesehen. Nee, nicht wirklich. Ich kann mich da nicht hinein versetzen.
- Wenn du das von den Dokumentationen abliest, dann liegst du da vollkommen schief.
Ja, würde ich auch sagen, weil das Leben war ein ganz anderes.
- Aber wie sieht’s denn aus, wollen wir ein Break machen, und was essen gehen?"
Auf dem Weg zum Büffet winkt Christian dem Regisseur Peter Atanassow zu. Der sagt gerade in eine Fernsehkamera, dass er zufrieden ist mit dem Abend. Seine Vision:
"Ich glaube, die Tendenz wird dahin gehen, dass viel mehr nicht-ausgebildete Leute auch Theater spielen, weil es eher darum geht, das Theater als eine Art Forum zu benutzen, um etwas über Geschichte, Historie oder über Gesellschaft zu erzählen (…) - und das hat ne neue soziale Funktion von Theater und von Kunst."
Christian geht weiter zum Büffet, lädt sich noch schnell den Pappteller voll. Nach einer Stunde ist Schluss mit dem Partyspaß. Die Wärter sind da, um die Schauspieler in ihre Zellen zurückzubringen. Christian nimmt einen letzten Schluck Wasser:
"Wir müssen leider aufhören."
Im Gehen sagt er noch, dass er im Herbst draußen mitspielt. Das ist der zweite Teil der Inszenierung, die außerhalb der Knastmauern aufgeführt wird. Auch als Entlassener will Christian noch mitspielen. Dann wird aus dem Gefängnistheater ein Resozialisierungsprojekt. Für heute fällt das Gitter ins Schloss. Ende der Vorstellung.
Der Schauspieler: "Kunst ist es dann, wenn wir Tatsache die Aufführung bringen und die Leute dann aufstehen und Standing Ovations verpassen, was letztes Jahr gewesen ist. Das fand ich - uaaah – erhebend."
Der Regisseur: "Wer damit konfrontiert wird, wird sagen: Moment, ich war doch da drin, und die waren doch eigentlich ganz in Ordnung, und warum soll man denen keine Chance gegeben."
Der Sozialpädagoge: "Unglaubliche Talente entdecken wir eigentlich in jeder Produktion. Das heißt aber nicht, dass die danach alle nach Hollywood gehen oder im deutschen Film dann aktiv werden."
Der Kultursaal. Und was für einer: Groß wie ein Fußballfeld, hoch wie eine Kathedrale. Hellgelbe Wände, Fenster für Riesen. Auf den ersten Blick: Sprossen. Auf den zweiten Blick: Die Sprossen sind Gitter. Und die Glasscheiben dick wie in einer Bank.
Männer laufen herein. Große, kleine, dicke dünne, starke, schwache, blonde, dunkle, alte, junge, große, kleine, schöne und hässliche. Alle lächeln, alle strecken die Hand aus. Mörder, Kinderschänder, Drogendealer – das Theater-Ensemble der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel.
An die Eingangstür gelehnt schaut Lars Hoffmann, der Leiter der sozialpädagogischen Abteilung, ihnen zu. Kurzhaarschnitt, blaues Hemd, Hände in den Hosentaschen. Seit zwölf Jahren arbeiten die JVA Tegel und das Gefängnistheaterprojekt "Aufbruch – Kunst Gefängnis Stadt" zusammen. In dieser Kontinuität ist das einzigartig, sagt Hoffmann. Sein Ziel ist:
"dass wir damit als Gefängnis es schaffen, der interessierten Öffentlichkeit auch mal ein anderes Bild von Vollzug zu vermitteln. Also nicht immer nur die negativen Schlagzeilen in der Boulevardpresse:‚Wieder ein Knacki nicht wieder gekommen’ oder wieder das oder jenes passiert, sondern zu zeigen, wozu Gefangene auch fähig sind im Positiven."
In einem Monat erwartete Lars Hoffmann 150 Besucher im Tegeler Knast. Sie geben ihre Portemonnaies, Ausweise und Handys an der Pforte ab, lassen sich durch zig Gittertüren schließen, um das Schauspiel der Häftlinge zu sehen – ein Spektakel für beide Seiten.
Hoffmann schaut wieder in den Saal., sieht, wie die Gefangenen sich um die Theaterleute drängen: Maxi, die Choreografin, die Produzentin Sybille und der Regisseur Peter Atanassow. Atanassow trägt schwarz, auf dem Kopf eine Arbeitermütze, dazu rotblonde Koteletten und eine schwarze Intellektuellenbrille. In der Hand das Textbuch: "Hannibal und Wolokolamsker Chaussee". Eine Atanassow-Mischung aus Christian Dietrich Grabbes "Hannibal" und Heiner Müllers Drama. "Zwei deutsche Klassiker – ein Stück europäisch-deutsche Geschichte", sagt der Regisseur.
"Der Untergang Karthagos ist auf einer schiefen Geschichtsebene mit dem Untergang des Ostblocks zu vergleichen. Wissenschaftlich ist das schwer, wir sind auch keine Wissenschaftler, (....) aber über Bilder über Formen gelingt es plötzlich Zeitbezüge herzustellen, die uns ne Erkenntnis geben über Geschichte und über unsere Vergangenheit."
Kein Sozial- oder Spaßtheater, sondern schwerer Stoff für harte Jungs. Im Knast wird Kunst gemacht. Über die "Spartacus"-Aufführung im letzten Jahr berichtete das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Der Kritiker war begeistert.
Hinter Atanassows Kopf sind Stühle aufgereiht. Auf den Lehnen wie in Hollywood die Namen seiner Schauspieler: Wolfgang, Kurt, Faruk, Vito, Boban, Bibo, Volker, Christian, Süleyman, Denny. Am Süleyman-Stuhl bindet sich einer die schweren Schnürstiefel zu. Von hinten sieht er kerlig aus: Groß mit breiten, abfallenden Schultern. Durch die blauen Streifen auf dem weißen Sportshirt sehen sie wie Flügel aus. Die Haare sind abrasiert, schwarz und dicht - bis auf zwei Narben am Hinterkopf. Dann dreht sich Süleyman um. Das Gesicht ist rund und offen, fast kindlich, mit Grübchen in den Wangen.
Sülo nennen sie ihn. Fünf Jahre ist der 36-Jährige in Tegel – mit 40 will er draußen sein. Sein Delikt: Totschlag. Lieber redet er übers Theater, sagt Sülo. Das Knasttheater ist sein erstes seit er mit der Grundschulklasse "Schneewittchen" besucht hat:
"Nee, außerhalb der Mauern nicht, nee. Ich hab auch nie gedacht, dass ich irgendwann hier Theater spielen würde. Ich bin mit dem Gedanken mal hier reingekommen, mal gedacht: ‚Probierstes einfach mal’ - und wenn man einmal drin ist, dann ist es natürlich nicht mehr so einfach wieder rauszukommen, weil vor den Kumpels will man auch nicht so blöd dastehen und macht es auch."
Bis drei Uhr hat Sülo als Tischler in den Werkstätten der JVA gearbeitet. Von drei bis acht probt er mit dem Aufbruch-Team. Die 60-Stunden-Woche macht ihm nichts aus, sagt er und lächelt:
"Das ist ne Lustsache (...). Ne bestimmte Freiheit hat man schon beim Theater, das ist eigentlich auch die Hauptsache und der Spaß natürlich, der Spaßfaktor."
"Ok, gut Kollegen, dann lasst uns anfangen – heute haben wir ein straffes Programm."
Maxi, die Choreografin, reckt einen dünnen Arm in die Luft: Alle antreten zum Proben, heißt das: Sülo und die anderen Männer wimmeln so lange durcheinander, bis sie im Block stehen – ein geordnetes Gruppenbild:
"Ganz kurz Trockenprobe: ‚Oh Täler weit, oh Höhen’ – Auftakt gibt jetzt mal Sülo von der Seite: ‚Oh Täler weit oh Höhen’."
Der Chor steht schief. Wie ein Haus, das gerade auseinander bricht. Die einen sacken nach links ab, andere nach rechts oder nach vorne oder nach hinten. Ungerade Rücken und hängende Schultern, stippende Bäuche und krumme Beine – mitgenommene Körper in Reih und Glied. Die Disziplin sieht wackelig aus.
"1,2,3,4: ‚In den Sumpf, in den Sumpf’ – jetzt bitte kräftig deutlich sprechen, sonst kommt am Ende nur urgmbrfsdghsumpfMal. Sülo, gib bitte vor: ‚In den Sumpf, in den Sumpf, in den Sumpf’."
Szenenwechsel. Nach den Musikproben im Kultursaal gehen Sülo und die anderen Ensemble-Mitglieder in den Freiganghof.
"Man muss sich ja auch ständig die Sprüche von den Leuten anhören: ‚Du spielst Theater.’ Dann tun die so, als ob die ganz cool wären, dabei ist es gar nicht so einfach hier zu spielen. Die trauen sich das nicht, aber sagen das nicht so, sondern sagen: ‚Theater ist doof.’ So einfach ist das."
Der Freiganghof – hier ist die Bühne, hier findet nächsten Monat die Premiere statt. Bis dahin wird geprobt. Sieben Wochen lang jeden Tag über vier Stunden – wie die Profis. Der Hof ist eine Wiese, groß wie ein Fußballfeld. An zwei Seiten dann ein Blick auf den Knast wie aus dem Drehbuch: Backsteinwände aus der Gründerzeit, gerastert von vergitterten Fenstern. Sie sind der Länge nach durchnummeriert, in der Breite zählt man die Etagen - das Orten funktioniert wie beim Schiffeversenken: 3F, 4G oder 1S.
Berühmte Gefangene wie Bubi Scholz und Carl von Ossietzky oder die Literaturhelden Franz Biberkopf aus "Berlin Alexanderplatz" und der "Hauptmann von Köpenick" sitzen hier ein.
Auf den andern beiden Seiten umranden zwei graue Betonklötze aus den 70ern das Areal. Dort sind die Werkstätten, weiter hinten eine Bäckerei und natürlich eine Kirche, deren Turm über alle Dächer ragt - die JVA ist die etwas andere Stadt in der Stadt und mit 1700 Insassen das größte deutsche Gefängnis.
Auf der Wiese sind zwei Sperrholzgebirge aufgebaut. Sülo geht mit der halben Truppe dorthin - sie sind die Karthager. Ihre Gegenspieler, die Römer, schleppen Decken und Thermoskannen, einen Campingtisch und Tassen an. Die Älteren ziehen die T-Shirts aus und legen sich mit ihren weißen Bäuchen auf die hautfarbenen Wolldecken. "Stadt Berlin" steht am Rand und das Jahr der Herstellung: 1976.
Die Römer haben jetzt Pause. Einer kommt. Christian kommt vom Kaffeetisch herüber:
" Die Römer sind natürlich die Guten, also sollen sie sein in dem Stück - sind natürlich auch böse, denn die haben ja eine ganze Menge Schindluder getrieben. Aber ansonsten ist Hannibal der Angreifer und Rom der Verteidiger."
Christian guckt gerade durch seine dünnrandige Brille. Er trägt die informelle Knastuniform: Shirt und Jogginghose - bei Christian in grau. Er setzt sich. Wie alle im Ensemble hat er sich für die Mitarbeit hier beworben.
"Es gab natürlich ne ganze Menge Anfragen, allerdings ist es ja so, dass man hier durch eine Art Sicherheitsschleuse muss. Man wird überprüft, ob man dafür geeignet ist. Manche kommen dann, gucken sich das an, sind aber nicht so sehr begeistert, weil das zu viel Arbeit ist für die. Dann bleibt so ein Haufen, sag ich mal, zwischen 25 und 30 Personen. Das sortiert sich von alleine."
Im Laufe der Probenarbeit sortiert sich auch, wer eine Hauptrolle bekommt oder einen Platz im Chor. Dabei bleiben sollen alle. Christian spielt schon seit Jahren im Knasttheater mit.
"Das Schauspielern, das macht so viel Spaß einfach aus dem Grunde: Man kann mal von sich aus ablenken, man muss nicht immer an den Gedanken zurück: ‚Du bist im Knast und hast das und das zu tragen’, sondern man kann Spaß haben an der Sache, weil das soll das ja sein. Wir werden ja nicht bezahlt, wie Schauspieler draußen, sondern das ist wirklich nur Spaß an der Freude."
Christian zeigt seine Rolle im Textbuch: Er ist der Priester der Römer.
"Wenn wir die Eröffnungsszene haben, ist es ja so, dass wir den Chor geben, und nach dem Chor ziehen wir uns alle ganz schnell um. Und dann, dass ich dann in Würde auftreten kann als Priester, das ist für mich die schönste Szene."
Im Stück bringt der Priester Christian die Römer wieder auf Linie, damit sie sich den angreifenden Karthagern entgegen setzen.
"Auch wenn ich ne Rolle spiele, bin ich ja immer noch ich selber, und je besser ich spiele, desto besser repräsentiere ich mich auch und natürlich möchte ich gut sein (...), ich möchte dem Publikum auch gefallen. Aber das mache ich wahrscheinlich auch nur, um mich wieder einzugewöhnen ins Leben. Weil vorher, hier drin, hat es ja niemanden interessiert, was ich gemacht habe, oder was ich nicht gemacht habe (...). Ich möchte wieder in die Gesellschaft zurück und nächstes Jahr werde ich hoffentlich entlassen - endlich - und das ist für mich auch ein Stück Vorbereitung mit Menschen umzugehen, die von draußen kommen."
Ein tiefer Zug aus der Selbstgedrehten. Im Frühling 2009 ist Christian das erste Mal draußen. Das erste Mal seit 1984. Besuch bekommt der 44-Jährige schon lange nicht mehr. Als er vor einigen Jahren krank wird, gibt er seine Arbeit auf, sitzt nun fast den ganzen Tag in der Zelle. Knastalltag rund um die Uhr.
"Es gibt manche, die haben einen Porsche vor der Tür, die haben ein Schweizer Bankkonto oder sind die schärfsten Dealer gewesen, die größten Bosse - und im Endeffekt hat man fest gestellt, dass das die größten Mitläufer gewesen sind und sich hier nur groß gemacht haben, um nicht angegriffen zu werden, weil hier gibt’s Hierarchien. Hier erfindet sich jeder jeden Tag neu. Hier im Theater ist es so, hier kann man sich nicht jeden Tag neu erfinden, hier kann man sich nur besser kennen lernen."
An den Theaternachmittagen sind sie alle gleich: Christian der Langzeitinsasse, die Neuköllner Drogenbosse, die Trickbetrüger, die Schwarzfahrer – ein kleiner Ausbruch in die Kunstwelt.
Drüben bei den Sperrholzgebirgen fuchtelt Regisseur Atanassow mit den Armen: Zeit für die Atemübungen. Christian geht mit den Römern rüber in die Mitte des Freihofganges zu den Karthagern. Alle bilden einen Kreis. Die Schauspieler schlabbern mit den Lippen wie Pferde. Schwitzende Stirnen auf roten Gesichtern – die Sonne knallt.
In den Zellenfenstern am Rande des Hofes lehnen die Mitgefangenen. "Jetzt aber mal Ruhe, ich will schlafen", schreien sie rüber. Oder "Quatschköppe, Idioten, so ein Scheiß". Halb sechs. Zeit für die Textprobe. Die Karthager erklettern das Sperrholzgebirge, die Alpen-Kulisse.
"Rom will uns zwingen, nach seinen Gesetzen zu leben. Doch selbst hält es sich nicht an Gesetze – können wir das länger hinnehmen?
- Nieder mit den Römern!"
Sülo, der erste von rechts in der vordersten Reihe, spricht den ganzen Text tonlos mit, wippt dabei immer ein bisschen nach vorne, als wäre er auf dem Sprung. Sein Nachbar nickt jeden Satz ab. Einer trägt den Text wie eine schlecht sitzende Armverlängerung vor sich her. Ein kleiner Dicker hält die Blätter wie eine Frau im Arm.
"Für Willkür, gegen Unterdrückung!
- Dann müsst ihr jetzt auch kucken, und zwar auf Sülo. Sülö gibt das Zeichen, wir marschieren."
Peter Atanassow nickt zufrieden, schaut von den Karthagern rüber zum Römerpodest. Auf der Bühne ist der Kampf um Rom ein Zweikampf. Karthago, Rom. Hannibal, Wolokolamsker Chaussee, der Chor und der Einzelne. Die Struktur soll den Schauspielern Halt geben, sagt der Regisseur. Und, dass sich die Knackis in dem Drama wieder finden.
"Erstens: Es geht um eine Armee, die aus vielen verschiedenen Volksgruppen besteht - das ist hier im Knast natürlich auch so. Es sind viele Nationalitäten und das Gefängnis ist eine militärische Struktur. Es ist die Logistik, es sind die Hierarchien, es ist auch das Verhalten der Leute untereinander, ist eine quasi militärische Struktur und das ist natürlich eine ganz wesentliche Verbindung."
Der Regisseur kneift die Augen zusammen, beobachtet die Schauspieler genau. Seine Römer sind keine Schauspieler im modernen Sinne, also solche mit Psyche. Eher deklamieren die Gefangenen wie antike Schauspieler, sagt Peter Atanassow.
Sechs Wochen später, ein später Nachmittag im Sommer: der Premierenabend. 150 Menschen wollen ins Gefängnis. Boxen mit Schließfächern am Eingang der JVA Tegel in Berlin. Wer rein will, muss alle persönlichen Gegenstände abgeben: Portemonnaie, Handy, Schlüssel.
"Alles außer Ausweis, man nimmt die Eintrittskarte mit, ansonsten muss alles weggesteckt werden."
Ohne den ganzen Kram, der draußen zum Ich gehört, stehen die Theatergäste da mit nichts in der Hand als dem Personalausweis - der Grusel des Knasttourismus. Eine ältere Besucherin mit akkurater Frisur:
"Das ist ne sehr schlimmer Erfahrung, wenn man alles abgeben muss und dann wirklich eingeschlossen ist. Dass man überhaupt reinkommt, ist so schwierig. Und dann bekommt man regelrecht Platzangst, weil man das nicht gewöhnt ist, alles abzugeben und nicht einfach wieder raus zu kommen."
Ein Mann mit Lederjacke und grauen Locken, Beruf Schauspieler, steckt die Eintrittskarte in die Jeanstasche.
"Ich glaube, die haben was zu sagen. Also ich glaube schon - auch Laien - wenn die ihr Thema finden, dann finden die auch ihre Ausdrucksform mit Hilfe von Profis. Ich bin sehr gespannt, habe viel Gutes gehört - das soll sehr, sehr mächtig und sehr kraftvoll sein und beeindruckend."
Nur mit den Tickets in der Hand, dürfen die Gäste in den Freiganghof - ihre Eintrittskarte in die Welt da drinnen. Um das Römerpodest und die Sperrholzalpen herum stehen zwei Tribünen im rechten Winkel. Hinter diesem Vordergrund sehen die malerischen Backsteinmauern der JVA-Tegel aus wie ein schönes Theaterbild, das viele Assoziationen erlaubt: drinnen und draußen, Gewalt und Stillstand, Schuld und Sühne, Struktur und Hierarchie.
Frauen in avantgardistischen Capes und eine dicke Mutti mit Leopardenkopftuch und langem schwarzen Mantel sind gekommen, Männer im Pullunder und Mädchen mit Nasenringen, junge Anzugträger und alte Männer in Teenie-Lederjacken, echte Teenager in superengen Jeans und Damen im Kleid. Mitarbeiter der Senatsverwaltung sitzen in der Abendsonne. Sie wollen sehen, was das Aufbruch-Team und die Gefangenen mit ihren Fördergeldern aus dem Ressort Kultur machen.
Es geht los. Ein Massenkörper aus Männern rückt an: Auftritt der Römer, die schneeweiße Laken am Körper tragen:
"Mythologie: Wir geben heute die Geschichte des Feldherren Hannibal und seines Kampfes gegen Rom. Rom und Karthago kämpften am Mittelmeer um die Vormacht."
Ausschwingende Arme, Griffe ans Herz - die Gesten im Gefängnistheater sind groß. Auf dem goldenen Römerpodest tritt Christian vor, jetzt Priester im vollen, der Auftritt in Würde - sein Lieblingsmoment:
"Einer wird kommen, der die Gebirge durchzieht, eine entsetzliche Schlange… lechzt nach gewaltigem Kriege."
Die Souffleuse hat gut zu tun an dem Abend. Immer mal wieder bleibt einer im Text stecken. Die, die den Text noch wissen, geben alles. Sie schreien als müssten sie ein ganzes Amphitheater beschallen.
"Rom hat uns beleidigt. Rom will uns zwingen, nach seinen Gesetzen zu leben – wollen wir das länger hinnehmen? Nieder mit den Römern. Rom provoziert uns."
Die Karthager in ihren schwarzen Klamotten sehen aus wie urbane Underdogs. Der Marsch auf Rom soll diesen - so sagen die Römer - Barbaren reiche Beute bringen.
Am Ende des Stückes ziehen die Schauspieler wie Fußballspieler nach dem Spiel ihre Kostümjacken aus und stehen in Unterhemden da. Da sind sie wieder die Dicken und Dünnen, die Tätowierten und Behaarten, die Schmerbäuchigen und Durchtrainierten. Sie sind wieder zu sehen, nach 70 Minuten unter den Theaterkleidern. Kunst trifft auf Realität:
"Ich weiß, was ihr gebaut habt: ein Gefängnis. Wenn morgen hinter dir die Tür ins Schloss fällt, weißt du den Unterschied - Gefängnis."
Lachende Schauspieler, mehrere Male werden sie auf die Bühne geklatscht. Siegesfäuste recken sich in den Himmel, rote Rosen und Küsschen für alle. Die Premierenparty kann beginnen.
Ein Tapeziertisch-Büffet mit Knabberzeugs, Kuchen und Knoblauchwürsten. Häftlinge, Schauspieler, Angehörige, Theaterfreunde und Aufbruch-Mitarbeiter balancieren Pappteller durch die Menge. Die von draußen begegnen jetzt offiziell denen von drinnen.
Ein korrekt aussehender Mann in Hemd und Jeans: "Wenn man jetzt mal so eine Gruppe von 27 Mann casten würde, dann würde man, glaube ich, außerhalb dieser Mauern - so eine Gruppe könnte man gar nicht zusammen stellen, so unterschiedlich wie die alle aussehen - von der Größe, von der Statur."
Eine rothaarige Schriftstellerin: "Die spielen mit sehr große Wucht, Leidenschaft - viel mehr Natürlichkeit ist drin, dass die vergessen die Rolle weiter zu sprechen. Das gehört dazu, und das finde ich toll."
Und ein gut gelauntes Pärchen mit vollen Papptellern: "Einer hat uns sehr freimütig erzählt von seiner Beziehung, von seiner Heirat hier - inklusive seiner Hochzeitsnacht im Knast."
Sülo läuft mit einem Teller und Weintrauben in Richtung Tribüne. Acht Frauen erwarten ihn dort. In der Menge steht Christian, der ewige Gefangene und Römer:
"Ich kann gar nicht richtig sprechen."
Zwanzig Jahre ohne Besuch von draußen, jetzt ist der Abend des Small-Talks endlich da. Breit lächelnd redet Christian mit den Premierengästen. Eine Familie kennt er schon vom letzten Jahr.
"Gesundheitlich ist es auch besser geworden?
- Ja, einigermaßen,. Ich hab mit jetzt noch Alterdiabetes eingefangen.
Gesund leben, das haben Sie ja hier gelernt, viel Schlaf - man kann auch viel dagegen tun: Bewegung, Radfahren.
- Na toll, wie soll ich denn hier Radfahren?"
Die Besucher kommen aus einem Vorort im Osten von Berlin. Als Christian 1984 ins Gefängnis geht, steht die Mauer noch. Ob er mal in Ostberlin war?
"Für mich steht die Berliner Mauer noch. Ich hörte davon, aber ich hab’s noch nicht gesehen. Ich bin Westberliner durch und durch. Ich weiß nicht, ob ich was versäumt habe oder nicht. Ich habe ein paar Dokumentationen gesehen. Nee, nicht wirklich. Ich kann mich da nicht hinein versetzen.
- Wenn du das von den Dokumentationen abliest, dann liegst du da vollkommen schief.
Ja, würde ich auch sagen, weil das Leben war ein ganz anderes.
- Aber wie sieht’s denn aus, wollen wir ein Break machen, und was essen gehen?"
Auf dem Weg zum Büffet winkt Christian dem Regisseur Peter Atanassow zu. Der sagt gerade in eine Fernsehkamera, dass er zufrieden ist mit dem Abend. Seine Vision:
"Ich glaube, die Tendenz wird dahin gehen, dass viel mehr nicht-ausgebildete Leute auch Theater spielen, weil es eher darum geht, das Theater als eine Art Forum zu benutzen, um etwas über Geschichte, Historie oder über Gesellschaft zu erzählen (…) - und das hat ne neue soziale Funktion von Theater und von Kunst."
Christian geht weiter zum Büffet, lädt sich noch schnell den Pappteller voll. Nach einer Stunde ist Schluss mit dem Partyspaß. Die Wärter sind da, um die Schauspieler in ihre Zellen zurückzubringen. Christian nimmt einen letzten Schluck Wasser:
"Wir müssen leider aufhören."
Im Gehen sagt er noch, dass er im Herbst draußen mitspielt. Das ist der zweite Teil der Inszenierung, die außerhalb der Knastmauern aufgeführt wird. Auch als Entlassener will Christian noch mitspielen. Dann wird aus dem Gefängnistheater ein Resozialisierungsprojekt. Für heute fällt das Gitter ins Schloss. Ende der Vorstellung.