Das Geheimnis der Dichtkunst

In dem Gedichtband "Licht überall" von Cees Nooteboom geben Fotos und Gemälde mit blühenden Pflanzen oder eine scheinbar banale Handbewegung Anlass, über die Krux der menschlichen Existenz oder über den Sinn der Trauer nachzudenken.
Man könnte, so Cees Nooteboom, die Poesie als eine bildlose Form bezeichnen, die von der "Domäne der Wörter" beherrscht wird. "Wer wir waren, unser Gang / durch das Rätsel, / in Worten steht es geschrieben", heißt es im Gedicht "Ohne Bild".

Unaufdringlich und wie rein zufällig spricht der niederländische Lyriker, Romancier und Weltenbummler über das Geheimnis seiner Poetologie. Vielleicht ist die Schrift ja wirklich die "Tochter des Sprechens" – und die Lyrik ein wilder Sprössling aus gutem Hause, der mit dem Regelwerk der Sprache nach Belieben hantiert.

Mit "Licht überall" wird auf einen Titel zurückgegriffen, unter dem bereits 2007 und 2012 Gedichte von Cees Nooteboom mit Radierungen bzw. Tintenzeichnungen des 2008 verstorbenen Freundes Hugo Claus (1929-2008) erschienen, und wovon einige nochmals für den vorliegenden Band ausgewählt wurden.

In Nootebooms Gedichtsammlung sind Fotos und Gemälde, das Blühen einer Pflanze oder eine scheinbar banale Handbewegung der Anlass, über die Krux der menschlichen Existenz, die Pein des Vergessens, das Alter und das Sterben oder über den Sinn der Trauer nachzudenken. Und immer wieder setzt er sich mit dem Schaffen befreundeter Künstler und den der bildenden Kunst auseinander (Hugo Claus, Ricard Terré, Cees Andriessen).

Im Gedicht "Fegefeuer" wird anhand des Freskos "Dante und die Göttliche Komödie" von Domenico di Michelino, das sich im Dom Santa Maria del Fiore in Florenz befindet, eine subtile poetische Bildbetrachtung betrieben: "Der Meister in Karmesin / zwischen Türmen und Kuppeln, sein Buch mit dem ersten Vers, / schau! in der Hand". Die vom Fresko ausgehende Faszination der Stille - "das Böse unterwerfend" – lässt das lyrische Ich fast vergessen, "daß es Tote sind".

Unter "Begegnungen" finden Korrespondenzen mit Philosophen (Wittgenstein, Hesiodos, Descartes) und Dichtern (Shelley, Borges, Ungaretti) statt. Bei der Betrachtung eines Fotos Ludwig Wittgensteins – "gehetzter Blick mit viel Weiß im Auge" – wird klar, warum der "zwischen Sagen und Wissen" herumirrende Sprachphilosoph niemals daheim sein konnte.

Nootebooms Gedichte bestehen aus mehreren Schichten, in denen sich abgelagert hat, was man als Gedächtnis eines Kosmopoliten bezeichnen könnte. Neugierig und vorbehaltlos wendet sich der Dichter immer wieder den einfachen Dingen zu: einem Schatten, dem Flug einer Elster, einer Spur im weißen Sand. Selbst die klassischen Motive Heimweh, Liebe, Tod, Ewigkeit werden in frische Wortgewänder gehüllt. Wobei die eigene Schreibexistenz mitunter kopfschüttelnd belächelt wird.

Nach der Lektüre weiß man zwar nicht, "wie ein Gedicht aussehen soll", aber mit dem Blick des Lyrikers wurden Räume betreten, die ansonsten verschlossen sind.


Besprochen von Carola Wiemers

Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom
Cees Nooteboom© AFP
Cees Nooteboom: Licht überall, Gedichte
Aus dem Niederländischen von Ard Posthuma
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
106 Seiten, 18,95 Euro
Mehr zum Thema