Das Gehirn als Maßstab

Der Neurowissenschaftler Michael S. Gazzaniga erklärt in seinem Buch "Wann ist der Mensch ein Mensch?", wie man "gestützt auf unser Verständnis von grundlegenden Hirnmechanismen, mit sozialen Fragen" umgehen soll. Im Blick auf Krankheit und Sterblichkeit, Gesundheit und Normalität geht es dem Autor zufolge um eine Lebensphilosophie, die die "Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns berücksichtigt."
Bioethische Fragen begleiten die Menschheit von Beginn an. Die kritische Reflexion etwa von Abtreibung und Sterbehilfe ist seit jeher an der Tagesordnung. Wissenschaftliche Entdeckungen, rasanter medizinischer Fortschritt und vor kurzem noch ungeahnte reproduktionstechnologische Entwicklungen bringen neue Fakten zu Tage – und neue moralische Herausforderungen mit sich.

Der Neurowissenschaftler Michael S. Gazzaniga ist seit 2002 Mitglied der amerikanischen Bioethik-Kommission. Angesichts von Organtransplantation und Klonen, Pränataldiagnostik und Stammzellenforschung ist er mit den klassischen Fragen konfrontiert: Was darf der Mensch, und ist das, was er tut, ethisch überhaupt noch vertretbar?

Der 1939 Geborene hat einen Großteil seines Lebens in neurowissenschaftlichen Laboratorien verbracht. Davon zeugt eine lange Publikationsliste. Nur zwei Bücher des promovierten Psychobiologen wurden bislang ins Deutsche übersetzt. 1989 erschien "Das erkennende Gehirn. Entdeckungen in den Netzwerken des Geistes". Nun liegt die Übersetzung von "The Ethical Brain" vor – unter dem Titel "Wann ist der Mensch ein Mensch?"

Der Titelfrage widmet sich Gazzaniga im ersten von vier Teilen mit Blick auf Anfang und Ende des Lebens. Bevor er den Alterungsprozess des Gehirns erklärt und das Ende des menschlichen Bewusstseins genauer in den Blick nimmt, geht er der Frage nach: "Welchen moralischen Status hat ein Embryo?" Dazu skizziert der renommierte Forscher die fetale Hirnentwicklung von Embryonen, um eine wissenschaftliche Basis für die Argumentation gegenüber "Bauchreaktionen" zu schaffen, die aus religiösen und anderen Quellen gespeist werden. Gazzanigas Antwort ist eindeutig:

"Nach meiner Überzeugung gebührt einer befruchteten Eizelle, einem Zellhaufen ohne Gehirn, eindeutig nicht derselbe moralische Status, den wir einem Neugeborenen oder einem voll ausgereiften Erwachsenen zuschreiben. Der bloße Besitz der genetischen Anlage für einen künftigen Menschen macht noch keinen Menschen."

Um die Steigerung der Hirnleistung dreht sich der zweite Teil der Publikation. Zum einen befasst sich Gazzaniga mit möglichen und wünschenswerten Einflüssen der Präimplantationsdiagnostik auf die Nachwuchsregelung – zum Beispiel angesichts des zukünftig weltweit unausgewogenen Geschlechterverhältnisses. Zum anderen lautet seine Leitfrage: Ist die Einnahme von "Pillen für ein schlaueres Gehirn" ethisch legitimierbar?

Gazzaniga legt kaum Bedenken an den Tag – "Koffein wirkt, Ritalin wirkt." – und informiert über Beschaffenheit und Wirkung von Mitteln zur Steigerung der Intelligenz. Weder deren Gebrauch noch deren Missbrauch lässt sich Gazzaniga zufolge verhindern. Ferner ist er der Meinung, der Staat solle sich aus allem heraushalten, auf dass ein jeder seinen Weg durch die Doping-Landschaft finde.

Freier Wille und persönliche Verantwortung sind Gegenstand des dritten Teils. Das Wesen moralischer Überzeugungen sowie das Konzept einer universellen Ethik werden im vierten und letzten Part bedacht. Dabei kommt zur Sprache, wie sehr neben wissenschaftlichen Erkenntnissen etwa religiöse Überzeugungen und säkulare Glaubenssysteme auf der einen sowie neuronale Netzwerke und Belohnungssysteme auf der anderen Seite Gefühle und das moralische Urteilsvermögen von Menschen beeinflussen.

Gazzanigas Buch ist gut lesbar und verdeutlicht an exemplarischen Themenfeldern, wie man "gestützt auf unser Verständnis von grundlegenden Hirnmechanismen, mit sozialen Fragen" umgehen soll. Im Blick auf Krankheit und Sterblichkeit, Gesundheit und Normalität geht es Gazzanigas Verständnis von Neuroethik zufolge darum, eine Lebensphilosophie zu entwickeln, die die "Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns berücksichtigt."

Ein großartiges Projekt der Zukunft, das noch einzulösen ist. Daher der bescheidenere Untertitel "Antworten der Neurowissenschaft auf ethische Fragen". Dem wird der Autor insofern gerecht, als er wie in "Das erkennende Gehirn" wichtige Fakten und gut verständliche Informationen liefert.

Ausgereifte ethische Argumentationen, Abwägungen und Diskurse hingegen kommen zu kurz. Nur zum Teil bezieht der Neurowissenschaftler in seine Darlegungen mit ein, was andernorts, insbesondere von Ethikern zu brennenden bio und neuroethischen Fragen bedacht und publiziert wird. Hier zeigen sich die Grenzen zumindest von Gazzanigas ethischer Kompetenz und, positiv gewendet, die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschungen und Veröffentlichungen.


Rezensiert von Thomas Kroll


Michael S. Gazzaniga: Wann ist der Mensch ein Mensch? Antworten der Neurowissenschaft auf ethische Fragen
Übersetzt von Maren Klostermann
Patmos Verlag, Düsseldorf 2007, 168 Seiten, 24,90 Euro