Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Sonderforschungsbereich 980 der Freien Universität Berlin "Episteme in Bewegung". Unter "Hinter den Dingen – 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören" finden Sie die ganze Geschichte zu Leonardos Bücherliste als Podcast.
Leonardos Bücherliste
09:09 Minuten
Leonardo da Vinci, geboren 1452, gilt als eines der größten Genies aller Zeiten. Aber er profitierte auch von der Explosion des Wissens in seiner Zeit, wie die Rekonstruktion seiner Bücherliste zeigt.
Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Skizzenbuch Leonardo da Vincis, das heute als "Codex Atlanticus" bezeichnet wird. Auf Seite 559 findet sich, mit rotem Ocker auf einem etwa DIN-A4- großen Papierbogen in Spiegelschrift von rechts nach links notiert, eine Liste einzelner Schlagworte, Namen und Begriffe:
"Donato, d’abacho, plinio, bibia, de re militari, pistole del filelfo, spera, lapidario, alberto magno, dottrinale, giovan dimandivilla, Äsopo, Petrarcha."
Eine von Leonardos Bücherlisten. Sie umfasst Bücher, die Leonardo wahrscheinlich besaß, die er vielleicht gelesen, verliehen oder sich ausgeliehen hat, oder die er sich auch nur beschaffen wollte. Die Liste beschreibt einen Teil seiner biblioteca perduta.
Perduta – verloren. Die biblioteca perduta bezeichnet die verlorene Bibliothek Leonardo da Vincis. Sie zu rekonstruieren und damit neue Erkenntnisse über das Leben und die Arbeitsweise des frühneuzeitlichen Universalgelehrten zu gewinnen, ist Ziel eines Forschungsprojekts des Berliner Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, das der Technologie- und Wissenschaftshistoriker Matteo Valleriani gemeinsam mit seinem Kollegen Jürgen Renn leitet:
"Leonardo da Vinci war ein herausragender Wissenschaftler und Ingenieur", betont Valleriani. "Und dadurch, dass wir seine Bibliothek rekonstruieren können, können wir sehen, inwieweit seine Errungenschaften in Verbindung mit dem Wissen seiner Zeit standen und was er sonst gelernt hat. Und im Grunde genommen damit aber auch etwas gegen die Idee des Genies angehen und stattdessen zeigen, wie Leonardo in dem Fluss der historischen Evolution des Wissens auch erklärbar ist, trotz seiner wunderbaren Errungenschaften, aber im Rahmen des Wissens der Zeit."
Eine der frühesten Privatbibliotheken
Inwiefern war der 1452 geborene Leonardo da Vinci ein Genie? Weil er für sich allein auf geniale Gedanken kam? Oder weil er als hochbegabter Ingenieur, Architekt, Bildhauer, Maler und Autodidakt aus dem Wissen seiner Zeit schöpfte?
Wissen, sagt Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, verbreitet sich zu Leonardo da Vincis Zeit in einem Tempo wie nie zuvor. Erstmals wird es möglich, private Bibliotheken anzulegen.
"Was auch an Leonardos Bibliothek faszinierend ist: Es ist eine der frühesten Privatbibliotheken überhaupt. Denn Leonardo war ja kein Fürst, kein Bischof, kein Papst, der sozusagen eine Institution repräsentierte, sondern er war letztlich ein Privatmann. Und eigentlich erst die Verbreitung von Büchern und auch die Zugänglichkeit durch den Buchdruck machten es überhaupt möglich, so eine Privatbibliothek zusammenzustellen."
Die "Sphaera" - ein Wissensbereich von Kosmologie und Astronomie
"Donatus, Vom Abakus, Plinius, Bibel, Über Kriegswissenschaft, Spera, John Mandeville, Äsop, Petrarca" – etwa 200 Werke verzeichnet Leonardos Bücherliste auf insgesamt fünf Manuskriptseiten. Nicht alle Angaben sind eindeutig. Was etwa verbirgt sich hinter der Notiz "spera"?
"Mit Sphaera hat man in der Zeit von Leonardo einen bestimmten Wissensbereich gekennzeichnet", erklärt Valleriani. "Und zwar einen Wissensbereich, der mit Kosmologie und Astronomie zu tun hat."
Dazu gibt es ein bereits im Jahr 1230 entstandenes Lehrbuch, das das antike Wissen zur Kosmologie zusammenfasst und mit Wissen aus dem arabischsprachigen Raum kombiniert, sagt Matteo Valleriani:
"Und zwar den Tractatus de sphaera von Joannis de Sacrobosco. Dieser Text war allerdings schon im 13. Jahrhundert an der Universität von Paris für die Studenten geschrieben worden und wurde weiterhin verwendet bis zum 17. Jahrhundert."
Damit aber haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur einen Teil ihrer Frage beantwortet – denn die Sphaera kursierte zu Leonardo da Vincis Zeit in unterschiedlichen Versionen. Um genau zu erfassen, aus welchen Quellen Leonardo schöpfte, wollen sie wissen: Welche Fassung hat er wohl benutzt? Die Frage ist nicht banal, wenn man sich die Geschichte des damaligen Buchdrucks vergegenwärtigt:
Denn heutzutage gleicht die sechste Auflage eines Lehrbuchs bis auf kleine Änderungen seiner ersten Auflage. Zu Leonardos Zeiten veränderten die Buchdrucker, Verleger und Herausgeber den Text auf vielfältige Weise. Als Editoren kommentierten und bebilderten sie den Text, schrieben ihn um und kombinierten ihn sogar mit Texten anderer Autoren. Deshalb gibt es auch keine zwei identischen Sacrobosco-Editionen.
Welche der 42 Sphaera-Versionen besaß da Vinci?
Aufgabe der Forschung ist es, aus den insgesamt 42 gedruckten Sacrobosco-Editionen, die zu Leonardo da Vincis Zeit kursierten, die eine herauszufiltern, die er mutmaßlich besaß. Zuletzt, so Jürgen Renn, blieben zwei Fassungen: Die poetische, etwas naiv anmutende, 1435 verfasste und 1475 gedruckte Ausgabe des Seidenhändlers Gregorio Dati – und die 1590 in Venedig veröffentlichte Ausgabe des Druckers Ottaviano Scotus, ein avancierter technischer Text, der in Richtung einer spezialisierten, modernen Astronomie geht.
"Zwischen den zwei Möglichkeiten haben wir uns für das Buch von Scotus entschieden, weil wir glauben, dass das Buch viel mehr verbreitet war, dass viel mehr Exemplare davon gedruckt worden sind, dass es für eine Person zugänglicher war, die nicht in Venedig wohnte", sagt Valleriani.
So ist durch akribische Forschungsarbeit eine Frage mit hoher Wahrscheinlichkeit beantwortet. Eines von vielen Details bei der Rekonstruktion der biblioteca perduta – einer Rekonstruktion, die vor allem eines zeigt:
Leonardo partizipiert also an diesem gesamteuropäischen Wissensbestand zur Kosmologie. Er wird in seinem Bestreben, sich das Wissen seiner Zeit anzueignen, beflügelt durch den Buchdruck. Und Leonardo, der Künstler, Erfinder, Techniker, etc., wird Teil einer Wissenscommunity von Lesenden.
"So sind die Leute in der Zeit von Leonardo", sagt Wissenschaftshistoriker Valleriani. "Die haben was vor und die überlegen sich, wie sie das hinkriegen können. Aber die haben auch das Bewusstsein, dass sie vieles erreichen können."
Leonardo da Vinci entwickelt mithilfe seiner Lektüren neue Ideen, die er so komplex notiert, dass sie Jürgen Renn an heutige Hypertexte erinnern.
"Die Idee von Hypertexten war ja, einen Text nicht nur linear aufzubauen, sondern verschiedene Textelemente, aber auch Bildelemente in ganz verschiedenen, offenen Richtungen miteinander zu vernetzen, ein Netzwerk darzustellen", sagt Jürgen Renn. "Denn seine Notizen sind so vielfältig verknüpft, wie wir das idealerweise im Netz sehen würden."
Leonardos Bücherlisten und Notizen, das zeigen die Forschungsergebnisse, enthalten ein Wissenskonglomerat, das heutigen, internetbasierten Wissensformen durchaus nahe ist. Man solle sich, sagt Jürgen Renn, vom vermeintlich Geniehaften Leonardo da Vincis nicht einschüchtern, sondern sich von seinem Umgang mit Wissen inspirieren lassen:
"Jeder, der heute sagt, er hat eine Bibliothek, hat sicher ganz locker mal 50 bis 100 bis 200 Bücher darin, also sind wir doch in der Hinsicht mit Leonardo vergleichbar. Und wenn wir jetzt den Zugang zum Internet noch dazu nehmen, dann haben wir allemal mehr Zugriff auf Wissen als er. Machen wir was draus!"