Das Gericht ohne Tradition wird 60

01.09.2011
Das Bundesverfassungsgericht wird 60 Jahre alt. Anlass für vier Rechtswissenschaftler der jüngeren Generation, sich dem Gericht mit einer ausführlichen Würdigung zu widmen. Die ist allerdings weniger Festschrift, eher eine kritische Rundumbetrachtung.
"Es war neu. Es hatte keine Tradition. Die scharlachroten Roben seiner Richter borgte es beim Florenz der Renaissance" - so beginnt das Buch mit seinen "Anmerkungen zu Karlsruhe". Das Gericht ohne Tradition war anders als die anderen Gerichte in der jungen Bundesrepublik. Auch die Richter, unter ihnen viele Gegner des Nationalsozialismus, waren andere als in der übrigen Justiz, in die sich noch viele aus dem Dritten Reich herübergerettet hatten und wieder - oder immer noch - in Amt und Würden waren. Schon in frühen Entscheidungen brach das Bundesverfassungsgericht mit den autoritären Traditionen in der deutschen Justiz. Es sprach maßgebliche Urteile zur Meinungsfreiheit, aber auch für die Berufsfreiheit und die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Diese und andere wichtige Entscheidungen werden im Buch im geschichtlichen und politischen Zusammenhang dargestellt. Zum Beispiel das Lüth-Urteil, eine der wichtigsten Entscheidungen zur Meinungsfreiheit. Der Hamburger Journalist Erich Lüth hatte 1950 zum Boykott gegen Filme von Veit Harlan aufgerufen, Regisseur des Machwerks "Jud Süss". Von der Filmgesellschaft verklagt, verlor Lüth die Prozesse vor den hamburgischen Gerichten. In Karlsruhe bekam er Jahre später in vollem Umfang Recht. Und gleichzeitig hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Grundrechte nicht nur Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat sind, sondern dass sie das gesamte Recht prägen. Die Entscheidung von 1958 reichte also weit über den Einzelfall hinaus.

Die vier Rechtswissenschaftler begnügen sich jedoch nicht mit der Fall-Analyse. Vor allem strukturelle, rechtspolitische und -dogmatische Fragen interessieren sie bei der Beschreibung des Phänomens Bundesverfassungsgericht. Es entwickelte sich vom "gütig strengen Vormund einer betreuten Demokratie" zum alleinigen "Hüter der Verfassung". Es war übrigens nicht der Parlamentarische Rat, der das Bundesverfassungsgericht zum Verfassungsorgan neben dem Bundestag, dem Bundesrat, dem Bundespräsidenten und der Bundesregierung erhob. Deshalb ist auch im Grundgesetz davon nichts zu finden. Vielmehr behauptete das Gericht selbst mit seiner berühmt gewordenen Denkschrift über "Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts" vom 27. Juni 1952 seine Stellung als oberstes Verfassungsorgan.

Vorausgegangen war ein heftiger Streit mit der damaligen Bundesregierung unter Konrad Adenauer, vor allem mit Justizminister Thomas Dehler, in dem es um Fragen der Wiederbewaffnung ging. Ein erstes Beispiel der "Entgrenzung", hier zwischen Recht und Politik. Der nicht immer gradlinige Weg des Gerichts wird äußerst kritisch und detailreich beleuchtet. Die Texte sind mitunter schwer verständlich und mühsam zu lesen, aber wer sich darauf einlässt, weiß nach der Lektüre einiges mehr über das Funktionieren des Bundesverfassungsgerichts im Zwischenreich von Politik, Recht und Wissenschaft.

Trotz der unbestrittenen Erfolgsgeschichte des Gerichts ziehen die vier Autoren vor allem eine kritische Bilanz. Alle vier haben ein eigenständiges Kapitel geschrieben, Wiederholungen bleiben nicht aus, stören aber nicht wegen der unterschiedlichen Perspektiven. Sie schreiben, angesichts der übermäßig vielen Verfassungsbeschwerden drohe die Rechtsprechung zu zerfasern. Der Blick in die Zukunft bleibt vage, nicht zuletzt wegen der Europäisierung des Rechts. Das Kapitel über die "maßstabsetzende Gewalt" endet mit dem Wunsch, den "spezifisch deutschen Beitrag zum verfassungstheoretischen Welterbe bewahren" zu wollen. Soll das gelingen, müsse man ihn jedoch weiterentwickeln, denn: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Das gilt erst recht am 60. Geburtstag. Für die Rente ist es noch zu früh."

Besprochen von Annette Wilmes

Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Christoph Schönberger: Das entgrenzte Gericht - Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht
edition Suhrkamp, Berlin 2011
426 Seiten, 18 Euro