ich will zu dir Wald wir
müssen eine neue Sprache finden wir
sind so künstlich aufgeforstet wir
können zusammen nicht kommen
wir haben Weichmacher im Blut es geht uns gut
unsere Flüssigkeiten pulsen kosmisch angetrieben
dein Humus duftet stark bewegt
unsere Nabelschnur
schnitten wir ab
Kerstin Becker: "Das gesamte hungrige Dunkel ringsum"
© Voland&Quist/Edition Azur
Reime gegen das Verfaulen
05:20 Minuten
Kerstin Becker
Das gesamte hungrige Dunkel ringsumEdition Azur, Dresden 202280 Seiten
18,00 Euro
Die neuen Gedichte von Kerstin Becker führen uns in morbide Gefilde. Sinnliche Erfahrungen, aber auch existenzielle Fragen spielen dabei eine zentrale Rolle. Und wenn sie über die Natur schreibt, dann schmatzen die Wiesen und sprechen die Bäume.
Betrunkene schwanken lallend durch die Nacht, woanders kochen Männer Knochen, derweil liegt allerlei abgestorbenes Seelenmaterial auf den Straßen. Wer schreibt hier? Der junge Georg Trakl oder ein Charles Baudelaire?
Obgleich die Nähe zur morbiden Décadence-Lyrik unverkennbar zu sein scheint, entstammt „das Apokalyptische in der Luft“ tatsächlich dem spätmodernen Band „Das gesamte hungrige Dunkel ringsrum“ von Kerstin Becker.
„Gern brechen unsre Narben auf und bluten“. Dabei dringt das Abgründige der Welt sowohl durch die Wunden in den Körper ein als auch aus ihm heraus. Das lyrische Ich mit seiner „Schrundenseele“ sondert die „Klumpen“ und „die verfilzte Sprache“ buchstäblich ab und befreit sich dadurch von allem inneren und äußeren Unrat.
Ein Riss geht durch die vermeintliche Harmonie
Doch das Dasein birgt auch schöne Erfahrungen. Vor allem dann, wenn Beckers Textsubjekt sich der Natur gewahr wird. Bäume sprechen, Wiesen schmatzen. Flora und Fauna fangen den Lärm der urbanen Räume ab. Und doch durchzieht ein Riss die vermeintliche Harmonie:
Indem der zivilisatorische Fortschritt sowohl die Biosphäre als auch ihn selbst verändert hat, scheint der Mensch außerstande zu sein, zu seinen Wurzeln in der Natur zurückzukehren. Trotz aller Müdigkeit gibt das lyrische Ich nicht auf. Es stellt sich den diversen Widrigkeiten der Existenz und übt sich im Durchhalten.Gewiss
kann keiner dahin
wo die Erde ihre Schmelze gebiert
zum magnetischen Fruchtwasserfluss
der in unsern Adern weiterkocht
weil wir einfach alles überstehn
Verspüren wir also, wie diese Verse nahelegen, doch noch eine Restenergie von unserem natürlichen Ursprung in uns? Ganz bestimmt, und doch wollen wir nicht zu ihm zurück, erst recht nicht, wenn dies bedeuten würde, in Kontakt mit dem heißen Mittelpunkt des Planeten zu geraten.
Arten reimt sich auf Klinikgarten
So hält Becker alles in der Ambivalenz: Sie schwankt zwischen Sehnsucht und Ernüchterung, Freiheitstraum und Trauer über den Verlust von Bindungen. Gehalten werden ihre von Lautmalereien, Metaphern, Paradoxien und allerlei ironischen Gesten geprägten Gedichte daher auch zwischen den zwei großen Polen des Lebens.
Während die ersten Miniaturen des Bandes von der Geburt erzählen, endet ihre letzte mit dem Tod. Um deren Spiegelungsverhältnis auf Ebene der Form zu verdeutlichen, finden sich in den Poemen immer wieder vereinzelte Gleichklänge.
Auf „Arten“ folgt der „Klinikgarten“, und auf „lauschen“ das „rauschen“. „Muss ich denn Abschied nehmen Welt von deinen süßen / salzgen Wassern grünen Hügelketten“, fragt das lyrische Ich einmal. Die Antwort ist: Jein. Zweifelsohne kann es sich kaum dem Lauf der Zeit entziehen, gleichzeitig findet es Beständigkeit in der gebundenen Sprache. Denn die Reime dieser spannungsreichen Poesie bieten Halt, wo sonst der freie Fall droht.