Das Geschäft mit dem Mitleid
Es gibt keine positiven Ausnahmen: So lautet das ernüchternde Fazit aus der Zustandsbeschreibung über Hilfsorganisationen, den die Autorin vorlegt. Anhand zahlreicher Beispiele beschreibt sie, wie sich der "Markt für Wohltätigkeit" entwickelt hat und wie er weiter kräftig floriert.
Wer bisher geglaubt hatte, in den Hilfsorganisationen dieser Welt versammelten sich all jene Menschen, die vom Guten, Schönen, Edlen beseelt seien, Samariter der alten Schule und aufopferungsvolle Seelen also, der bekommt mit diesem Buch rasch andere Ansichten mitgeteilt. Der erste Blick geht nach Ruanda, Mitte der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Brennpunkt ist der Genozid extremistischer Hutu an ihren Tutsi-Landsleuten.
"Der Exodus aus Ruanda war keine Flucht der Hutu gewesen, sondern ein taktischer Rückzug (…), um einer Niederlage zu entgehen. (…) Es war die überreichliche humanitäre Hilfe, die es den Hutu-Extremisten möglich machte, von den UNHCR-Lagern in Goma aus ihre Ausrottungskampagne gegen die Tutsi in Ruanda fortzusetzen. (…) Ohne humanitäre Hilfe hätte sich der Krieg der Hutu vermutlich schnell totgelaufen. Niemand hat seither die Hilfsindustrie für ihre Rolle in diesem Kampf zur Verantwortung gezogen, schon gar nicht die Hilfsorganisationen selber."
Zwischen ihnen dominiert die Rivalität um die Hilfsgelder. Keiner will aussteigen, alle machen mit. Linda Polman gibt Beispiele für den zynischen Medienrummel mit den Opfern, zeigt, wie die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischt werden, weil niemand durchblickt und politische Überlegungen keine Rolle spielen. So gehen Unsummen der Hilfsgelder an totalitäre Regime. Hilfsmittel werden geraubt oder immense Steuern und Gebühren im Land verlangt. Die blühende Korruption kostet weiteres Geld. Und die Hilfsorganisationen sind weniger an der Aufdeckung dieser Missstände als an der eigenen Existenz interessiert.
"Wenn irgendwo in einem Krisengebiet mehrere Geberverträge zirkulieren, muss die Karawane der humanitären Hilfsorganisationen schnell dorthin eilen. Als Geber ihre Geldströme verlegten, tauschten die Hilfsorganisationen das Leid des Volkes von Sierra Leone 2001-2002 gegen das des afghanischen Volks und das Leid der Flüchtlingslager in Darfur gegen das der Auffanglager im Tsunamigebiet. Anstatt sich Sorgen darüber zu machen, wie es nach Ablauf eines Vertrags mit der lokalen Bevölkerung weitergehen soll, sind die Hilfsorganisationen durch das Vertragssystem gezwungen, sich um ihr eigenes Fortbestehen zu sorgen."
Seit 1989, seit dem Umbruch in der Welt, floriert das Geschäft der Hilfsorganisationen auf ungeahnte Weise. Die UN schätzt die Zahl internationaler NGOs, also der Nichtregierungsorganisationen, heute auf mehr als 37.000. Unübersehbar ist das Geschehen und oft genug herrscht völliges Chaos in Kriegs- und Katastrophengebieten, zwischen den vielen Hilfsorganisationen wohlgemerkt.
Seit diesem Hilfsboom in der Welt spricht man unverhohlen vom "Markt für Wohltätigkeit" und vom "big business" mit all den Auswüchsen, die auch in anderen Bereichen florierender Geldmacherei zu beklagen sind. In den ausgewählten Regionen setzt im Allgemeinen ein wirtschaftlicher Boom ein: die Mieten steigen, die Bürokratie wächst, die Spekulation beginnt. Es bedienen sich vor allem jene, die ohnehin zur begüterten Schicht gehören und wendiger und schlauer sind als andere. Und die Jobs in den Hilfsorganisationen selbst sind sehr begehrt, glaubt man der Darstellung der Journalistin:
"Die Gehälter, die Tagespauschalen sowie die Gefahren- und Erschwerniszulagen machen die Arbeit in der fest etablierten Hilfsbranche außerordentlich attraktiv. (…) Die humanitäre Hilfsgemeinschaft hat keinerlei Hemmungen, sich in Kriegs- und Krisenländern als internationaler Jetset im Urlaub zu präsentieren. (…) Ich habe humanitäre Helfer kennengelernt, die sich tagsüber der Kindersoldaten und Kriegswaisen annahmen und abends in den Armen von Kinderprostituierten verschnauften."
Linda Polman liefert eine deprimierende und empörende Zustandsbeschreibung der "Mitleidsindustrie". Positive Ausnahmen kommen bei ihr nicht vor, Patentlösungen gibt sie nicht. Das Buch macht ratlos und wütend zugleich. Die Hilfsorganisationen gehören unter Kontrolle, so viel ist nach der Lektüre klar. Nur: Wer die zynische Geschäftemacherei unterbinden soll, bleibt schleierhaft.
Linda Polman: Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen
Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010
"Der Exodus aus Ruanda war keine Flucht der Hutu gewesen, sondern ein taktischer Rückzug (…), um einer Niederlage zu entgehen. (…) Es war die überreichliche humanitäre Hilfe, die es den Hutu-Extremisten möglich machte, von den UNHCR-Lagern in Goma aus ihre Ausrottungskampagne gegen die Tutsi in Ruanda fortzusetzen. (…) Ohne humanitäre Hilfe hätte sich der Krieg der Hutu vermutlich schnell totgelaufen. Niemand hat seither die Hilfsindustrie für ihre Rolle in diesem Kampf zur Verantwortung gezogen, schon gar nicht die Hilfsorganisationen selber."
Zwischen ihnen dominiert die Rivalität um die Hilfsgelder. Keiner will aussteigen, alle machen mit. Linda Polman gibt Beispiele für den zynischen Medienrummel mit den Opfern, zeigt, wie die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischt werden, weil niemand durchblickt und politische Überlegungen keine Rolle spielen. So gehen Unsummen der Hilfsgelder an totalitäre Regime. Hilfsmittel werden geraubt oder immense Steuern und Gebühren im Land verlangt. Die blühende Korruption kostet weiteres Geld. Und die Hilfsorganisationen sind weniger an der Aufdeckung dieser Missstände als an der eigenen Existenz interessiert.
"Wenn irgendwo in einem Krisengebiet mehrere Geberverträge zirkulieren, muss die Karawane der humanitären Hilfsorganisationen schnell dorthin eilen. Als Geber ihre Geldströme verlegten, tauschten die Hilfsorganisationen das Leid des Volkes von Sierra Leone 2001-2002 gegen das des afghanischen Volks und das Leid der Flüchtlingslager in Darfur gegen das der Auffanglager im Tsunamigebiet. Anstatt sich Sorgen darüber zu machen, wie es nach Ablauf eines Vertrags mit der lokalen Bevölkerung weitergehen soll, sind die Hilfsorganisationen durch das Vertragssystem gezwungen, sich um ihr eigenes Fortbestehen zu sorgen."
Seit 1989, seit dem Umbruch in der Welt, floriert das Geschäft der Hilfsorganisationen auf ungeahnte Weise. Die UN schätzt die Zahl internationaler NGOs, also der Nichtregierungsorganisationen, heute auf mehr als 37.000. Unübersehbar ist das Geschehen und oft genug herrscht völliges Chaos in Kriegs- und Katastrophengebieten, zwischen den vielen Hilfsorganisationen wohlgemerkt.
Seit diesem Hilfsboom in der Welt spricht man unverhohlen vom "Markt für Wohltätigkeit" und vom "big business" mit all den Auswüchsen, die auch in anderen Bereichen florierender Geldmacherei zu beklagen sind. In den ausgewählten Regionen setzt im Allgemeinen ein wirtschaftlicher Boom ein: die Mieten steigen, die Bürokratie wächst, die Spekulation beginnt. Es bedienen sich vor allem jene, die ohnehin zur begüterten Schicht gehören und wendiger und schlauer sind als andere. Und die Jobs in den Hilfsorganisationen selbst sind sehr begehrt, glaubt man der Darstellung der Journalistin:
"Die Gehälter, die Tagespauschalen sowie die Gefahren- und Erschwerniszulagen machen die Arbeit in der fest etablierten Hilfsbranche außerordentlich attraktiv. (…) Die humanitäre Hilfsgemeinschaft hat keinerlei Hemmungen, sich in Kriegs- und Krisenländern als internationaler Jetset im Urlaub zu präsentieren. (…) Ich habe humanitäre Helfer kennengelernt, die sich tagsüber der Kindersoldaten und Kriegswaisen annahmen und abends in den Armen von Kinderprostituierten verschnauften."
Linda Polman liefert eine deprimierende und empörende Zustandsbeschreibung der "Mitleidsindustrie". Positive Ausnahmen kommen bei ihr nicht vor, Patentlösungen gibt sie nicht. Das Buch macht ratlos und wütend zugleich. Die Hilfsorganisationen gehören unter Kontrolle, so viel ist nach der Lektüre klar. Nur: Wer die zynische Geschäftemacherei unterbinden soll, bleibt schleierhaft.
Linda Polman: Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen
Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010