Das Geschenk der Unvollkommenheit
Der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel plädiert in "Plädoyer gegen die Perfektion" für den Menschen als selbstbewusstes Mängelwesen. Er hält die gentechnische Optimierung des Menschen in ein krankheitsresistentes Superwesen für einen Verstoß gegen tief sitzende ethische Intuitionen.
Die Debatten sind längst nicht abgeschlossen. Unlängst hat der deutsche Bundestag sich mit deutlicher Mehrheit für die Verschiebung des Stichtages im Stammzellgesetz ausgesprochen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes wird es deutschen Forschern erlaubt sein, mit embryonalen Stammzelllinien zu experimentieren, die im Ausland vor dem 1. Mai 2007 hergestellt wurden.
Der Stichtag soll verhindern, dass von Deutschland aus ein Anreiz entsteht, menschliches Leben im frühesten Stadium für Forschungszwecke zu zerstören. Auf der anderen Seite soll die stichtagsgebundene Ausnahme von den strengen Richtlinien des Embryonenschutzgesetzes deutschen Forschern ermöglichen, den Anschluss an die internationale Grundlagenforschung zu halten. Es geht um einen Forschungszweig, von dem Fachleute und Patienten sich Therapiemöglichkeiten für schwerste Krankheiten wie etwa Parkinson erhoffen.
Kritiker der Entscheidung, allen voran die katholische Kirche, haben eingewendet, dass damit der grundgesetzlich festgeschriebene Lebensschutz einseitig zugunsten der Forschungsfreiheit verletzt worden sei. Folgt man dem amerikanischen Philosophen Michael J. Sandel in seinem jetzt ins Deutsche übertragenen und von Jürgen Habermas mit einem einführenden Vorwort versehenen Buch, dann liegen die Dinge aber komplizierter: weder lässt sich die Arbeit mit embryonalen Stammzellen als Instrumentalisierung menschlichen Lebens rundweg verurteilen, noch haben die Befürworter einer liberalisierten Forschung Grund zu triumphieren.
Sandels differenzierte Argumentation kommt vielmehr zu dem Schluss, dass Forschung an überzähligen Embryonen medizinisch und moralisch rechtfertigt werden kann, während die Hoffnung, der Mensch lasse sich langfristig durch gentechnische Optimierung in ein krankheitsresistentes Superwesen verwandeln, einen Verstoß gegen tiefsitzende ethische Intuitionen darstellt. Mit anderen Worten: Nicht in der Zerstörung der für die künstliche Befruchtung überzählig angefallenen Embryonen liegt der Sündenfall, sondern im forschungsgläubigen Optimismus, dass medizinischer Fortschritt der Perfektionierung menschlichen Lebens bedeute.
Das moralische Prinzip auf das sich Sandel dabei stützt, speist sich aus der Unterscheidung zweier Grundhaltungen zum Leben: als Beherrschung oder als Gabe. Entsprechend weit gespannt sind die Beispiele, die er heranzieht. Ob im dopingverseuchten Hochleistungssport, in der Bildungsversessenheit ehrgeiziger Eltern oder in zeitgenössischen Spielarten einer liberalen Eugenik, der Anspruch humane Defizite medizinisch, technisch oder pädagogisch zu beherrschen, macht uns blind für die Tatsache, dass wir für unsere natürlichen Anlagen im guten wie im schlechten keine Verantwortung tragen. Wir können nur deshalb selbstbewusste Mängelwesen sein, weil uns bestimmte Eigenschaften von der Natur oder – je nach Sichtweise – von Gott gegeben wurden.
Die heikle Frage, inwiefern zwischen Optimierung und Therapie überhaupt eine klare Grenze verläuft, kann auch Sandel nicht eindeutig klären. Mit seinem Argument für eine naturwüchsige Unvollkommenheit des Menschen bringt er jedoch einen wichtigen Gesichtspunkt in eine Diskussion ein, die sich nicht nur in Deutschland zu sehr auf den vermeintlichen Antagonismus von Lebensschutz und Forschungsfreiheit verengt hat. Spätestens wenn in Berlin eine weitere Verschiebung des Stichtages zur Debatte steht, sollte Michael Sandels Beitrag zur Basislektüre der Abgeordneten zählen.
Rezensiert von Ralf Müller-Schmid
Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik.
Aus dem Amerikanischen von Rudolf Teuwsen
Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas
Berlin University Press 2008
175 Seiten, 19,90 Euro
Der Stichtag soll verhindern, dass von Deutschland aus ein Anreiz entsteht, menschliches Leben im frühesten Stadium für Forschungszwecke zu zerstören. Auf der anderen Seite soll die stichtagsgebundene Ausnahme von den strengen Richtlinien des Embryonenschutzgesetzes deutschen Forschern ermöglichen, den Anschluss an die internationale Grundlagenforschung zu halten. Es geht um einen Forschungszweig, von dem Fachleute und Patienten sich Therapiemöglichkeiten für schwerste Krankheiten wie etwa Parkinson erhoffen.
Kritiker der Entscheidung, allen voran die katholische Kirche, haben eingewendet, dass damit der grundgesetzlich festgeschriebene Lebensschutz einseitig zugunsten der Forschungsfreiheit verletzt worden sei. Folgt man dem amerikanischen Philosophen Michael J. Sandel in seinem jetzt ins Deutsche übertragenen und von Jürgen Habermas mit einem einführenden Vorwort versehenen Buch, dann liegen die Dinge aber komplizierter: weder lässt sich die Arbeit mit embryonalen Stammzellen als Instrumentalisierung menschlichen Lebens rundweg verurteilen, noch haben die Befürworter einer liberalisierten Forschung Grund zu triumphieren.
Sandels differenzierte Argumentation kommt vielmehr zu dem Schluss, dass Forschung an überzähligen Embryonen medizinisch und moralisch rechtfertigt werden kann, während die Hoffnung, der Mensch lasse sich langfristig durch gentechnische Optimierung in ein krankheitsresistentes Superwesen verwandeln, einen Verstoß gegen tiefsitzende ethische Intuitionen darstellt. Mit anderen Worten: Nicht in der Zerstörung der für die künstliche Befruchtung überzählig angefallenen Embryonen liegt der Sündenfall, sondern im forschungsgläubigen Optimismus, dass medizinischer Fortschritt der Perfektionierung menschlichen Lebens bedeute.
Das moralische Prinzip auf das sich Sandel dabei stützt, speist sich aus der Unterscheidung zweier Grundhaltungen zum Leben: als Beherrschung oder als Gabe. Entsprechend weit gespannt sind die Beispiele, die er heranzieht. Ob im dopingverseuchten Hochleistungssport, in der Bildungsversessenheit ehrgeiziger Eltern oder in zeitgenössischen Spielarten einer liberalen Eugenik, der Anspruch humane Defizite medizinisch, technisch oder pädagogisch zu beherrschen, macht uns blind für die Tatsache, dass wir für unsere natürlichen Anlagen im guten wie im schlechten keine Verantwortung tragen. Wir können nur deshalb selbstbewusste Mängelwesen sein, weil uns bestimmte Eigenschaften von der Natur oder – je nach Sichtweise – von Gott gegeben wurden.
Die heikle Frage, inwiefern zwischen Optimierung und Therapie überhaupt eine klare Grenze verläuft, kann auch Sandel nicht eindeutig klären. Mit seinem Argument für eine naturwüchsige Unvollkommenheit des Menschen bringt er jedoch einen wichtigen Gesichtspunkt in eine Diskussion ein, die sich nicht nur in Deutschland zu sehr auf den vermeintlichen Antagonismus von Lebensschutz und Forschungsfreiheit verengt hat. Spätestens wenn in Berlin eine weitere Verschiebung des Stichtages zur Debatte steht, sollte Michael Sandels Beitrag zur Basislektüre der Abgeordneten zählen.
Rezensiert von Ralf Müller-Schmid
Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik.
Aus dem Amerikanischen von Rudolf Teuwsen
Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas
Berlin University Press 2008
175 Seiten, 19,90 Euro