Das Gespenst der Abstiegsangst
In Deutschland geht die Angst vor dem sozialen Abstieg um. Sozialer Abstieg beginnt meistens damit, den Arbeitsplatz zu verlieren. Ohne Arbeit ist der gewohnte Lebensstandard nicht zu halten, soziale Kontakte gehen verloren und viele Betroffene schämen sich, im Beruf versagt zu haben. Deshalb gründet Abstiegsangst weitgehend auf der Sorge vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes.
Dass die Abstiegsangst um sich greift, ist aber nicht neu. Umfragen zeigen schon seit Anfang der neunziger Jahre eine zunehmende Verunsicherung der deutschen Bevölkerung. Diese Furcht war lange Zeit nur in den Arbeiterschichten verbreitet sowie unter schlecht ausgebildeten Arbeitnehmern mit einfachen Dienstleistungsberufen.
Nun ist die Abstiegsangst auch im Herz der Mittelschicht angekommen: Bei Technikern etwa, Krankenschwestern, auch manche Akademikerin ist unter ihnen. An die 60 Prozent dieser Menschen sagen heute, dass sie sich vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes sorgen. Das ist ein Anstieg um mehr als 20 Prozent seit der Wiedervereinigung. Zwar ist die Abstiegsangst unter den ungelernten Arbeitern und den kleinen Angestellten immer noch am höchsten. In keiner anderen Schicht aber hat sie sich derart rasant ausgebreitet wie in der Mitte.
Warum fürchtet sich die Mittelschicht so sehr? Ich sehe mindestens drei Gründe. Zum einen zeigen Statistiken, dass die Mitte seit einigen Jahren schrumpft. Nicht dramatisch, aber immerhin. Von denen, die sich aus ihr verabschiedet haben, ist der größere Teil tatsächlich abgestiegen.
Zweitens macht die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts auch vor der Mitte nicht halt. Arbeitsverträge werden zunehmend auch für öffentlich Bedienstete befristet, Jobs werden in Banken und Versicherungen abgebaut – übrigens schon lange vor der Finanzkrise – und selbst Ingenieure müssen öfter den Betrieb wechseln, wenn sie ihren Lebensstandard halten wollen.
Drittens machen viele Angehörige der Mitte heute Erfahrungen, mit denen sie im Leben nicht gerechnet haben. Während des späten Wirtschaftswunders aufgewachsen, haben sie bei ihren Eltern ein relativ hohes Niveau an beruflicher Sicherheit und einen stetigen Zuwachs an Wohlstand kennengelernt. Heute selbst erwachsen, reklamieren sie dieses Wohlstandsversprechen auch für sich. Allein: Die heutige Mitte spürt, dass daraus nichts mehr wird. Sie muss sich im Vergleich zu ihren Eltern auf vielfältige Unsicherheiten, unterbrochene Erwerbsverläufe und ein geringeres Rentenniveau einstellen. Daran gemessen ist ihre Abstiegsangst verständlich und berechtigt.
Im Vergleich zu den unteren Schichten jedoch klafft zwischen den realen Problemen der Mittelschicht und ihrer gefühlten Unsicherheit eine deutliche Lücke. In den unteren Schichten ist die Unsicherheit viel stärker angestiegen, besonders in dem Teil der Gesellschaft, den die Soziologie neudeutsch Prekariat nennt: bei Schulabbrechern, die von ihren Eltern zwar kein Vermögen, dafür aber Bildungsferne geerbt haben; bei alleinerziehenden Frauen, die trotz Teilzeitjob auf staatliche Zuschüsse angewiesen sind, und bei vielen Migrantenkindern in den Großstädten ohne ausreichende Deutschkenntnisse und ebenso häufig ohne Ehrgeiz, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Wenn sich in Deutschland dauerhaft ein solches Prekariat etabliert, dann wird dies auch Folgen für das Verhalten der gesellschaftlichen Mitte haben. Mittelschicht-Eltern könnten mehr noch als heute aus sozial schwachen Stadtteilen wegziehen, aus Sorge, ihre Kinder wachsen in einem Milieu der Chancenlosen auf. Ihre schulisch begabten Jugendlichen könnten die vermeintlich sicherere Lehrstelle wählen anstatt den aufwändigen Weg des Studiums einzuschlagen, für das sie eigentlich gut geeignet wären. Und junge Mittelschicht-Paare könnten die Familiengründung, die Geburt des ersten oder des zweiten Kindes, noch weiter in die Zukunft aufschieben.
Dies sind nur Beispiele dafür, was passieren kann, wenn die Mitte oder zumindest Teile von ihr den Absturz ins Prekariat fürchten. Ob es wirklich dazu kommen wird, wissen wir nicht. Panikmache ist daher fehl am Platz. Dennoch lehrt uns die Abstiegsangst der Mitte heute vor allem eins: Wachsam zu sein, auch und gerade mit Blick auf den unteren Rand der Gesellschaft.
Holger Lengfeld, Dr. phil., Jahrgang 1970, ist Professor für Soziologie und Inhaber der "Ernsting’s family-Stiftungsprofessur für Soziologische Gegenwartsdiagnosen" an der FernUniversität in Hagen. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien Universität Berlin und der Universität Wien. Er beschäftigt sich vor allem mit dem Wandel und den Ursachen von sozialer Ungleichheit in Deutschland und Europa.
Nun ist die Abstiegsangst auch im Herz der Mittelschicht angekommen: Bei Technikern etwa, Krankenschwestern, auch manche Akademikerin ist unter ihnen. An die 60 Prozent dieser Menschen sagen heute, dass sie sich vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes sorgen. Das ist ein Anstieg um mehr als 20 Prozent seit der Wiedervereinigung. Zwar ist die Abstiegsangst unter den ungelernten Arbeitern und den kleinen Angestellten immer noch am höchsten. In keiner anderen Schicht aber hat sie sich derart rasant ausgebreitet wie in der Mitte.
Warum fürchtet sich die Mittelschicht so sehr? Ich sehe mindestens drei Gründe. Zum einen zeigen Statistiken, dass die Mitte seit einigen Jahren schrumpft. Nicht dramatisch, aber immerhin. Von denen, die sich aus ihr verabschiedet haben, ist der größere Teil tatsächlich abgestiegen.
Zweitens macht die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts auch vor der Mitte nicht halt. Arbeitsverträge werden zunehmend auch für öffentlich Bedienstete befristet, Jobs werden in Banken und Versicherungen abgebaut – übrigens schon lange vor der Finanzkrise – und selbst Ingenieure müssen öfter den Betrieb wechseln, wenn sie ihren Lebensstandard halten wollen.
Drittens machen viele Angehörige der Mitte heute Erfahrungen, mit denen sie im Leben nicht gerechnet haben. Während des späten Wirtschaftswunders aufgewachsen, haben sie bei ihren Eltern ein relativ hohes Niveau an beruflicher Sicherheit und einen stetigen Zuwachs an Wohlstand kennengelernt. Heute selbst erwachsen, reklamieren sie dieses Wohlstandsversprechen auch für sich. Allein: Die heutige Mitte spürt, dass daraus nichts mehr wird. Sie muss sich im Vergleich zu ihren Eltern auf vielfältige Unsicherheiten, unterbrochene Erwerbsverläufe und ein geringeres Rentenniveau einstellen. Daran gemessen ist ihre Abstiegsangst verständlich und berechtigt.
Im Vergleich zu den unteren Schichten jedoch klafft zwischen den realen Problemen der Mittelschicht und ihrer gefühlten Unsicherheit eine deutliche Lücke. In den unteren Schichten ist die Unsicherheit viel stärker angestiegen, besonders in dem Teil der Gesellschaft, den die Soziologie neudeutsch Prekariat nennt: bei Schulabbrechern, die von ihren Eltern zwar kein Vermögen, dafür aber Bildungsferne geerbt haben; bei alleinerziehenden Frauen, die trotz Teilzeitjob auf staatliche Zuschüsse angewiesen sind, und bei vielen Migrantenkindern in den Großstädten ohne ausreichende Deutschkenntnisse und ebenso häufig ohne Ehrgeiz, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Wenn sich in Deutschland dauerhaft ein solches Prekariat etabliert, dann wird dies auch Folgen für das Verhalten der gesellschaftlichen Mitte haben. Mittelschicht-Eltern könnten mehr noch als heute aus sozial schwachen Stadtteilen wegziehen, aus Sorge, ihre Kinder wachsen in einem Milieu der Chancenlosen auf. Ihre schulisch begabten Jugendlichen könnten die vermeintlich sicherere Lehrstelle wählen anstatt den aufwändigen Weg des Studiums einzuschlagen, für das sie eigentlich gut geeignet wären. Und junge Mittelschicht-Paare könnten die Familiengründung, die Geburt des ersten oder des zweiten Kindes, noch weiter in die Zukunft aufschieben.
Dies sind nur Beispiele dafür, was passieren kann, wenn die Mitte oder zumindest Teile von ihr den Absturz ins Prekariat fürchten. Ob es wirklich dazu kommen wird, wissen wir nicht. Panikmache ist daher fehl am Platz. Dennoch lehrt uns die Abstiegsangst der Mitte heute vor allem eins: Wachsam zu sein, auch und gerade mit Blick auf den unteren Rand der Gesellschaft.
Holger Lengfeld, Dr. phil., Jahrgang 1970, ist Professor für Soziologie und Inhaber der "Ernsting’s family-Stiftungsprofessur für Soziologische Gegenwartsdiagnosen" an der FernUniversität in Hagen. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien Universität Berlin und der Universität Wien. Er beschäftigt sich vor allem mit dem Wandel und den Ursachen von sozialer Ungleichheit in Deutschland und Europa.