Bodo Mrozek ist Sound- und Kulturhistoriker am Berliner Kolleg Kalter Krieg. Zuletzt erschien: "Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte", das von der Kriminalisierung und Etablierung der Popkultur im 20. Jahrhundert handelt (Suhrkamp 2019).
Keine Angst vor lautstarken Zeiten
04:33 Minuten
Steht uns eine ähnlich krisenhafte und turbulente Zeit bevor, wie in den 1920ern? Nein, damals röhrte und dröhnte es weit mehr als heute, klanglich wie politisch, meint der Kulturhistoriker Bodo Mrozek.
Feuilletons und Fernsehserien wie "Babylon Berlin" parallelisieren begeistert das 20. mit dem 21. Jahrhundert. Der Freude an der Parallelisierung wohnt die implizite Behauptung einer Wiederholung der Geschichte inne – alles kehrt zurück. Im politischen Kontext heißt das freilich auch: Alles wird immer schlimmer. Eine Wahrnehmung, die gerne von Kulturpessimisten formuliert wird.
Denn eine der häufigsten Empfindungen gerade bei betagteren Zeitgenossen ist die eines kulturellen Crescendo. Die Welt wird immer lauter, immer schriller, immer schneller: der Fluss von Informationen, der Lebensrhythmus und der Verkehr sowieso.
Eine Dekade der Musikverliebten
Schon aus diesem Grund lohnt es sich, ein Ohr auf die Vergangenheit zu werfen. Der Soundhistoriker Daniel Morat hat die Geräusche gesammelt, wie sie auch auf der anderen Seite des Atlantiks gegen Ende der 1920er das New Yorker Gesundheitsamt katalogisierte. Sie kamen nicht mehr wie zu Anfang des Jahrhunderts von Pferdewagen, fliegenden Händlern, Straßenmusikern, Klingeln und Tieren, sondern entsprangen nun technisierten Lärmquellen wie Autos, Zügen, Straßenbahnen, Lautsprechern und Radios.
Die klangliche Belastung war so groß, dass gegen Mitte des Jahrzehnts eine junge Wissenschaft sogar eine Maßeinheit für die Lautstärke von Schall einführte: 1925 wurde das Dezibel erfunden. Kommissionen und Gesundheitsämter widmeten sich der Lärmbekämpfung, darin Ärzte, Neurologen und Ingenieure der Akustik, wie Morat in dem Sammelband "Sound des Jahrhunderts" ausführt.
Gleichzeitig war die Dekade bekanntermaßen regelrecht musikverliebt. Stimmwunder der Oper und der Operette wurden ebenso gefeiert wie das Klickediklack berühmter Stepptänzer, das Revuetheater erlebte einen Aufschwung und am Parkett erklang der Charleston.
Gleichzeitig war die Dekade bekanntermaßen regelrecht musikverliebt. Stimmwunder der Oper und der Operette wurden ebenso gefeiert wie das Klickediklack berühmter Stepptänzer, das Revuetheater erlebte einen Aufschwung und am Parkett erklang der Charleston.
Kopfhörerklängen durch die Welt
Was aber hat all das Getöse mit unserer Zeit zu tun? Verklang in dem, was Döblins Held rund um den Berliner Alexanderplatz hörte, der Urknall der technischen Moderne? Ist die Elektromusik unserer Tage nur ein fernes Echo des Theremins, das als erstes elektronisches Musikinstrument 1920 erfunden wurde? Haben uns nicht avantgardistische Musiker wie Erik Satie Mitte der Zwanziger die Ohren für das multisensorische Filmerlebnis erstmals geöffnet, das wir heute zwar in Farbe und Stereo streamen, aber noch stets aus Bild und Ton zusammengesetzt genießen? Und dröhnt nicht schon wieder der Marschtritt bräunlicher Kolonnen so laut, dass manche Stammtischstrategen meinen, in den Hinterzimmern Querfront spielen zu müssen, wie weiland, als ebenjenes Trampeln das Ende der Weimarer Republik auch sonisch einläutete?
Nein, hoffentlich nicht. Berlin ist nicht Weimar – und die Zwanziger des 21. sind nicht die des 20. Jahrhunderts. Zwar war noch nie so viel Musik wie heute, wo sich viele in der "Sound Bubble" ihres Kopfhörers durch die Welt bewegen. Gleichzeitig haben Kurznachrichtendienste das Telefongeplapper der vergangenen Jahrzehnte in der Öffentlichkeit wieder weitgehend verstummen lassen, ab und zu nervt noch ein Mobilgerät mit einem Signalton.
Nein, hoffentlich nicht. Berlin ist nicht Weimar – und die Zwanziger des 21. sind nicht die des 20. Jahrhunderts. Zwar war noch nie so viel Musik wie heute, wo sich viele in der "Sound Bubble" ihres Kopfhörers durch die Welt bewegen. Gleichzeitig haben Kurznachrichtendienste das Telefongeplapper der vergangenen Jahrzehnte in der Öffentlichkeit wieder weitgehend verstummen lassen, ab und zu nervt noch ein Mobilgerät mit einem Signalton.
Vergleicht man vor dem geistigen Ohr Musik und Großstadtlärm beider Twenties, so klingen unsere von Lärmschutzverordnungen, Ruheabteilen, Clubverdrängung und rundum gepolsterten Kopfhörern gedämpften Soundscapes geradezu wie in Watte gepackt. Das kulturkonservative Lamento, alles würde immer doller, muss man zumindest aus klanglicher Perspektive daher entschieden downpitchen: In den 1920ern röhrte es weit mehr als heute. Klanglich wie politisch. Und so bleibt es hoffentlich auch noch die nächsten zehn Jahre lang.