Das Glück der gemeinsamen Lektüre
Ein gutes Buch zu lesen, ist immer ein Glück - aber es mit anderen gemeinsam zu lesen, ist ein noch viel größeres Glück. Dieser Meinung ist Thomas Böhm, Programmleiter Literatur des Ehrengastauftritts Islands bei der Frankfurter Buchmesse. Da er von Lesekreisen so begeistert ist, hat er ein Buch darüber geschrieben.
Britta Bürger: Lesekreis – dieser Begriff, der klingt nach ruhiger Beschäftigung in Kindergarten und Altenheim, oder er erinnert an Arbeitsgruppen, in denen man gemeinsam "Das Kapital" studierte. Dabei muss man sich den Lesekreis heute vielleicht eher vorstellen wie ein gemeinsames Koch- oder Weinseminar, bei dem man herausfindet, mit welchen Aromen man eine besondere Wirkung erzielt, oder auch wie ein Debattensalon, in dem ausgewählte Texte auf den Prüfstand gestellt werden. Thomas Böhm, Programmleiter Literatur des Ehrengastauftritts Islands bei der Frankfurter Buchmesse (An dieser Stelle weicht die Schriftversion vom MP3-Audio ab, Anm. d. Red.), hat jetzt selbst ein kleines Buch geschrieben, in dem er für das gemeinsame Lesen und Diskutieren wirbt. Jetzt ist er uns in Aachen zugeschaltet, schönen guten Tag, Herr Böhm!
Thomas Böhm: Schönen guten Tag, Frau Bürger!
Bürger: Warum ist die gemeinsame Lektüre mit einer Gruppe schöner als die enge Zweierbeziehung von mir und meinem Buch?
Böhm: Ja, es ist ein wunderbares Glück, das man immer wieder erfährt, aber man weiß ja auch, dass es ein seltenes Glück ist, mal auf jemanden zu treffen, der das gleiche Buch gelesen hat, mit dem man sich drüber austauschen kann, Lieblingsstellen – was hast du dabei gedacht? – und so weiter, und so weiter. Und ein Lesekreis ist sozusagen eine Verstetigung dieses Glücks. Einmal im Monat trifft man andere Menschen, die die gleichen Bücher gelesen haben, lernt diese Menschen auf diese Art und Weise oft neu, anders kennen, und lernt natürlich die Bücher kennen.
Bürger: Sie selbst haben Ihren ersten Lesekreis, glaube ich, gegründet, als sie noch im Kölner Literaturhaus gearbeitet haben. Welchen Nerv haben Sie damals bei den Leuten getroffen, und was hat Sie selbst daran am Meisten begeistert?
Böhm: Wir haben die Bücher gelesen von Autorinnen und Autoren, die kurz darauf ins Literaturhaus gekommen sind. Und das hat die Lesekreismitglieder besonders interessiert, dass man Gegenwartsliteratur liest, und zwar nicht das, was auf den Bestsellerlisten steht, sondern, dass man Entdeckungen macht, dass viele immer gesagt haben: Von mir aus hätte ich dieses Buch nicht gelesen, aber ich bin froh, dass wir es uns im Lesekreis aufs Programm gesetzt haben, denn da habe ich für mich, wie gesagt eine Entdeckung gemacht. Und für mich persönlich war das Tolle daran, dass ich nach jeder Sitzung des Lesekreises das Gefühl hatte, dass ich das Buch nicht nur mit meinen eigenen Augen gelesen habe, sondern mit den Augen all derer, die wir da uns zusammengetroffen haben, weil wir alle so unterschiedliche Wahrnehmungen an dem Buch gemacht haben, weil alle unterschiedliche Lieblingsstellen hatten, weil wir sehr heftig und interessant diskutiert haben, und das war für mich immer eine ganz große Bereicherung.
Bürger: Wo gibt es mittlerweile überall Lesekreise? Ja nicht nur an Universitäten und Literaturhäusern, anscheinend ja vielfach auch im Privaten.
Böhm: Ja, das macht es eben schwer zu sagen: Wo gibt es überall Lesekreise? Weil Sie brauchen ja einfach nur zwei, drei Freundinnen, Freunde oder zwei, drei Arbeitskollegen, und schon können Sie einen Lesekreis gründen. Und Sie brauchen es ja nicht der Welt mitteilen: Ich habe jetzt einen Lesekreis! Sondern das ist ihr privates kleines Glück, dass Sie sich regelmäßig mit den Freunden treffen.
Bürger: Im angelsächsischen Raum sind solche Lesekreise wesentlich verbreiteter als bei uns. Wie kommt das?
Böhm: Zum einen durch die Tradition. Es hat im 19. Jahrhundert in Amerika schon Lesekreise gegeben. Das, was bei uns Volkshochschule gewesen ist, war in Amerika im Grunde genommen eine Bibliothek, und da hat man den Wert, dass sich Menschen gemeinschaftlich einen Stoff, ein Thema erschließen durch die Diskussion, schon früh erkannt. Und es gibt schon aus dem 19. Jahrhundert Empfehlungslisten von Bibliotheken für Bücher, die es besonders wert sind, sich damit auseinanderzusetzen. Dann gibt es später weitere Schritte, Oprah Winfrey hat in ihrer Literatursendung, aufbauend auf dieser Tradition, einen Buchclub gemacht, und der hat dem Lesekreis dann quasi im 20., 21. Jahrhundert, dem hat er noch mal so einen richtigen Schub gegeben. Aber, was auch interessant ist, Lesekreise werden oft auch in der Arbeitswelt benutzt. Zum Beispiel gibt es in Firmen Lesekreise, da gibt es Menschen, die treffen sich, um die neueste Fachliteratur zu lesen! Und dann …
Bürger: … eine Form gemeinsamer Fortbildung, nicht?
Böhm: Genau! Es ist eine Form gemeinsamer Fortbildung! Und weil das eben auch die innerbetriebliche Kommunikation so stärkt, haben große Wirtschaftsunternehmen wie zum Beispiel die Kaufhauskette Marks & Spencers, die bieten ihren Mitarbeitern in der Mittagspause Lesekreise an. Da nehmen dann alle von der Direktorin bis zum Kassierer teil an diesem Lesekreis, und tauschen sich über Bücher aus, und so lernt man sich eben auch anders kennen. Und so wird eine innerbetriebliche Kommunikation auf eine ganz andere Weise neugestaltet.
Bürger: In Cambridge gibt es einen Lesekreis, der nennt sich "Daughters of Abraham", also "Abrahams Töchter", der rasant Ableger gebildet hat. Mit was für einer Idee, für einem Konzept?
Böhm: Da muss man kurz sagen, das ist Cambridge in Massachusetts, also in Amerika. Da habe ich auch mal diesen wunderbaren Zungenbrecher sagen können! Das ist ein im besten Sinne multikultureller Kreis, da haben sich Frauen mit ganz unterschiedlichem religiösen Hintergrund verabredet, um die Grundtexte ihrer jeweiligen Religion zu lesen und sich darüber auszutauschen – eine wunderbare Idee; mit Muslims, mit Buddhisten und so weiter, und so weiter, den Koran, die Bibel und so weiter zu lesen. Das muss man sich mal vorstellen! Ich wüsste nichts dergleichen, was in Deutschland mal stattgefunden hat, und man kann sich natürlich vorstellen, dass in einer Gemeinde in einem Stadtviertel, wo so ein Austausch stattfindet, ein ganz anderes soziales Klima entsteht!
Bürger: Das Phänomen der Lesekreise ist unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Thomas Böhm, der bei der Frankfurter Buchmesse den Bereich Literatur leitet und im kommenden Jahr die Programmleitung des internationalen Literaturfestivals in Berlin übernimmt. Im Internet, Herr Böhm, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Seiten, die Lesekreiszusatzmaterialien zu den jeweiligen Büchern anbieten – also auch Fragelisten, mit denen man dann die Diskussion über ein Buch führen kann. Auf was für einem Niveau sind diese Angebote?
Böhm: Leider gibt es die vor allen Dingen in Amerika. Die amerikanischen Verlage haben längst begriffen, dass es eine besondere Form auch von Leserbindung ist, wenn man zu einem Buch das zur Verfügung stellt, und das ist von erstaunlicher Qualität! Die Fragen, die da gestellt werden, das sind nicht nur Fragen wie "Wie finden Sie diese Figur?", oder "Wie finden Sie den Titel?" oder so was, sondern das geht wirklich in die Strukturen der Texte rein, sehr erhellend gemacht, oft wünschte man sich, dass Literaturkritiker so avancierte Fragen an einen Text stellen wie die, die in Lesekreisen diskutiert werden. Wie gesagt, das ist vor allen Dingen in Amerika und in England, da findet man diese Seiten. In Deutschland gibt es noch keinen Verlag, der ein so aufgefächertes Angebot für Lesekreise macht.
Bürger: Am vergangenen Sonnabend haben wir hier in Deutschlandradio Kultur mit unseren Hörerinnen und Hörern über Ihre jeweiligen Leseempfehlungen zur Urlaubszeit diskutiert, und auch da hat sich gezeigt, wie leidenschaftlich viele Leute für ein Buch werben, wie sie dieses Erlebnis teilen wollen. In England haben Medien wie der "Guardian" das bereits auch für sich genutzt und eigene Lesekreise initiiert, sowohl für fiktionale als auch für wissenschaftliche Literatur. Gibt es in den deutschen Medien ähnliche Projekte schon?
Böhm: Nicht, dass ich wüsste, nicht, dass ich wüsste. Es wäre ja wunderbar, wenn zum Beispiel das Deutschlandradio Kultur so einen Lesekreis bilden würde. Die Mittel haben Sie allemal! Sie könnten das auf Ihrer Homepage abbilden, sie könnten, was weiß ich – einmal im Monat machen Sie einen Lesekreis mit einem Buch, das sie vorher ausgewählt haben, vielleicht auch mit den Hörern zusammen ausgewählt haben. Es gibt so was noch nicht, es ist ein großes Desiderat, den es ist so, wie Sie gesagt haben: Indem man Menschen bei ihrer Leidenschaft abholt und sagt, erzähl mir doch mal was über dein Buch, über die Leidenschaft deines Buches, macht man die gleichzeitig zu Literaturvermittlern. Und davon können wir nicht genug haben!
Bürger: Nun gibt es ja die Gefahr, dass sich in so einer Runde einzelne Leute besonders profilieren. Es gibt ja keine professionellen Moderatoren, die die Gespräche lenken. Wie wichtig ist das aber, dass diese Gespräche gut strukturiert werden, dass auch jeder zu Wort kommt?
Böhm: Das Eine ist, wenn sich die – und das habe ich versucht, in meinem Buch darzustellen – wenn man sich beim Lesen eines Buches so ein paar Notizen macht, dann hat man schon eine Handvoll Beiträge für den Lesekreis. Und dann muss man einfach – und das ist die Herausforderung und auch das Spannende bei einem Lesekreis – dann muss man einfach in diesem Lesekreis die eigenen Gesetze finden, die eigenen Regeln finden, dass man sagt, okay, wenn ich jetzt beobachte, eine bestimmte Person ergreift immer das Wort, redet zu lange, und so weiter, dann muss man sich damit auseinandersetzen! Das ist eine Gesellschaft im Kleinen, die für alle Probleme ihre Lösung finden muss!
Bürger: Sie geben in Ihrem Lesekreisbuch ja viele konkrete Anleitungen, wie man so was auf die Beine stellt, angefangen von der Buchauswahl über den Verlauf der anschließenden Gespräche, die Gestaltung des Abends. Wie wichtig ist das, sich jetzt auf Wein oder Wasser zu einigen, auf ein Handyverbot oder darauf, dass man Kinder oder Hunde mitbringen darf oder eben gerade nicht?
Böhm: Jeder Lesekreis macht die Regeln seines Zusammenkommens selbst. Und ich habe einfach nur in meinem Buch darstellen wollen: Das sind die ganz, ganz vielen Details, die man gestalten kann, und wollte damit eigentlich auch die Gestaltungslust ansprechen. Und natürlich, wenn ein Lesekreis – Sie haben es gerade gesagt: Das sind Hundebesitzer, die bringen alle ihren Hund mit! In anderen Lesekreisen werden sich die Menschen vielleicht gestört fühlen, dass einer da ist. Also, jeder Lesekreis macht es so, wie er Lust und Laune hat und wie es am Besten passt!
Bürger: Gibt es einen, von dem Sie noch träumen?
Böhm: [lacht] Oh ja, ich träume davon, bald wieder einen Lesekreis zu haben, denn durch einen Umzug, den ich jetzt gemacht habe von Köln nach Berlin, habe ich meinen alten Lesekreis – für den ich übrigens dieses Buch geschrieben habe – habe ich verloren, und bin noch auf der Suche nach einem Lesekreis.
Bürger: Dann sind wir gespannt, was Sie hier auf die Beine stellen, Herr Böhm. Das Phänomen der Lesekreise hat uns Thomas Böhm näher gebracht. Und wenn Sie selbst in dieser Richtung aktiv werden wollen, können Sie in seinem Buch viele konkrete Tipps finden. Das "Lesekreisbuch" ist erschienen im Berliner Taschenbuch Verlag. Herr Böhm, danke fürs Gespräch!
Böhm: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links auf dradio.de:
Thomas Böhm ist Programmleiter Literatur der Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr vom 12. bis 16. Oktober stattfindet. Ehrengast wird diesmal Island sein. Deutschlandradio Kultur wird im Rahmen der Sendereihe "Das blaue Sofa" wie in jedem Jahr ausführlich von der Messe berichten.
Frankfurter Buchmesse
Das blaue Sofa vom März 2011: Gespräche auf dem Blauen Sofa - Live von der Leipziger Buchmesse
Das blaue Sofa vom Oktober 2010: Gespräche auf dem Blauen Sofa - Live von der Frankfurter Buchmesse
Buchbesprechungen und regelmäßige Lektüre-Tipps finden Sie im laufenden Programm von Deutschlandradio Kultur.
Sendereihe "Kritik": Tägliche Buchbesprechungen aus dem Radiofeuilleton
Buchempfehlungen vom 1.8.2011: Buchempfehlungen im August - Lesetipps aus der Literaturredaktion
Literaturportal auf dradio.de
Thomas Böhm: Schönen guten Tag, Frau Bürger!
Bürger: Warum ist die gemeinsame Lektüre mit einer Gruppe schöner als die enge Zweierbeziehung von mir und meinem Buch?
Böhm: Ja, es ist ein wunderbares Glück, das man immer wieder erfährt, aber man weiß ja auch, dass es ein seltenes Glück ist, mal auf jemanden zu treffen, der das gleiche Buch gelesen hat, mit dem man sich drüber austauschen kann, Lieblingsstellen – was hast du dabei gedacht? – und so weiter, und so weiter. Und ein Lesekreis ist sozusagen eine Verstetigung dieses Glücks. Einmal im Monat trifft man andere Menschen, die die gleichen Bücher gelesen haben, lernt diese Menschen auf diese Art und Weise oft neu, anders kennen, und lernt natürlich die Bücher kennen.
Bürger: Sie selbst haben Ihren ersten Lesekreis, glaube ich, gegründet, als sie noch im Kölner Literaturhaus gearbeitet haben. Welchen Nerv haben Sie damals bei den Leuten getroffen, und was hat Sie selbst daran am Meisten begeistert?
Böhm: Wir haben die Bücher gelesen von Autorinnen und Autoren, die kurz darauf ins Literaturhaus gekommen sind. Und das hat die Lesekreismitglieder besonders interessiert, dass man Gegenwartsliteratur liest, und zwar nicht das, was auf den Bestsellerlisten steht, sondern, dass man Entdeckungen macht, dass viele immer gesagt haben: Von mir aus hätte ich dieses Buch nicht gelesen, aber ich bin froh, dass wir es uns im Lesekreis aufs Programm gesetzt haben, denn da habe ich für mich, wie gesagt eine Entdeckung gemacht. Und für mich persönlich war das Tolle daran, dass ich nach jeder Sitzung des Lesekreises das Gefühl hatte, dass ich das Buch nicht nur mit meinen eigenen Augen gelesen habe, sondern mit den Augen all derer, die wir da uns zusammengetroffen haben, weil wir alle so unterschiedliche Wahrnehmungen an dem Buch gemacht haben, weil alle unterschiedliche Lieblingsstellen hatten, weil wir sehr heftig und interessant diskutiert haben, und das war für mich immer eine ganz große Bereicherung.
Bürger: Wo gibt es mittlerweile überall Lesekreise? Ja nicht nur an Universitäten und Literaturhäusern, anscheinend ja vielfach auch im Privaten.
Böhm: Ja, das macht es eben schwer zu sagen: Wo gibt es überall Lesekreise? Weil Sie brauchen ja einfach nur zwei, drei Freundinnen, Freunde oder zwei, drei Arbeitskollegen, und schon können Sie einen Lesekreis gründen. Und Sie brauchen es ja nicht der Welt mitteilen: Ich habe jetzt einen Lesekreis! Sondern das ist ihr privates kleines Glück, dass Sie sich regelmäßig mit den Freunden treffen.
Bürger: Im angelsächsischen Raum sind solche Lesekreise wesentlich verbreiteter als bei uns. Wie kommt das?
Böhm: Zum einen durch die Tradition. Es hat im 19. Jahrhundert in Amerika schon Lesekreise gegeben. Das, was bei uns Volkshochschule gewesen ist, war in Amerika im Grunde genommen eine Bibliothek, und da hat man den Wert, dass sich Menschen gemeinschaftlich einen Stoff, ein Thema erschließen durch die Diskussion, schon früh erkannt. Und es gibt schon aus dem 19. Jahrhundert Empfehlungslisten von Bibliotheken für Bücher, die es besonders wert sind, sich damit auseinanderzusetzen. Dann gibt es später weitere Schritte, Oprah Winfrey hat in ihrer Literatursendung, aufbauend auf dieser Tradition, einen Buchclub gemacht, und der hat dem Lesekreis dann quasi im 20., 21. Jahrhundert, dem hat er noch mal so einen richtigen Schub gegeben. Aber, was auch interessant ist, Lesekreise werden oft auch in der Arbeitswelt benutzt. Zum Beispiel gibt es in Firmen Lesekreise, da gibt es Menschen, die treffen sich, um die neueste Fachliteratur zu lesen! Und dann …
Bürger: … eine Form gemeinsamer Fortbildung, nicht?
Böhm: Genau! Es ist eine Form gemeinsamer Fortbildung! Und weil das eben auch die innerbetriebliche Kommunikation so stärkt, haben große Wirtschaftsunternehmen wie zum Beispiel die Kaufhauskette Marks & Spencers, die bieten ihren Mitarbeitern in der Mittagspause Lesekreise an. Da nehmen dann alle von der Direktorin bis zum Kassierer teil an diesem Lesekreis, und tauschen sich über Bücher aus, und so lernt man sich eben auch anders kennen. Und so wird eine innerbetriebliche Kommunikation auf eine ganz andere Weise neugestaltet.
Bürger: In Cambridge gibt es einen Lesekreis, der nennt sich "Daughters of Abraham", also "Abrahams Töchter", der rasant Ableger gebildet hat. Mit was für einer Idee, für einem Konzept?
Böhm: Da muss man kurz sagen, das ist Cambridge in Massachusetts, also in Amerika. Da habe ich auch mal diesen wunderbaren Zungenbrecher sagen können! Das ist ein im besten Sinne multikultureller Kreis, da haben sich Frauen mit ganz unterschiedlichem religiösen Hintergrund verabredet, um die Grundtexte ihrer jeweiligen Religion zu lesen und sich darüber auszutauschen – eine wunderbare Idee; mit Muslims, mit Buddhisten und so weiter, und so weiter, den Koran, die Bibel und so weiter zu lesen. Das muss man sich mal vorstellen! Ich wüsste nichts dergleichen, was in Deutschland mal stattgefunden hat, und man kann sich natürlich vorstellen, dass in einer Gemeinde in einem Stadtviertel, wo so ein Austausch stattfindet, ein ganz anderes soziales Klima entsteht!
Bürger: Das Phänomen der Lesekreise ist unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Thomas Böhm, der bei der Frankfurter Buchmesse den Bereich Literatur leitet und im kommenden Jahr die Programmleitung des internationalen Literaturfestivals in Berlin übernimmt. Im Internet, Herr Böhm, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Seiten, die Lesekreiszusatzmaterialien zu den jeweiligen Büchern anbieten – also auch Fragelisten, mit denen man dann die Diskussion über ein Buch führen kann. Auf was für einem Niveau sind diese Angebote?
Böhm: Leider gibt es die vor allen Dingen in Amerika. Die amerikanischen Verlage haben längst begriffen, dass es eine besondere Form auch von Leserbindung ist, wenn man zu einem Buch das zur Verfügung stellt, und das ist von erstaunlicher Qualität! Die Fragen, die da gestellt werden, das sind nicht nur Fragen wie "Wie finden Sie diese Figur?", oder "Wie finden Sie den Titel?" oder so was, sondern das geht wirklich in die Strukturen der Texte rein, sehr erhellend gemacht, oft wünschte man sich, dass Literaturkritiker so avancierte Fragen an einen Text stellen wie die, die in Lesekreisen diskutiert werden. Wie gesagt, das ist vor allen Dingen in Amerika und in England, da findet man diese Seiten. In Deutschland gibt es noch keinen Verlag, der ein so aufgefächertes Angebot für Lesekreise macht.
Bürger: Am vergangenen Sonnabend haben wir hier in Deutschlandradio Kultur mit unseren Hörerinnen und Hörern über Ihre jeweiligen Leseempfehlungen zur Urlaubszeit diskutiert, und auch da hat sich gezeigt, wie leidenschaftlich viele Leute für ein Buch werben, wie sie dieses Erlebnis teilen wollen. In England haben Medien wie der "Guardian" das bereits auch für sich genutzt und eigene Lesekreise initiiert, sowohl für fiktionale als auch für wissenschaftliche Literatur. Gibt es in den deutschen Medien ähnliche Projekte schon?
Böhm: Nicht, dass ich wüsste, nicht, dass ich wüsste. Es wäre ja wunderbar, wenn zum Beispiel das Deutschlandradio Kultur so einen Lesekreis bilden würde. Die Mittel haben Sie allemal! Sie könnten das auf Ihrer Homepage abbilden, sie könnten, was weiß ich – einmal im Monat machen Sie einen Lesekreis mit einem Buch, das sie vorher ausgewählt haben, vielleicht auch mit den Hörern zusammen ausgewählt haben. Es gibt so was noch nicht, es ist ein großes Desiderat, den es ist so, wie Sie gesagt haben: Indem man Menschen bei ihrer Leidenschaft abholt und sagt, erzähl mir doch mal was über dein Buch, über die Leidenschaft deines Buches, macht man die gleichzeitig zu Literaturvermittlern. Und davon können wir nicht genug haben!
Bürger: Nun gibt es ja die Gefahr, dass sich in so einer Runde einzelne Leute besonders profilieren. Es gibt ja keine professionellen Moderatoren, die die Gespräche lenken. Wie wichtig ist das aber, dass diese Gespräche gut strukturiert werden, dass auch jeder zu Wort kommt?
Böhm: Das Eine ist, wenn sich die – und das habe ich versucht, in meinem Buch darzustellen – wenn man sich beim Lesen eines Buches so ein paar Notizen macht, dann hat man schon eine Handvoll Beiträge für den Lesekreis. Und dann muss man einfach – und das ist die Herausforderung und auch das Spannende bei einem Lesekreis – dann muss man einfach in diesem Lesekreis die eigenen Gesetze finden, die eigenen Regeln finden, dass man sagt, okay, wenn ich jetzt beobachte, eine bestimmte Person ergreift immer das Wort, redet zu lange, und so weiter, dann muss man sich damit auseinandersetzen! Das ist eine Gesellschaft im Kleinen, die für alle Probleme ihre Lösung finden muss!
Bürger: Sie geben in Ihrem Lesekreisbuch ja viele konkrete Anleitungen, wie man so was auf die Beine stellt, angefangen von der Buchauswahl über den Verlauf der anschließenden Gespräche, die Gestaltung des Abends. Wie wichtig ist das, sich jetzt auf Wein oder Wasser zu einigen, auf ein Handyverbot oder darauf, dass man Kinder oder Hunde mitbringen darf oder eben gerade nicht?
Böhm: Jeder Lesekreis macht die Regeln seines Zusammenkommens selbst. Und ich habe einfach nur in meinem Buch darstellen wollen: Das sind die ganz, ganz vielen Details, die man gestalten kann, und wollte damit eigentlich auch die Gestaltungslust ansprechen. Und natürlich, wenn ein Lesekreis – Sie haben es gerade gesagt: Das sind Hundebesitzer, die bringen alle ihren Hund mit! In anderen Lesekreisen werden sich die Menschen vielleicht gestört fühlen, dass einer da ist. Also, jeder Lesekreis macht es so, wie er Lust und Laune hat und wie es am Besten passt!
Bürger: Gibt es einen, von dem Sie noch träumen?
Böhm: [lacht] Oh ja, ich träume davon, bald wieder einen Lesekreis zu haben, denn durch einen Umzug, den ich jetzt gemacht habe von Köln nach Berlin, habe ich meinen alten Lesekreis – für den ich übrigens dieses Buch geschrieben habe – habe ich verloren, und bin noch auf der Suche nach einem Lesekreis.
Bürger: Dann sind wir gespannt, was Sie hier auf die Beine stellen, Herr Böhm. Das Phänomen der Lesekreise hat uns Thomas Böhm näher gebracht. Und wenn Sie selbst in dieser Richtung aktiv werden wollen, können Sie in seinem Buch viele konkrete Tipps finden. Das "Lesekreisbuch" ist erschienen im Berliner Taschenbuch Verlag. Herr Böhm, danke fürs Gespräch!
Böhm: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Thomas Böhm ist Programmleiter Literatur der Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr vom 12. bis 16. Oktober stattfindet. Ehrengast wird diesmal Island sein. Deutschlandradio Kultur wird im Rahmen der Sendereihe "Das blaue Sofa" wie in jedem Jahr ausführlich von der Messe berichten.
Frankfurter Buchmesse
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