Der "Wutwinter" ist ausgefallen

Das große Verunsicherungspingpong

Berlin-Neukölln, auf einer verputzten, gelben Wand eines Hauses steht in roter Farbe: "PREISE RUNTER ODER ES KNALLT!"
Graffiti auf einer Hauswand © picture alliance / Sulupress / Marc Vorwerk
Ein Kommentar von Bernhard Pörksen |
Der von Rechtsradikalen herbeigesehnte und von der Politik gefürchtete „Wutwinter“ fand nicht statt. Ein Anlass, um die Solidarität, die Stärke und die Krisenresilienz von Menschen zu feiern, findet Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.
Die deutsche Politik und Öffentlichkeit haben in den letzten Monaten im Bann eines Katastrophenmythos existiert, den populistische Zündler zu schüren vermochten, kurioserweise in einer ungewollten, seltsam hysterisch wirkenden Kooperation mit klassischen Medien, Verfassungsschützern, Politikerinnen und Politikern.
Mal ganz konkret: Im Juli 2022 warnt Annalena Baerbock vor „Volksaufständen“, falls das Gas dramatisch knapp werde. Innenministerin Nancy Faeser sieht die Gefahr von Massenprotesten. Auch Verfassungsschützer und politische Kommentatoren schalten sich in ähnlich düsterer Tonlage zu.
Die zunächst diffusen Warnungen werden dann von Rechtsradikalen registriert und im eigenen Milieu euphorisch verstärkt, wie Social-Media-Analysen der Forschungsstelle „Gegen Hass im Netz“ im Detail zeigen.

Umsturzfantasien und apokalyptische Narrative

Das heißt: Es entsteht im Zusammenspiel der verschiedenen Stimmen und Öffentlichkeiten eine Art Verunsicherungspingpong. Die AfD installiert eine eigene Website mit einem Blackout-Melder, um die angeblichen überall drohenden Stromausfälle zu dokumentieren. Einschlägige Anbieter bewerben hektisch Prepper-Produkte – Handbücher für den Ernstfall, Stromgeneratoren, Dosen mit Hühnereipulver („Emergency Food“).
Rechtsradikale Strategen in Deutschland und Österreich räsonieren darüber, wie sich die Risse und Gräben in der Gesellschaft noch weiter vertiefen ließen. Manche träumen von einer Art Gelbwesten-Bewegung, andere von Protesten nach dem Vorbild kanadischer Trucker. In den Katakomben von Telegram-Kanälen ist parallel von Chaos, von Bürgerkrieg und Zerfall zu lesen. Der Umsturz kommt bald, ganz bald; da ist man sich sicher.
Stand heute ist jedoch Fakt: Die Massenproteste fielen aus. Den "Wutwinter" hat es nicht gegeben, dies gleich aus mehreren Gründen. Zum Beispiel halfen die milliardenschweren Entlastungspakete der Politik, auch war der Winter milder als gedacht.
Und schließlich zeigte sich die deutsche Bevölkerung seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Mehrheit solidarisch mit den Menschen in der Ukraine, trotz der explodierenden Gaspreise, der massiven Inflation und der im Alltag erlebbaren Härten. Genau besehen sind das ziemlich gute Nachrichten, oder?

Die enorme Macht der Angst

Man könnte es dabei bewenden lassen und sich im Stillen freuen, dass die Strategien rechtsradikaler Verelendungstheoretiker keinen Erfolg hatten. Aber die öffentliche Dominanz des "Wutwinter"-Geredes offenbart die enorme Macht der Angst unter den aktuellen Medien- und Kommunikationsbedingungen.
Das Fatale ist: Eigentlich sind in diesem hoch nervösen, beständig pulsierenden Wirkungsnetz irgendwann alle ein Teil des Spiels - die rechtsradikalen Strategen, die profitgierigen Angstunternehmer und die Fantasten mit ihrem Umsturzgerede, aber eben auch die etablierten Medien und die Politikerinnen und Politiker der Mitte, die maximal düstere Prognosen verbreiten und mitunter einfach sinnlos mitdröhnen.

Bekämpfung von Erregungsepidemien

Was also tun? Es gibt keine leichte, keine einfache Lösung, dies ist gewiss. Vielleicht sollte man die Ignoranz von Idiotien zur neuen Kommunikationstugend ausrufen. Vielleicht sollten Politik und Medien auch gut gemeinte Warnungen disziplinierter formulieren oder sie doch zumindest mit einer Art Beipackzettel zum Informationsgebrauch versehen, frei nach dem Motto: „Niemand weiß bislang, ob es irgendwann wirklich zu Volksaufständen kommt. Wir vermuten jetzt einfach mal so herum.“
Und nur mal nebenbei: Unter dem Hashtag #Wutwinter sammelt sich inzwischen jede Menge Spott auf Twitter. Auch hier zeigt sich eine Strategie, man lacht das Untergangsgeschwätz von populistischen Zündlern einfach weg.
In jedem Fall ist es an der Zeit, in der Breite der Gesellschaft Techniken der Abkühlung zu trainieren und die Bekämpfung von Erregungsepidemien einzuüben. Und vielleicht gilt es mitunter, die Solidarität, die Stärke und die Krisenresilienz von Menschen und ganzen Gesellschaften auch einfach mal zu feiern. Das wäre doch eine schöne Möglichkeit, oder?

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Letzte Buchveröffentlichung: „Die Kunst des Miteinander-Redens“ (gemeinsam mit dem Hamburger Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun).

Portrait eines Mannes vor einer grauen Betonwand.
© © Albrecht Fuchs
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