Das "Grüne Band"

Einst Todesstreifen, heute Biotop

Luftaufnahme des Grünen Bandes bei Tettenborn, Niedersachsen.
Luftaufnahme des Grünen Bandes bei Tettenborn, Niedersachsen. © Klaus Leidorf
Von Lutz Reidt |
Wo Minenfelder einst die Menschen trennten, hat sich die längste Biotop-Kette Europas entwickelt. Das "Grüne Band" schlängelt sich auf rund 1.400 Kilometern durchs Land und ist Lebensraum von Ottern, Braunkehlchen und Wildkatzen.
Nahezu verwischt sind die Spuren innerdeutscher Grenz-Geometrie im Grabfeld zwischen Irmelshausen und Römhild. Hier, an der Nahtstelle zwischen Franken und Thüringen, hatte früher der Todesstreifen die Talaue der Milz zerschnitten.
Gesäumt von Erlen und Weiden folgt der kleine Fluss seinem Lauf von Thüringen nach Westen, der Grenzverlauf lässt sich heute nur noch erahnen: Längst ist der Metallgitterzaun verschwunden. Einzig die beiden Wachtürme erinnern den Geoökologen Kai Frobel an die finsteren Zeiten deutsch-deutscher Geschichte:
"Einer davon ist nun hergerichtet als Vogelnistplatz mit Nistkästen, auch für Fledermäuse zum Beispiel; und im Hintergrund gleich die zwei Basaltkuppen, also ehemalige Vulkane: der Große und der Kleine Gleichberg."
Fledermäuse statt Grenzsoldaten. Im Schatten längst erloschener Vulkane macht die Natur vor den Rudimenten des Eisernen Vorhanges keinen Halt. Kai Frobel vom Bund für Umwelt und Naturschutz – BUND – ist Initiator und wissenschaftlicher Berater des Projektes "Grünes Band". Als Geökologie-Student an der Universität Bayreuth hatte er bereits vor der Wende die Artenfülle entlang des damaligen Grenzstreifens auf fränkischer Seite untersucht. Nicht zu überhören: Vor allem die Vielfalt der Singvögel – damals wie heute:
"Im Hintergrund hört man jetzt gerade noch die Goldammer; früher ein Allerweltsvogel, aber heute auch nicht mehr so häufig, im Grünen Band eine ganz dominierende Vogelart, charakteristisch, man kann auch den Feldschwirl zum Beispiel hören. Das ist so eine Art, die auch so versumpfte, verschilfte Bereiche gerne nutzt, und hier kommen auch Blaukehlchen vor, aber auch die Schwesterart Schwarzkehlchen, und allein diese drei Kehlchenarten: Braunkehlchen, Blaukehlchen, Schwarzkehlchen, das ist sicher ein besonderes Highlight in dieser Ausprägung des Grünen Bandes hier im Grabfeld."


Als "Mann der ersten Stunde" drängte Kai Frobel nach der Grenzöffnung auf den Schutz dieser Grenzlinie. Jene Artenfülle, die er auf bayerischer Seite entdecken konnte, müsste ja auch anderswo zu finden sein entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, die immerhin fast 1.400 Kilometer lang war. Die Forschung der Folgejahre machte deutlich, welche Artenschätze dort überdauern konnten. Die Biologin Liana Geidezis – Projektleiterin "Grünes Band" beim BUND.
Bedrohte Vogelarten wie das Braunkehlchen oder der Schwarzstorch leben entlang des Grünen Bandes.
Bedrohte Vogelarten wie das Braunkehlchen oder der Schwarzstorch leben entlang des Grünen Bandes. © Ute Machel / BUND
"Da wurde festgestellt, dass zum Beispiel 130 Vogelarten allein in diesem Grenzbereich vorkommen, von denen 59 von der Roten Liste sind; genauso die Libellenarten: 40 Libellenarten wurden im Grenzstreifen kartiert, 26 der Roten Liste; und bei Pflanzen genau das Gleiche: Da wurden über 600 verschiedene Pflanzenarten aufgenommen, und da waren über 120 auf der Roten Liste, Beispiele jetzt bei den Vögeln: Braunkehlchen oder auch so seltene Vögel wie der Schwarzstorch, der eben sehr viel Ruhe braucht, wurde gefunden, Ziegenmelker, Neuntöter, Raubwürger, alles solche Arten, die in der intensiven Agrarlandschaft nicht mehr bestehen konnten, haben sich in den Grenzstreifen zurück gezogen."

Vom "Eisernen Vorhang" ist kaum noch etwas übrig

Fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist vom "Eisernen Vorhang", der jahrzehntelang Deutschland in Ost und West trennte, kaum etwas übrig geblieben. Wo einstmals Stacheldraht, Selbstschussanlagen, Wachtürme und Minenfelder die Menschen voneinander trennten, hat sich in den Jahrzehnten deutscher Teilung etwas anderes fortentwickelt. Und zwar die längste Biotop-Kette Europas: das "Grüne Band".
Das "Grüne Band" ist 50 bis 200 Meter breit und 1.383 Kilometer lang. Es schlängelt sich mitten durch Deutschland. Eine Perlenkette wertvoller Lebensräume hat hier überdauern können, mit prächtigen Altgrasfluren, verwunschenen Waldparadiesen und blühenden Heiden, mit abgeschiedenen Feuchtgebieten und vergessenen Bachläufen. Seltene Tiere und Pflanzen haben hier eine Heimat gefunden, Braunkehlchen und Schwarzstorch, Fischotter, Eisvogel – und sogar Wildkatzen.
Scheue Tiere beim Wandern zu beobachten, das ist schwierig und zeitaufwändig. Indirekte Hinweise liefern meist schneller Ergebnisse. So etwa an einem Waldrand bei Maroldsweisach an der Grenze zwischen Thüringen und Bayern. Freiwillige vom Bund für Umwelt und Naturschutz schlagen Holzstöcke in die Erde. Kai Frobel:
"Das sind kleine Holzpfähle, die im Wald angebracht werden; die werden mit Baldrian besprüht, das ist eine Substanz, die die Wildkatzen ganz besonders mögen; die reiben sich dann an diesen rauen Holzstöcken und hinterlassen einzelne Haare. Die werden dann genetisch analysiert; wir haben derzeit 4.000 Proben bundesweit gesammelt; und konnten über 400 einzelne Wildkatzenindividuen auch nachweisen; und das findet auch im Umfeld des Grünen Bandes statt."


Die extrem scheue Wildkatze ist in Deutschland stark bedroht. Ihre letzten Lebensräume – große und sehr ruhige Waldgebiete – liegen in Deutschland weit verstreut wie Inseln im Meer. Diese Refugien miteinander zu verbinden, ist das Ziel des BUND. Das Grüne Band liefert dafür gewissermaßen eine Blaupause, weil die Biotopkette große Waldgebiete miteinander verbindet oder zumindest streift:
Die Wildkatze konnte im Harz überleben und breitet sich weiter aus.
Die Wildkatze konnte im Harz überleben und breitet sich weiter aus.© picture alliance/dpa/Foto: BUND
Im Harz konnten Wildkatzen überleben, auch in den nordhessischen Wäldern mit dem angrenzenden Weserbergland. Und vor allem in den weitläufigen Buchenwäldern des Nationalparks Hainich, im Westen von Thüringen, unweit des Grünen Bandes. Von dort breiten sich die Wildkatzen nach Süden aus – das belegen die mit Baldrian getränkten Lockstöcke in Wald, Feld und Flur:
Frobel: "Wir wissen jetzt auch aus diesen genetischen Analysen, dass Wildkatzen aus dem nördlichen Thüringer Bereich, aus diesen Waldgebieten über das Grüne Band hinunter gewandert sind in die Rhön und auch nach Süd-Thüringen, wo jetzt Wildkatzen vorkommen, die eben auch aus diesen thüringischen Populationen stammen; und die Wildkatze braucht so Korridore – Wald oder halboffener Charakter wie das Grüne Band – das nutzt sie auch gerne, hält sich auch gerne auf; und das verbindet ja letztendlich die nordthüringischen Waldgebiete mit der Rhön und mit Süd-Thüringen; und auch jetzt aktuell im Frankenwald: eine Vielzahl von neuen Nachweisen auf der bayerischen Seite, und auch da liegt es nahe, dass das Grüne Band – vom Osten her kommend, von der Rhön her – eine Verbindungsfunktion hat."

Die Biotopkette verbindet viele Schutzgebiete

Entlang des Grünen Bandes von einem Lebensraum zum nächsten, von einer Population zur anderen: Die Biotopkette verbindet viele Schutzgebiete, die zu beiden Seiten der ehemaligen innerdeutschen Grenze entstanden sind. Wo Tiere aus verschiedenen Herkünften aufeinander treffen, ist Gen-Austausch möglich. Und das bewahrt vor Inzucht und damit verbundenen Krankheiten. Wanderkorridore sind also notwendig zum Überleben, und dies nicht nur für Wildkatzen und Luchse.
Inzwischen untersuchen Biologen bei Spinnen, Laufkäfern, Heuschrecken und anderen Kleintieren, inwieweit das verbindende Moment des Grünen Bandes der Artenvielfalt besonders nutzt. Liana Geidezis bricht zum Beispiel eine Lanze für die behäbige Wanstschrecke, die – wie könnte es auch anders sein – genau so aussieht wie sie heißt:
"Sie hat einen dicken Wanst und ist flugunfähig und sehr träge in ihrem Verhalten, die braucht daher so Strukturen wie das Grüne Band, um dort zu überleben; und da ist auch der BUND Thüringen sehr aktiv, um eben Flächen anzukaufen und dementsprechend Ackerflächen umzuwandeln in Wiesenflächen, damit die Wanstschrecke da auch überleben kann. Also, was der Wildkatze hilft, hilft somit auch der Wanstschrecke, auch so nette Arten wie der schöne, grasgrüne Laubfrosch profitiert davon. Der kommt nicht nur im Gewässer vor, sondern nutzt eben auch Gebüschstrukturen. Es kann ja super gut klettern, weil er ganz spezielle Haftscheiben an den Füßchen hat, das ist der einzige Frosch, der das so gut kann, und nutzt dann den Biotopverbund als Lebensraum."

Gleiches gilt für die Flora. In einer von Dünger und Pestiziden beeinträchtigen Agrarlandschaft haben es viele seltene Pflanzen schwer zu überleben. Heute findet sich die bunte Blütenpracht vieler Orchideen und weiterer seltener Blühpflanzen besonders im ehemaligen Grenzstreifen wieder. Doch ganz ohne den Eingriff des Menschen wäre auch dies nicht von Dauer. Es braucht Pflege – und dabei helfen Vierbeiner, die das Grüne Band prägen:
Glockenklar ist die Luft an diesem Sommermorgen, das steinerne Monument der Wartburg wirkt zum Greifen nah, während ein Schäfer seine Herde nordwestlich von Eisenach durch die Ausläufer des Werraberglandes treibt. Immer entlang der ehemaligen Grenze Richtung Norden. Links und rechts des etwa 70 Meter breiten Streifens wachsen Kiefern und allerlei Sträucher auf. Deutschland ist Waldland, kaum ein Fleck wäre frei von Waldbäumen – gäbe es den Menschen nicht, der dies verhindert – hier mit Hilfe von Schafen. Und auch einigen Ziegen:
"Die fressen die Hecken ab, damit die Hecken nicht so hoch wachsen auf der Weide. Am besten gehen sie dran, wenn´s regnet. Dann gehen sie an die Hecken dran. Ziegen sind eben Naschtiere. Die naschen – was ein Schaf nicht macht."

Schafe und Ziegen dienen dem Naturschutz

Ziegen fressen das, was Schafe verschmähen. Disteln zum Beispiel, oder Heckensträucher wie Brombeere oder Weißdorn. In vielen Bereichen entlang des fast 1.400 Kilometer langen "Grünen Bandes" dienen Schafe und Ziegen dem Naturschutz. Dort, wo sie weiden, können keine Bäume und Sträucher aufwachsen – und das ist gewollt, sagt die Geographin Karin Kowol vom BUND-Landesverband Thüringen:
"Der Vorteil an der Beweidung ist – gerade wenn man eine kombinierte Herde hat aus Schafen und Ziegen – dass sie das eben der Reihe nach schön abfressen; dass die Ziegen auch die aufkommenden Büsche verbeißen und dass sich in Folge der Schafbeweidung die verschiedensten Blütenpflanzen einstellen und eben mit ihnen auch die dazugehörigen Insekten."

Die Glockenblume auf einer Wiese in Thüringen.
Die Glockenblume auf einer Wiese in Thüringen. © picture alliance/dpa/Foto: Klaus Nowottnick
Die Geographin Karin Kowol ist unterwegs im Naturschutzgebiet Kielforst nordwestlich von Eisenach. Sie dokumentiert, wie sich die Flora dank der wiederholten Beweidung auf einem "Kalkmagerrasen" entwickeln kann. Sie bewundert das Blau von Glockenblume und Wegwarte, das Gelb von Johanniskraut und Odermännich sowie das Weiß von Wilder Möhre und Augentrost. All diese Blütenpflanzen des Magerrasens sind "Hungerkünstler". Sie können sich im Grenzstreifen nur deshalb halten, weil die Böden während all der Jahrzehnte auch wirklich mager blieben und niemand Dünger ausgebracht hatte. Dabei sind solche Magerrasen nicht immer von Natur aus arm an Nährstoffen:
"Die Magerrasen, von denen wir beispielsweise vor 150 Jahren noch sehr viel mehr hatten, sind eigentlich eine Form der genutzten Kulturlandschaft gewesen. Die sind dadurch entstanden, dass durch regelmäßige Mahd oder eben auch vor allem Beweidung speziell mit Schafen ein permanenter Nährstoffentzug stattgefunden hat, deswegen sind sie auch ´mager`, weil sie nicht so viele Nährstoffe enthalten wie jetzt die gedüngten Fettwiesen zum Beispiel, und die sind eben auch einfach offen gehalten worden, und das heißt: Dadurch wurde die Sukzession eingeschränkt."

Das Grüne Band als "Autobahn"

Ließe man dieser Sukzession freien Lauf, würden sich unweigerlich nach und nach Büsche und Bäume im Grünen Band ansiedeln, und die Biotopkette wäre als solche irgendwann nicht mehr zu erkennen. Die Schäfer verhindern dies mit ihren Herden – zumindest dort, wo es gewünscht ist. So wie hier im Naturschutzgebiet Kielforst mit seinem wertvollen Magerrasen. Und da es davon auch östlich und westlich des Grünen Bandes schützenswerte Vorkommen gibt, nutzen die Schäfer mit ihren Herden das Grüne Band gewissermaßen als Autobahn:
"Wo man großflächige Bereiche hat, die mit Schafen beweidet werden können, da lohnt es sich dann für den einzelnen Schäfer, sich vielleicht auch eine große Herde zu halten, mit Ziegen und Schafen, die die Sukzession aufhalten; und das Grüne Band hat in dem Zusammenhang auch eine ganz besondere Bedeutung: Wir haben auch im Bereich des Werraberglandes einige Naturschutzgebiete, wo wertvolle Magerrasen vorkommen; aber die Schäfer, die dort wirtschaften, haben manchmal das Problem: Wie bringen sie denn die Schafe von einem Ort zum anderen? Und dort ist es wunderbar: Die Schäfer können die Schafe entlang des Grünen Bandes von Naturschutzgebiet zu Naturschutzgebiet treiben, das Grüne Band wird gepflegt, die Naturschutzgebiete auch und der Schäfer kann davon leben."


Und Insekten ebenfalls. Im oder auf dem Wollkleid der Schafe sind häufig "blinde Passagiere" unterwegs. Heuschrecken zum Beispiel, wie das bis zu vier Zentimeter große "Grüne Heupferd", das mitunter auf den Schafen hockend zu beobachten ist.
Mario Goldstein und ein Schäfer auf dem Grünen Band
Entlang des Grünen Bandes treiben die Schäfer ihre Herden von Schutzgebiet zu Schutzgebiet.© Karin Kowol / BUND
Huckepack können Insekten zig Kilometer überwinden, während ihr natürlicher Ausbreitungsradius in der Regel auf wenige hundert Meter beschränkt ist. Das Grüne Band verbindet also auch für kleinere Tiere die Biotope über große Entfernungen miteinander:
"Biotopverbund ist auch für jede Art ein bisschen anders. Es gibt Arten, die können große Entfernungen überbrücken, es gibt aber Arten – und dazu gehören auch gerade viele Insekten – für die ist schon die asphaltierte Straße eine Bremse. Und wenn man da sagen kann: Man hat tatsächlich ein Band, das über 1.400 Kilometer bzw. über 12.000 Kilometer, wenn man das gesamte Europäische Grüne Band nimmt, verläuft und eine verbindende Struktur darstellt, dann hat man wirklich etwas für den Austausch der Arten getan."
Karin Kowol blickt noch einmal über den bunt blühenden Reigen auf dem Magerrasen des Grünen Bandes. Ein ausgeprägter Küchenduft mit mediterraner Note wabert aus der Pflanzendecke empor:
"Wir haben hier einen würzigen Duft und der ist ganz klar auf unsere bekannten Küchenkräuter zurückzuführen, und das ist der Oregano und das ist der Thymian."


Dieter Leupold ist auf Spurensuche. Spuren vom Fischotter. Strahlender Sonnenschein begleitet den Biologen vom Bund für Umwelt und Naturschutz bei seinem Gang durch den Stadtwald von Salzwedel, einer Kreisstadt in der Altmark, im Norden von Sachsen-Anhalt, an der Grenze zu Niedersachsen. Ein Gewittersturm hat eine Zitterpappel zerfetzt, hellgraue Äste und Zweige liegen kreuz und quer auf dem Weg verstreut. Mühevoll bahnen wir uns einen Weg hindurch:
Ein Otter, der im ehemaligen Grenzgebiet von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen sein Revier hat.
Ein Otter, der im ehemaligen Grenzgebiet von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen sein Revier hat.© Ute Machel / BUND
"Wir befinden uns hier direkt am Grünen Band der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Hier, direkt vor uns der ehemalige Kfz-Sperrgraben, der ja künstlich angelegt wurde, um Grenzdurchbrüche mit Fahrzeugen zu verhindern, zwar künstliches Gewässer, aber doch mit einer reichen Vegetation, sowohl im Graben als auch in den Randbereichen. Das ist gerade auch für Arten wie den Fischotter ganz wichtig, die eben Deckung brauchen."

Hier flitzt der Fischotter entlang

Sattgrüne Polster mit Brunnenkresse liegen wie ein dicker Teppich auf dem Wasser und leuchten im hellen Sonnenlicht. Dichtes Schilf zu beiden Seiten säumt den Graben. Dieter Leupold deutet auf eine knapp zwei Meter lange Spur, die vom steilen Ufer des Grabens runter zum Wasser führt. Hier also geht der Fischotter hoch. Raus aus dem Sperrgraben, ab durch die Botanik und auf zum nächsten Feuchtbiotop:
"Da haben wir schon seit vielen Jahren – gerade entlang des Kfz-Sperrgrabens – eine Vielzahl von Nachweisen. Und wir haben ja hier die Situation, dass großflächig noch sehr intakte Feuchtgebiete sich wie Perlen auf einer Kette auffädeln, aneinander gereiht sind, hier der Stadtforst ist einer dieser Perlen, hier lebt der Fischerotter sicherlich lange, reproduziert auch, hier gibt es genug Gewässer, hier hat er genug Nahrung, sowohl Fische als auch Frösche aus diesen feuchten Wäldern, aber er braucht natürlich auch Elemente, um von einem Gebiet zum nächsten zu kommen, und da ist eben gerade der Kfz-Sperrgraben eine ganz, ganz wichtige Struktur – das ist wie eine Autobahn für den Fischotter."
Und Gewässer gibt es genug ringsum, nicht nur im Stadtforst Salzwedel. Wir stehen noch in der Altmark, also in Sachsen-Anhalt. Keine 50 Meter vom Ottergraben entfernt beginnt das Wendland, und somit Niedersachsen. Irgendwo dort drüben fließt die "Dumme" – ein kleiner Grenzfluss, der früher Ost von West trennte. Und den die Fischotter längst für sich entdeckt haben. Dichtes, mannshohes Land-Reitgras versperrt den Weg dorthin. Ein schmaler Pfad führt hindurch – schnurgerade. Hier also flitzt der Fischotter entlang, rüber ins Wendland.


"Fischotterschutz hat eben auch viel damit zu tun, naturnahe, intakte Gewässer – sowohl Fließgewässer als auch Standgewässer – zu schaffen. Hier im Fließgewässerbereich sind es vor allem Artengruppen wie Libellen, die davon profitieren werden, aber auch Weichtiere, Muscheln. Wir haben hier im Gebiet eines der wenigen Vorkommen der Kleinen Bachmuschel, und da hoffen wir halt auch, dass diese Arten von den Maßnahmen dann auch entsprechend profitieren werden."
Im ehemaligen Grenzgebiet von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen hat der Otter durch die Feuchtgebiete genug Nahrung.
Im ehemaligen Grenzgebiet von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen hat der Otter durch die Feuchtgebiete genug Nahrung. © Uwe Riecken / Bundesamt für Naturschutz
Nur der Fischotter selbst hat sich heute noch nicht blicken lassen. Kein Wunder, meint Dieter Leupold. Der Biologe hat den scheuen Wassermarder selbst nur sehr selten beobachten können. Ob der Bestand seit der Wende gewachsen ist, lässt sich nicht mit handfesten Zahlen belegen:
"Es ist schwer, verlässliche Aussagen zur Populationsdichte beim Fischotter zu treffen, einfach aufgrund seiner heimlichen Lebensweise; man weist ihn ja mehr oder weniger indirekt über diese Reviermarkierungen nach."
Und diese dunklen Ausscheidungen sind regelmäßig zu finden. Meist sind sie aber bereits älter, sie sehen dann aus wie kleine schwarze, vertrocknete Blätter, mit Resten von Muscheln drin und kleinen Knochen. Wenn der Kot jedoch frisch ist, riecht er gar nicht mal unangenehm, ein bisschen wie Moschus. Und dann könnte auch die Wissenschaft etwas damit anfangen:
"Dadurch, dass wir hier großflächig sehr vieler dieser Markierungen hier haben, schon über viele Jahre, wissen wir einfach, dass er da ist; wenn man es genau machen würde, dann müsste man versuchen, an ganz frische Kotproben heran zu kommen, um dort über den genetischen Fingerabdruck die Zahl der Individuen zu bestimmen; aber das ist sehr, sehr aufwändig, weil man ganz frische Kotproben braucht; und auch nicht ganz billig. Wir müssen uns also im Moment mit der Situation zufrieden geben, dass er hier stabil vorkommt und doch ein sehr großes Revier besiedelt."

Viele Schutzgebiete entlang der Elbe

Der Fischotter ist ein Grenzgänger, ständig auf Wanderschaft, von einem Biotop zum nächsten. Der Sperrgraben und der kleine Grenzfluss Dumme erschließen ihm weitläufige Habitate, die ihrerseits viel größer sind als das schmale Band der ehemaligen Grenze. So etwa das 400 Hektar große Cheiner Torfmoor mit seiner viele Meter mächtigen Torfdecke; der doppelt so große Salzwedeler Stadtforst; und viele weitere Schutzgebiete, die sich Richtung Elbe im Norden anschließen:
"Das ist ein Abschnitt mit 60 Kilometern Länge. Wir haben hier die besondere Situation, dass es sowohl auf der östlichen Seite, also in Sachsen-Anhalt also auch im angrenzenden Niedersachsen, noch großflächig diese Biotope gibt, und wir haben hier eine Gebietskulisse mit einer Fläche, die weit über 8.000 Hektar umfasst."


Dieter Leupold bedauert jedoch, dass das Herzstück dieses Biotopverbundes – der häufig unter Wasser stehende Schwarzerlen-Wald des Salzwedeler Stadtforstes – inzwischen an einen Privatinvestor aus Nordrhein-Westfalen verkauft worden ist. Die finanzschwache Kommune sah sich zu diesem Schritt gezwungen – trotz eines Gegenangebots des BUND. Dennoch sieht Dieter Leupold keinen Grund für Resignation. Auch der neue Eigentümer müsse die Gesetze beachten und sich an Auflagen halten – wie die europaweit geltende Flora-Fauna-Habitatrichtlinie, kurz FFH genannt:
Grenztürme stehen bei Milz (Thüringen) auf dem früheren Todesstreifen, der heutigen Grenze zwischen Thüringen und Bayern.
Grenztürme stehen bei Milz (Thüringen) auf dem früheren Todesstreifen, der heutigen Grenze zwischen Thüringen und Bayern. © picture alliance/dpa/Foto: Martin Schutt
"Es gibt ein Verschlechterungsverbot, weil dieser Stadtwald sowohl nach der FFH-Richtlinie als auch nach der EU-Vogelschutzrichtlinie geschützt ist. Es gibt aber leider keinen Managementplan, der das konkret für das Gebiet festlegt, welche Nutzungen schutzgebietsverträglich sind und welche nicht, so dass das immer Einzelfallentscheidungen sind, und da müssen die zuständigen Naturschutzbehörden sicherlich sehr genau darauf achten, dass dieses Verschlechterungsverbot auch eingehalten wird."

180 Kilometer der Biotopkette sind verschwunden

Es bleibt somit abzuwarten, ob der Verkauf dieses Stadtforstes wirklich ein Rückschlag ist für die Bemühungen um den Erhalt des Grünen Bandes.
Anderswo sind die Verluste jedoch Fakt. Es gibt Lücken. Zwar zeigt die jüngste Bestandsaufnahme, dass 87 Prozent des Grünen Bandes intakt sind. Doch das bedeutet auch: Rund 180 Kilometer der Biotopkette sind verschwunden. Vor allem Landwirte lösten in den ersten Jahren nach der Grenzöffnung ungeklärte Eigentumsfragen auf ihre Weise, bedauert Kai Frobel vom Bund Naturschutz in Nürnberg:
"Das war so eine Phase, die dann der eine oder andere – vor allen Dingen West-Landwirt – dann doch relativ rücksichtslos genutzt hat, und dann haben sich die Pflugscharen eben in das Biotop gesenkt, und Brachebereiche, die 40 Jahre lang eine Atempause hatten, waren dann in wenigen Stunden umgeackert. Wenn man das in Zahlen ausdrückt, sind das fast 2.000 Hektar Biotopfläche, die hier Anfang der 90er-Jahre durch intensive Landwirtschaft kaputt gemacht worden sind, und es wird eine zentrale Aufgabe sein für die nächsten Jahre, diese Lücken im Grünen Band letztendlich wieder zu schließen."

Liana Geidezis, Leiterin des BUND-Projektes Grünes Band Deutschland, mit einer Wanstschrecke, die vom Aussterben bedroht war.
Liana Geidezis, Leiterin des BUND-Projektes Grünes Band Deutschland, mit einer Wanstschrecke, die vom Aussterben bedroht war.© picture alliance/dpa/Foto: Michael Reichel
Was vor allem schwierig werden dürfte bei Flächen mit fruchtbaren Böden, die für die Landwirte natürlich sehr interessant sind. Vor allem in der Magdeburger Börde sind wertvolle Lößböden kurzerhand umgepflügt worden. Unwiderruflich sind auch Verluste, wo das Grüne Band unter Asphalt und Beton verschwunden ist, bedauert Liana Geidezis vom BUND:
"Die A 73 Coburg-Suhl, da ist die Auffahrtsschleife direkt ins Grüne Band gelegt worden. Auch die relativ neue Autobahn A 71 Schweinfurt-Suhl-Erfurt, da ist auf mehreren hundert Metern die Autobahn direkt aufs Grüne Band gelegt worden. Und die A 72 auch noch, Hof-Plauen, alles Autobahnen, die das Grüne Band kreuzen. Und hier wird es sicher schwierig, diese Lücken zu schließen; aber es wäre natürlich da besonders wichtig, Grünbrücken zu installieren. Das ist leider in den Bereichen am Grünen Band bisher noch gar nicht umgesetzt worden."

Durchgehende Wanderkorridore wären ideal

Grünbrücken für Laubfrosch, Wanstschrecke und Wildkatze sind sicher eine Luxus-Lösung. Sehr teuer und aufwändig in Planung und Ausführung. Doch durchgehende Wanderkorridore wären ideal, um zahlreiche Biotope entlang des Grünen Bandes miteinander zu verbinden:
"Wir wollen hier Natur am Stück haben durch Deutschland, auch wenn es nur ein hundert Meter breiter Bereich ist, aber immerhin ist er 1.400 Kilometer lang; und wir wollen eben nicht, dass Naturschutz immer dieses in Deutschland sonst so übliche Flickwerk ist: Da ein kleines Biotop, dann einen Kilometer lang nichts und dann kommt wieder eine Minifläche und dann irgendwo in drei Kilometern wieder was, sondern hier haben wir wirklich noch Naturfläche zusammenhängend, und da ist es wirklich auch sinnvoll, diese Lücken – die sind manchmal sehr kleinflächig, irgendwo nur mal 50 bis 100 Meter – zu schließen; aber auch in anderen Bereichen wie im nördlichen Harzvorland; das sind Ausläufer der Magdeburger Börde, also sehr hochwertige Ackerlagen, und da ist das Grüne Band zum Teil auf einigen Kilometern dem Erdboden gleichgemacht, das ist eine der größten Lücken bundesweit, da sieht man nur noch an einigen Verfärbungen im Acker, dass hier mal eine Biotopstruktur war."
Dort, wo das Grüne Band unwiederbringlich durchtrennt worden ist, plädiert Kai Frobel für By-pass-Lösungen, die quasi über Umwege den Verbund wieder herstellen.


Wie das gelingen könnte, zeigt ein Beispiel in Thüringen, in der Südharzer Karstlandschaft. Dort verschwand das Grüne Band auf 500 Metern Länge unwiederbringlich unter einer Landstraße:
Die ehemalige innerdeutsche Grenze am Rennsteig in Thüringen. Hier der Kolonnenweg mit zugewachsenem Todesstreifen.
Die ehemalige innerdeutsche Grenze am Rennsteig in Thüringen. Hier der Kolonnenweg mit zugewachsenem Todesstreifen.© imago/imagebroker
"Da fließt aber in der Nähe ein kleiner Fluss, die Wieda; und hier ist daran gedacht, vom historischen Verlauf des Grünen Bandes abzugehen und hier diese Lücke durch einen neuen Biotopverbund entlang dieses Fließgewässers zu legen, so dass die Verbindungsfunktion erhalten wird."
Diese "Bypass-Lösungen" sind ideal, um jene Lücken zu schließen, die Landwirte und Straßenbauer ins Grüne Band gerissen haben. Besonders Fließgewässer als blaue Lebensadern im und am Grünen Band bieten sich an, um Wanderkorridore zu schaffen – im Wasser selbst, aber auch entlang der Ufer.

Weißstörche schreiten durch feuchte Wiesen

Ein "vergessener" Grenzbach schlängelt sich durch sumpfige Niederungen. Gesäumt von alten Erlen und Eschen plätschert der Quellbach der Dumme durchs Dickicht, über Steine hinweg und unter vermodernden Baumstämmen hindurch. Dick mit Moos bepackt bilden sie Brücken, die das Wendland mit der Altmark verbinden. Hin und wieder sausen "fliegende Edelsteine" übers sprudelnde Wasser, mit dunkelmeergrünen Flügeldecken, oben türkisblau und unten zimtrot – die Eisvögel. Weißstörche schreiten durch feuchte Wiesen und suchen nach Fressbarem. Ihre schwarzgefiederten Verwandten dagegen sind scheu: Die Schwarzstörche vermutet Dieter Leupold in den schummerigen Uferwäldern des inzwischen verkauften Stadtforstes von Salzwedel. Häufiger zu sehen sind die Seeadler, die seit mehr als zehn Jahren den Himmel über Altmark und Wendland beherrschen:
"Der Seeadler hier, das ist so ein echter Grenzgänger. Der fischt also überwiegend in Sachsen-Anhalt, aber brütet in Niedersachsen, im Bütlinger Holz. Der braucht ja auch abgelegene, störungsarme Wälder, vor allen Dingen mit großen, kräftigen Bäumen, wo er seinen großen Horst dann errichten kann."
Vor allem am frühen Morgen und späten Abend kann Dieter Leupold mindestens einen Vertreter des Seeadler-Paares beim Fischfang beobachten. Vor allem an den Brietzer Teichen, einer etwa 100 Hektar großen Teichlandschaft südlich des Stadtforstes Salzwedel. Zumindest diese Feuchtbiotope hat der BUND erwerben und somit dauerhaft für den Naturschutz sichern können. Inzwischen sind hier auch Fischadler zu beobachten, die dem Seeadler offenbar folgen:
"Sicherlich spielen für die Adler, Fisch- und Seeadler Flussauen eine ganz besondere Rolle. Da vor allem die Elbe, die ist auch Bestandteil des Grünen Bandes hier auf gut 100 Kilometer, und solche Arten brauchen eben nicht nur Leitlinien, sondern auch großflächige Gebiete, wir verwenden ja fürs Grüne Band gerne dieses Bild – wie Perlen auf einer Kette – weil da sind großflächige Gebiete aneinander gereiht, gerade hier in dem Bereich dieser Komplex – Brietzer Teiche, Stadtforst Salzwedel, Cheiner Torfmoor –das ist so ein großräumiger Komplex, und dort finden dann eben solche Arten wie der Seeadler, der Schwarzstorch, auch der Kranich eben ausreichende Bedingungen."
Inzwischen hat der Seeadler auch die Freie und Hansestadt Hamburg erreicht und brütet in abgeschiedenen Bereichen der Süderelbe. Der Seeadler mag somit als Symbol dafür wirken, wie weit der im Grünen Band auf fast 1.400 Kilometern Länge verwirklichte Biotopschutz in die Nachbarregionen ausstrahlen kann.
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