Das Handy hat uns in der Hand

Von Erik von Grawert-May · 29.07.2010
Das Handy macht mit uns, was es will. Gestern wieder in der S-Bahn! Das Abteil wurde wie gewöhnlich in ein Wohnzimmer verwandelt.
Obwohl alle Mitfahrenden sich fremd waren, gewann man das Gefühl familiärer Nähe, weil gleich auf mehreren Plätzen über zum Teil intime Dinge gesprochen wurde. Und zwar laut - für jeden verständlich.

Ein Mann las Zeitung. Kaum zu glauben, dass er wirklich etwas von dem Gelesenen verstand. Kurze Zeit später griff er selber zum Handy. Statt eine sinnlos gewordene Zeitungslektüre fortzusetzen, stimmt man lieber in den Chor der Sprechenden mit ein. Das funktioniert wie eine Ansteckung. Es ist so leicht geworden, jemand zu erreichen. Einer in der großen Masse der Handybesitzer wird schon gesprächsbereit sein, wo auch immer er sich befindet.

Es lohnt fürs erste nicht, die Sache hyperkritisch zu betrachten und so zu tun, als ginge einen das Szenario nichts an. Macht man nicht selber automatisch mit? Spricht man nicht ebenfalls zu lang, vor allem auch zu laut? Die vielfach plakatierte Aufforderung der diversen städtischen Verkehrsgesellschaften, mit zu eindringlichem Sprechen seinen Nachbarn nicht zu stören, hat bisher wenig geholfen. Wer sein Handy leise handhabt, ist die Ausnahme.

Statt mit soziologisch geschärfter Analytik auf eine neue Spirale der Tyrannei der Intimität im öffentlichen Raum zu spekulieren, schiebe ich die Schuld lieber auf die Technik. Sie macht aus jedem Handybesitzer einen Dauerredner, sie liefert den Grund für die epidemische Verbreitung von Privatgesprächen in der Öffentlichkeit. Gäbe es die mobilen Medien nicht, würden wir nicht freiwillig auf den Stand der Kindheit regredieren und uns ohne jegliche Scheu schamlos vor fremden Leuten offenbaren.

Wo das technische Raffinement die Mobilgeräte vor den Blicken des Außenstehenden gänzlich versteckt, glaubt es der Beobachter mit jemandem zu tun zu haben, der sogar auf die Stufe des Kleinkinds zurückfällt und lauthals mit sich selber spricht. Nur die Kenntnis der Technik bewahrt einen davor, nicht gleich beim Psychiater anzurufen.

Natürlich trägt die Technik nicht die ganze Schuld an der Infantilisierung der Gesellschaft. Aber die Technik fördert sie in starkem Maße. Ehe man uns alle in die Psychiatrie schickt, wo nach Manfred Lütz sowieso die Falschen behandelt werden, sollte es zu einer gesellschaftlichen Übereinkunft kommen.

Analog zur ungeschriebenen Vorschrift, niemand dürfe einem dichter als ca. 80 Zentimeter auf die Pelle rücken (sonst wird es als feindseliger Akt interpretiert), analog dazu müsste es eine Vorschrift geben, die uns verbietet, allzu Intimes öffentlich preiszugeben. Doch woher das rechte Maß nehmen? Was sind die 80 Zentimeter Abstand in Fragen der Intimität, wann wird das Gerede zur Zumutung? Ab wann gebietet der Respekt vor dem jeweils anderen, seinen Mund zu halten?

Das wird in einer so redseligen wie respektlosen Sozietät wie der unseren schwer zu entscheiden sein. Zumal dem Mangel an Achtung vor dem anderen in Bahn und Bus inzwischen jene offene Verachtung an die Seite tritt, die offiziellen Amtsträgern in aller Öffentlichkeit entgegengebracht wird. Das, was der amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe "disrespect" nennt, ist zum Kennzeichen freier demokratischer Gesellschaften geworden.

Warum rettet uns im täglichen Stadtverkehr nicht eine neue technische Entwicklung, die zum Flüster-Handy führen könnte? Mit Mikrofonen, die so sensibel auf Stimmen reagieren, dass der Sprechende nahezu zum Schweigen verurteilt wird.


Erik von Grawert-May, Jahrgang 1944, Studium der Romanistik und der Wirtschaftswissenschaften in Paris, Tübingen und Berlin. Professor (emer.) für Sozialwissenschaften an der Hochschule Lausitz (FH), leitete bis 2009 das "Hanns von Polenz Institut für regionalgeschichtliche Studien" in Senftenberg. Er lebt als Unternehmensethiker in Berlin.
Mehr zum Thema