Das Haus
Wie gut, wenn man allzeit hilfsbereite Eltern oder Schwiegereltern hat, um ihnen die Enkel für zwei Stunden anvertrauen zu können. Wie gut, wenn die Kämpfe der Jugend keine tief greifenden Ver-, ja Zerstörungen hinterlassen haben, und das Band nicht zerschnitten wurde, das Eltern und Kinder lebenslang miteinander verknüpft.
Gewiss, dass Familienbeziehungen unkündbar sind, ist ebenso eine Binsenweisheit wie eine schwere Bürde, denn wir leben in einer Zeit, in der uns soziale Unkündbarkeit so überwunden vorkommt wie die mittelalterliche Inquisition. Praktisch kann man jede Beziehung beenden – dem Einzelnen lässt sich das zur Verringerung seelischen Elends auch nicht absprechen –, doch wenn die Summe der Einzelfälle alles unterminiert, was früher einmal Familie hieß (und das ist mehr als ein oder zwei Menschen plus Kind), dann steht man vor einem Epochenbruch: Was ist da passiert in den letzten 50, 60 Jahren?
Die Befreiung! Nicht die vom Joch der Nazis 1945, sondern die vom Doppeljoch der Bindung ans Elternhaus und von der Verpflichtung zur Gründung eines neuen Hausstands. Schon der Begriff klingt derart verstaubt, dass er zum Räuspern reizt. Also haben die 68er sich in zwei Richtungen losgesagt: Sie kündigten – pars pro toto – ihrer Herkunftsfamilie, weil die als repressiv und "historisch schuldig" galt; und sie stürzten sich in die Freiheit abstrakter Weltverantwortung anstelle persönlicher Beziehungspflichten, kurzum in die Zwanglosigkeit permanenter Promiskuität.
Weil dieser Paradigmenwechsel, einmal vollzogen, auch auf die nachfolgenden Generationen ausstrahlte, entstand die Kultur der Patchworkfamilie, in der die Kinder durch wechselnde Beziehungen mitgeschleift werden, wodurch sie angeblich auch noch eine "hohe Sozialkompetenz" erwerben. Ein Rückgriff auf die Kontinuität der großelterlichen Herkunftsfamilie ist seither nur noch sehr bedingt möglich, an ihre Stelle tritt der Staat mit seinen Versorgungseinrichtungen.
Schauen wir genauer hin, entdecken wir ein Paradox: Beide Lossagungen lassen sich nämlich nicht gleichzeitig vollziehen, ohne dass die gesellschaftliche Struktur kollabiert. Hohe Promiskuität erfordert zwingend die enge Bindung an die Herkunftsfamilie, weil dann nur altmodisch-treue Großeltern den Kindern jenen Halt bieten können, den ihnen die modern-befreiten Eltern verweigern.
Anderseits ist die konsequente Abnabelung vom eigenen, womöglich ja wirklich schrecklichen Elternhaus nur dann möglich, wenn man selbst ein stabiles Heim begründet – für mindestens 16 bis 18 Jahre. Wer zwiefach Heim begründet – für mindestens 16 bis 18 Jahre. Wer zwiefach bindungslos seine Freiheit genießen will, kann das also nur kinderlos tun. Unterläuft ihm doch Nachwuchs – was entgegen aller Verhinderungsmöglichkeiten ziemlich häufig vorkommt – muss er einer der beiden Bindungsoptionen zustimmen. Tertium non datur, ein Drittes gibt es nicht.
In der Realität sieht das ganz anders aus, und hier brennt die Lunte der zweiten demographischen Bombe viel schneller als die der statistisch nachweisbaren Bevölkerungsentwicklung. Denn die Kinder der zerrütteten Nach-68er-Familien können ihrerseits die Optionen nicht mehr frei wählen. Ihnen ist der Rückgriff auf die intakte Herkunftsfamilie versperrt, da es sie schlicht nicht mehr gibt, und die Kraft, ein eigenes kontinuierliches Haus zu begründen, müssen sie ganz aus sich selbst schöpfen, weil es an elterlichen Vorbildern mangelt.
Wenn dieser Kraftakt nicht mehr gelingt, wird sich die Fragmentierung und Atomisierung unserer sozialen Verhältnisse weiter beschleunigen. Dann wandern die Kinder der Zukunft noch mehr als Päckchen durch die Welt, mal hierhin, mal dahin geschickt, wo gerade jemand Zeit und Lust auf sie hat, weil es ins aktuelle Lebensmuster passt. Meistens wohl eher nicht, was im Endeffekt dem Staat die Lasten der Betreuung – oder schlimmer! – der Rehabilitation und Resozialisierung aufbürdet; obwohl er doch gerade aus demographischen Gründen sein Engagement zurückfahren wird.
Kein Ausweg aus dem Teufelskreis? Doch – mit Blick in die tiefere Vergangenheit. Im Januar 1937 notierte der wegen seiner jüdischen Frau und deren beiden Töchtern drangsalierte Schriftsteller Jochen Klepper folgende bedenkenswerte Sätze in sein Tagebuch: "Erziehung zur größtmöglichen Selbständigkeit bei stärkstem Rückhalt am Elternhaus: nichts, was nicht durchs Haus geht; aber fähig machen, ohne Haus zu bestehen, eigenes Haus zu begründen." Und er fügte – unter wirklich repressiven Umständen – einen entscheidenden Satz an, den wir Nachgeborenen angesichts von Kleppers Lage unglaublich finden mögen: "Es ist erstaunlich, welche Freiheiten wir gewähren können." Kontinuität, Verlässlichkeit und Bindung sind die Fundamente echter Liberalität. Wo man sich von ihnen lossagt, ist man nicht frei, sondern ganz rasch verloren.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyhsheiten.de zu finden.
Die Befreiung! Nicht die vom Joch der Nazis 1945, sondern die vom Doppeljoch der Bindung ans Elternhaus und von der Verpflichtung zur Gründung eines neuen Hausstands. Schon der Begriff klingt derart verstaubt, dass er zum Räuspern reizt. Also haben die 68er sich in zwei Richtungen losgesagt: Sie kündigten – pars pro toto – ihrer Herkunftsfamilie, weil die als repressiv und "historisch schuldig" galt; und sie stürzten sich in die Freiheit abstrakter Weltverantwortung anstelle persönlicher Beziehungspflichten, kurzum in die Zwanglosigkeit permanenter Promiskuität.
Weil dieser Paradigmenwechsel, einmal vollzogen, auch auf die nachfolgenden Generationen ausstrahlte, entstand die Kultur der Patchworkfamilie, in der die Kinder durch wechselnde Beziehungen mitgeschleift werden, wodurch sie angeblich auch noch eine "hohe Sozialkompetenz" erwerben. Ein Rückgriff auf die Kontinuität der großelterlichen Herkunftsfamilie ist seither nur noch sehr bedingt möglich, an ihre Stelle tritt der Staat mit seinen Versorgungseinrichtungen.
Schauen wir genauer hin, entdecken wir ein Paradox: Beide Lossagungen lassen sich nämlich nicht gleichzeitig vollziehen, ohne dass die gesellschaftliche Struktur kollabiert. Hohe Promiskuität erfordert zwingend die enge Bindung an die Herkunftsfamilie, weil dann nur altmodisch-treue Großeltern den Kindern jenen Halt bieten können, den ihnen die modern-befreiten Eltern verweigern.
Anderseits ist die konsequente Abnabelung vom eigenen, womöglich ja wirklich schrecklichen Elternhaus nur dann möglich, wenn man selbst ein stabiles Heim begründet – für mindestens 16 bis 18 Jahre. Wer zwiefach Heim begründet – für mindestens 16 bis 18 Jahre. Wer zwiefach bindungslos seine Freiheit genießen will, kann das also nur kinderlos tun. Unterläuft ihm doch Nachwuchs – was entgegen aller Verhinderungsmöglichkeiten ziemlich häufig vorkommt – muss er einer der beiden Bindungsoptionen zustimmen. Tertium non datur, ein Drittes gibt es nicht.
In der Realität sieht das ganz anders aus, und hier brennt die Lunte der zweiten demographischen Bombe viel schneller als die der statistisch nachweisbaren Bevölkerungsentwicklung. Denn die Kinder der zerrütteten Nach-68er-Familien können ihrerseits die Optionen nicht mehr frei wählen. Ihnen ist der Rückgriff auf die intakte Herkunftsfamilie versperrt, da es sie schlicht nicht mehr gibt, und die Kraft, ein eigenes kontinuierliches Haus zu begründen, müssen sie ganz aus sich selbst schöpfen, weil es an elterlichen Vorbildern mangelt.
Wenn dieser Kraftakt nicht mehr gelingt, wird sich die Fragmentierung und Atomisierung unserer sozialen Verhältnisse weiter beschleunigen. Dann wandern die Kinder der Zukunft noch mehr als Päckchen durch die Welt, mal hierhin, mal dahin geschickt, wo gerade jemand Zeit und Lust auf sie hat, weil es ins aktuelle Lebensmuster passt. Meistens wohl eher nicht, was im Endeffekt dem Staat die Lasten der Betreuung – oder schlimmer! – der Rehabilitation und Resozialisierung aufbürdet; obwohl er doch gerade aus demographischen Gründen sein Engagement zurückfahren wird.
Kein Ausweg aus dem Teufelskreis? Doch – mit Blick in die tiefere Vergangenheit. Im Januar 1937 notierte der wegen seiner jüdischen Frau und deren beiden Töchtern drangsalierte Schriftsteller Jochen Klepper folgende bedenkenswerte Sätze in sein Tagebuch: "Erziehung zur größtmöglichen Selbständigkeit bei stärkstem Rückhalt am Elternhaus: nichts, was nicht durchs Haus geht; aber fähig machen, ohne Haus zu bestehen, eigenes Haus zu begründen." Und er fügte – unter wirklich repressiven Umständen – einen entscheidenden Satz an, den wir Nachgeborenen angesichts von Kleppers Lage unglaublich finden mögen: "Es ist erstaunlich, welche Freiheiten wir gewähren können." Kontinuität, Verlässlichkeit und Bindung sind die Fundamente echter Liberalität. Wo man sich von ihnen lossagt, ist man nicht frei, sondern ganz rasch verloren.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyhsheiten.de zu finden.