Das Höchstmögliche an Schönheit

Von Peter Marx · 04.10.2009
Fast fünf Monate weilte der amerikanische Schriftsteller Mark Twain in Heidelberg, wo er eigentlich nur kurz auf seiner Europareise vorbeischauen wollte. Er war fasziniert von der Stadt am Rande des Odenwaldes, von der Neckarlandschaft und von dem studentischen Leben in der Universitätsstadt. Ausführlich beschreibt er in seinen Reiseerinnerungen die Erlebnisse in der Schlossruine und auf dem Paukboden, im Kerzer und auf seiner Fahrt mit dem Floß von Heilbronn nach Neckar.
"Ich kenne kein Denkmal, ich weiß es nicht, bin nicht Bürgermeister hier, gar nicht darüber nachgedacht, er hat sehr nett über Heidelberg geschrieben, wir verdanken ihm viele Besucher, das ist ganz sicher so."

"Es ist natürlich aus seiner Sicht geschrieben, ob es für jeden wunderbar ist, ist auch natürlich auch eine andere Frage. Es ist ein gewisses Zeremoniell, trotzdem diese Sprache ich trotzdem antiquiert finde. Nicht heftig, früher so gesehen, heute sieht man es anders und drückt man es vielleicht auch etwas anders aus."

"Es ist gemeint die Atmosphäre, dass ein Riesenfass hier gebaut wurde. Es ist ein Symbol für den Reichtum des Landes, für die trinkfreudigen Kurfürsten und ihre Untertanen. Natürlich war der Wein, der hier drin war, manchmal mehr Essig als Wein."

"Die Floßfahrt ist seine beste Geschichte", sagt Wolfgang Baars und drückt kraftvoll das Stechpaddel durch das Wasser. Seit zwei Stunden ist er auf dem Neckar unterwegs und mit seinem blauen Kanu auf den Spuren des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain. Vor rund 130 Jahren fährt Twain auf einem Floß von Heilbronn nach Heidelberg, erlebt Abenteuer, riskiert sein Leben:

"Der Neckar hat seinen Namen keltischen Ursprungs, und heißt wilder, reisender Fluss. Und so war es auch. Er war unheimlich gefürchtet, durch die stromschnellen, Windungen, das hängt natürlich mit seiner Ursprungsgeschichte zusammen. Der alte Neckar floss in die entgegengesetzte Richtung, und dann kam es 182. Bei den Schiffern war der Neckar gefürchtet. Viele Pferde und Maultiere anspannen und aufwärts gegen die Strömung anzukommen."

Baars schaut dabei über das Wasser, hört auf Geräusche, also ob er hinter der nächsten Biegung Stromschnellen vermutet. Nur – es ist nichts Bedrohliches zu hören. Die Wellen schlagen leise gegen die grüne Uferböschung, Vögel zwitschern und aus der Ferne röhrt der Motor eines Lastwagens. Romantisch ja – gefährlich nein. Baars stößt das Paddel ins Wasser und hinten im Boot drückt Mitfahrer Thomas Dierolf das Kanu in die leichte Strömung. Noch drei Kilometer bis Bad Wimpfen, noch 15 bis Heidelberg.

Treffpunkt Kurfürsten-Anlage in Heidelberg. Die Stadtführerin wartet. Früher liegt hier der innerstädtische Bahnhof, bis er zugunsten des Straßenverkehrs abgerissen wird. Heute: Eine große Straßenkreuzung mit einer Einkaufspassage, einem Reisebüro, einem Lebensmitteldiscounter. Alles verkleidet mit Aluminiumplatten, die in der Sonne glänzen, gelben Rollos und türkisfarbenen Fensterrahmen. Nur verblasste Hotelnamen an den Brandmauern alter Villen erinnern noch an die "gute, alte Zeit", als Fürsten, Könige und Kaiser hier absteigen, beobachtet von Einheimischen und ausländischen Gästen wie Twain

"Nach kurzer Zeit hörte man das schrille Pfeifen eines ankommenden Zuges und sofort begannen sich Menschengruppen in der Straße zu versammeln. Zwei oder drei offene Wagen trafen ein und setzten einige Ehrendamen und einige Beamte am Hotel ab. Bald darauf brachte ein weiterer offener Wagen den Großherzog von Baden, einen stattlichen Mann in Uniform, der die hübsche, Messing beschlagene Pickelhaube des Heeres auf dem Kopfe trug."

Jennifer Kraus zitiert aus dem Buch "Ein Amerikaner in Heidelberg" und staunt. "Hier an dieser Stelle, genau an meinem Fenster, hier stand Twain". Natürlich hat die Sekretärin von Mark Twain und Huckleberry Finn in der Schule gehört, aber so nah wie jetzt ist sie ihm noch nie gewesen.

"Zuletzt kamen die deutsche Kaiserin und die Großherzogin von Baden in einer geschlossenen Kutsche, sie schritten durch die Gruppen der Bediensteten, die sich tief verneigten und verschwanden im Hotel, wo sie uns nur die Hinterköpfe zeigten und dann war der Aufzug vorbei. Einen Monarchen an Land zu setzen scheint genauso schwer zu sein, wie ein Schiff vom Stapel laufen zu lassen."

Das Zimmer der Sekretärin gehört damals zum Hotel Schrieder, dem ersten Haus am Bahnhofsplatz. Heute ist hier der Finanzdienstleister MLP untergebracht. Von seinem Frühstückstisch beobachtet der Schriftsteller am 7. Mai 1878 das Treffen der schwedischen Kaiserin mit der deutschen Kaiserin Augusta. Jennifer Kraus, blond, schlank, setzt sich auf, holt tief Luft und sieht das nüchtern eingerichtete Zimmer plötzlich "irgendwie anders." Die Geschichte kennt niemand in der kleinen Filiale, nicht einmal ihr belesener Chef, dem auch nicht mehr einfällt als zu sagen: "Was, der Twain war hier drin!"

Wolfgang Baars ist in seinem Element: im doppelten Sinne. Als pensionierter Kapitän auf großer Fahrt nun im Kanu auf dem Neckar. Und in seiner zweiten Funktion als Fluss- und Stadtführer von Bad Wimpfen, kurz vor den Toren seiner Stadt. Er spricht ohne Punkt und Komma, erläutert die Geschichte und erzählt Geschichten von links und rechts des Neckars. Selbst einen kleinen Weg quer durch die Wiesen findet Baars lohnenswert:

"Ein kleiner Wiesenweg wie viele Wege, auch Weg, die sie noch auf den Höhen finden, sind teilweise noch 3000 Jahre alte Wege, mit zwei Fahrspuren, wenn wirklich mal einer entgegenkam, konnte man leicht ausweichen."

Baars ist in Kiel, weit weg von der Kurpfalz, geboren. Eine Auto-Spazierfahrt, sagt er, "bringt mich nach Bad Wimpfen." Er verliebt sich in die Stadt. Nach Reisen auf allen sieben Weltmeeren siedelt der Rentner nach Bad Wimpfen um. Jetzt vertäut der 67-jährige sein Kanu am Ufer seiner neuen Heimat.

Der Kapitän a.D. marschiert bergauf, zur Spitze, zur Kaiserpfalz, holt sein abgewetztes Twain-Buch aus der Tasche, liest:

"Wir machten dann einen Bummel durch den ehrwürdigen, alten Ort. Er war sehr malerisch und verfallen, schmutzig und interessant. Es gab dort wunderliche fünfhundert Jahre alte Häuser und einen hundertfünfzehn Fuß hohen Wehrturm, der schon mehr als tausend Jahre stand. Ich machte ein kleine Skizze davon. Eine Kopie behielt ich, das Original gab ich dem Bürgermeister."

Twain übernachtet in Bad Wimpfen, lässt sich die blutrünstige Geschichte der Stadt erzählen, die einmal Weiberpein heißt, begeistert sich für den erhaltenen Wehrturm der Kaiserpfalz. Twain, der Hobbymaler, zeichnet den Turm: schief, in falschen Proportionen, mit Fenstern, obwohl der Turm keine hat. "Schreiben", sagt Baars, "konnte er besser" und fängt wieder an, die über 1000-jährige Geschichte der Stadt in allen Facetten zu schildern.

"Die Festung erhebt sich jetzt vor uns, die Mauerung mehrere Gebäude drinnen, Schuppen, so dass sie hier tagen konnten, richten konnten beurkunden konnten, feiern konnten und dann nach ein Wochen und Monaten zogen sie wieder weiter, mit Mann und Maus."

Vorbei am Bahnhof, der aussieht wie eine neugotische Kirche, am Hohenstaufentor, am roten Turm, an den Arkaden des staufischen Palais, an Pfalzkapelle und Steinhaus. Die Stadt-Beschreibung von Mark Twain gilt heute noch: malerisch schön, aber irgendwie tot.

Die wenigen Touristen verlieren sich in den romantischen Gassen der Stadt oder in den Gaststuben. Kelten, Römer, Kaiser, Bischöfe und Ritter kommen im Laufe der Jahrhunderte in diese Kleinstadt und vor den Toren der Stadt verliert die kaiserliche Armee die vielleicht blutigste Schlacht im 30jährigen Krieg! Tillys Armee gegen die Schweden. Die Geschichte des heutigen Sole-Bades ist spannender als die Gegenwart.

Baars hastet weiter, hat es plötzlich eilig. Vor dem blauen Turm bleibt er kurz stehen, erzählt atemlos die Geschichte dieses Turms im Zentrum der Kleinstadt. "Kriegstechnik"…
"Toilette mit Ummauerung"… "sonst Pfeil in den Hintern" und dann noch "Schalenmauerwerk"… "deutliche Risse" …. "jetzt alles sicher." Einmal links, einmal rechts durch Gassen, bleibt er hinter dem Dom vor drei Steinkreuzen stehen, zieht wieder "seinen Twain" aus der Tasche liest:

"In der Nähe eines alten Domes standen unter einem Schutzdach drei Steinkreuze – schimmelige und beschädigte Dinger, an denen lebensgroße Steinfiguren hingen. Die zwei Schächer trugen die phantasievolle höfische Tracht der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, während der Heiland bis auf ein Lendentuch unbekleidet war."

Es sind Twains vorletzte Anmerkungen zu Bad Wimpfen. Die letzten gelten Götz von Berlichingen, der mal in Bad Wimpfen übernachtet und für den Twain eine sonderbare Neigung entwickelt. "Der großartige alte Raubritter", beschreibt Twain den Mann mit der eisernen Hand, "besaß die Eigenschaft, geringfügige Beleidigungen zu übersehen und tödliche zu vergeben, sobald er deren Urheber gründlich verdroschen hatte." So was gefällt auch dem alten Kapitän, der wieder in sein blaues Kanu wuppt – der Weg nach Heidelberg ist lang.

Treffpunkt Königsstuhl, ein 567 Meter hoher Berg des Odenwaldes, direkt am Rande der Heidelberger Altstadt. Twain wanderte immer hier noch, die Zahnradbahn war damals noch nicht gebaut. Am 4. Juni 1878 schreibt Twain in sein Tagebuch: Habe einen kleinen Raum in der Wirtschaft unterhalb des Königsstuhl gemietet und bezahlt. Hier will der Autor die Ruhe zum Schreiben finden, die er zuhause in den Vereinigten Staaten vermisst hat. Einer der Gründe, warum sich Twain mit seiner gesamten Familie nach Europa absetzt.

Das Wirtshaus ist heute ein billiges Bistro, eine Touristen-Neppstation. Stadtführerin Christa Huberta Kemmer rüttelt an der Tür. Ein Bistro-Mitarbeiter kommt, droht mit Schlägen, Hund und Polizei: In dieser Reihenfolge. Kurpfälzische Gastfreundlichkeit für eine 70-jährige Frau, die es nur gut mit ihrer Stadt meint. Das Twain-Zimmer ist weg, zerstört bei Umbauten. Das bzw. die Twain-Bilder, die hier jahrzehntelang hängen, sind verschwunden. Letzter Kommentar des stiernackigen Mannes: "Die haben die Besitzer mitgehen lassen." Heidelberg – ein Paradies für Plünderer der eigenen Geschichte. Christa Huberta Kemmer schüttelt ihr graues Haupt, Verzweiflung in der Stimme, nahe dem Kollaps. " Heidelberg", mein Heidelberg", den Rest haucht sie nur noch, leise, ganz leise. Unverständlich.

Ein kurzer Spaziergang am Rande des Schlossparks hilft über den Schock. Bis zum nächsten.. Hinter wild wuchernden Gebüschen und Sträuchern die Ruine des Schlosshotels, ein Steinwurf vom Heidelberger Schloss entfernt. Frau Kemmer, tiefe Falten in der Stirn, sucht zwischen den Büschen einen Weg zum verlassenen Haus, das zu Twains Zeiten das erste Hotel in Heidelberg ist. Hier zieht er mit Familie ein, bucht Zimmer für 250 Dollar die Nacht Die früher offenen Wintergärten, die Twain liebevoll Vogelkäfige, nennt, zugemauert, verfallen. Christa Huberta Kemmer sucht das Twain-Buch in der Tasche, will erst gar nicht lesen, und verfällt doch schnell dem Text des amerikanischen Schriftstellers:

"Vom Nordkäfig aus schaut man die Neckarschlucht hinauf; von dem westlichen aus schaut man sie hinunter. Der letztere bietet den weitesten Ausblick, und das ist dazu einer der lieblichsten, die man sich nur vorstellen kann. Auf einer schwellenden Woge leuchtendgrünen Laubwerks erhebt sich, einen Büchsenschuß entfernt, die gewaltige Ruine des Heidelberger Schlosses mit leeren Fensterbögen, efeugepanzerten Zinnen, verwitternden Türmen – der Lear der ungeliebten Natur -, verlassen, entthront, sturmgepeitscht, aber noch immer fürstlich und schön."

Die Stadtführerin will weg von dieser Baustelle, die nur erahnen lässt, warum Twain von diesem Haus und seinem Blick über Heidelberg so begeistert ist: Tagsüber, aber vor allem nachts, wenn die Gaslaternen brennen und so für Twain der Eindruck entsteht, "als wären alle Diamanten der Welt dort ausgebreitet worden."

Christa Huberta Kemmer blättert um, liest weiter Twains "Liebeserklärung an die Stadt", die heute von ihm nichts mehr wissen will. Nicht ganz. Die Kasernen des amerikanischen Militärs nennen die Heidelberger " Mark-Twain-Village." Christa Huberta hält das mehr für einen Scherz, einen schlechten dazu:

"Man glaubt, Heidelberg – mit seiner Umgebung – bei Tage sei das Höchstmögliche an Schönheit; aber wenn man Heidelberg bei Nacht sieht, eine herabgestürzte Milchstraße, an deren Rand jenes glitzernde Sternbild der Eisenbahn geheftet ist, dann braucht man Zeit, um sich das Urteil noch einmal zu überlegen."

Die Zugstrecke ist verlegt Die Eisenbahn fährt heute durch einen Tunnel. Die Laternen an der Strecke - Ursache für Twains Eindruck von einer herabstürzenden Milchstraße - sind längst erloschen.

Paddeln macht durstig. In Gundelsheim gibt’s die berühmtesten Besenwirtschaften Schwabens, kleine Wein-Gaststätten der Winzer. Kein Ort den Mark Twain besucht hat, dafür die Deutschritter, ein paar hundert Jahre vorher. Ein großes Schloss erinnert daran. Es liegt querab. Zeit wieder anzulegen. Der Besen hängt draußen vor der Tür, das Zeichen, dass der Weinpavillon geöffnet ist.

So war das eben. Früher. Als die Winzer noch ihre Wohnzimmer für Gäste räumen, um dort ihren Wein anbieten. Heute sind Wohn- und Schlafzimmer längst Teil des Restaurants und die alten Stallungen mit Weinpresse und Abfüllanlage Teil der Gartenwirtschaft Die charmante Wirtin, zeigt alles, erklärt alles. Warum Winzer – hier Wengerter genannt werden und warum die Schwaben eine Rotweinsorte besonders schätzen?

"Man spricht auch vom Wengert, ist ein schwäbisches Wort für Weinberg. Früher gab es noch ein anderes Wort, Wingert, das hört man noch öfters. Schwäabischer Brot und Butterwein, Cuvee aus Trollinger und Lemberger. halbtrocken. nicht schwer. Ein Wein für jeden Tag, Stunde, Jahre, Den trinkt man morgens, mittags und nachts."

Der Kapitän genießt. Er träumt nicht mehr von fetten Kieler Sprotten und in Butter gebratenem Dorsch. Wengerter Wurstsalat mit Harzkäse und Maultaschen in allen Variationen, das schätzt er heute. Ein Schoppen mehr darf auch noch sein. Gott erhalt die schwäbische Gemütlichkeit.

Frau Kemmer geht, zurück durch den Wald, weg von der Baustelle des einstigen Schlosshotels. Nächste Station der Bergbahn.

Statt schmieriges, verschmiertes - jetzt Romantik pur. Das Schloss - ausgebrannt, verfallen, Efeu bedeckt. Noch immer der Besuchermagnet der Stadt. Eine Million Gäste kommen jährlich hierher.

Der Schlosspark, aufgeteilt in mehrere steil abfallende Terrassen. Alte Linden und Buchen schützen vor dem Nieselregen. In der hinteren Ecke– ein Brunnen. Der Vater Rhein: Eine mächtige Figur, liegend, Wasserfontänen spuckend. Aus seiner Position kann er den Neckar nicht sehen. Vielleicht gut so.
Christa Huberta Kemmer geht daran achtlos vorbei. Zweimal im Jahr macht die 70-Jährige spezielle "Twain-Führungen" durch Heidelberg. Immer ausgebucht, mal in Englisch, mal in Deutsch. Der Vater Rhein gehört dabei nicht zu ihren Stationen. Das legendäre Schlossfass dagegen schon, für das Twain nur Spott und Häme übrig hat: Die Kunsthistorikerin Gabriele Gerick, bekennende Fassliebhaberin liest trotzdem zügig die Buch-Passage:

"Ein leeres Fass von der Größe einer Kathedrale könnte mein Gemüt nur wenig bewegen. Ich begreife nicht den Sinn, ein ungeheures Fass zu bauen, um darin Leere aufzubewahren, wenn man draußen täglich kostenlos eine bessere Qualität bekommen kann. Wofür könnte dieses Fass gebaut worden sein? Je mehr man darüber nachgrübelt, desto unsicherer und unerfreulicher wird es. Einige Historiker behaupten, dreißig Paare, andere, dreißigtausend Paare könnten gleichzeitig oben auf diesem Fasse tanzen. Sogar das scheint mir keine Erklärung dafür zu sein, warum es gebaut worden ist. Es wirft nicht einmal Licht darauf."

Die Historikerin liest auf dem Tanzboden, oben auf dem Dach des Fasses, das nach Ansicht von Twain, sich höchstens als Butterfass eignet. Ein müdes Lächeln. Lass doch den Twain reden, denkt vermutlich Gabriele Gerick und schaut in die Tiefen des Fasses, in das früher alle Weinsorten der Region geschüttet wurden. Weiß und Rot, Riesling und Burgunder. Bunt gemischt. Gott Erhalts. Der Wein war ja nur für die Mitarbeiter des Kurfürsten:

"Natürlich war der Wein, der hier drin war, manchmal mehr Essig als Wein. Man sagt natürlich, auch der Deputatwein. Also wer hier arbeitete, kriegte hier nicht nur Geld, Hafer für das Pferd, einen Mantel, sondern auch die ihm zustehende Weinration. Und der Tagesverbrauch war hier 2000 Liter."

Und warum dann gleich ein Fass, in das 222.000 Liter passen? Ein Symbol für den Reichtum der Kurpfalz, sagt die Kunsthistorikerin, zeigt auf die Schnitzereien entlang der Frontseite des Fasses, und für die saufenden Edelmänner damals hier im Schloss.

"Es gab ein altes Sprichwort. Nach Pfälzer Art trinken. Das heißt, dass man viel getrunken hat und sie kennen doch Geschichten von Friedrich dem 4. und dem Tagebuch. Der hat Tagebuch geführt und da steht drin. Ein Rausch gehabet, Kammerknecht voll gesoffen und der legendäre Satz. 9. Juli 1598 bin ich wieder voll gewesen. Und daher das bekannte Studentenlied, das mancher Kollege singen könnte. Ich aber nicht."

Heidelberg schlägt sich. Nicht das Pack. Die Studenten tuen es. Seit Jahrhunderten. Die Stadt am Neckar ist ein Zentrum der schlagenden Studentenverbindungen. Schon zu Zeiten Mark Twains, der die Kämpfe auf dem Paukboden in der Hirschgasse fasziniert beobachtet und es ausführlich schildert. Er ist damals Gast des Studentencorps Saxen-Borussia, die noch heute am Rande der Altstadt ein eigenes Haus besitzen. Im Hinterhof, angelehnt an den Berghang, üben Studenten für den nächsten Zweikampf, die Mensur. Ein idyllischer Platz mit Ranken und grob gehauenen Mauersteinen.

Christoph Rohde, ein alter Herr im Corps hat sich durch mehrere Kämpfe gefochten. Jetzt zeigt der 30-jährige das Corps-Haus, erklärt die Corps-Rituale, die Twain so einnehmen, dass er zwei Kapitel den Studenten widmet:

"Sofort, als das Kommando fiel, sprangen die zwei Gespenster vor und fingen an, mit so blitzartiger Geschwindigkeit Schläge aufeinander herabprasseln zu lassen, dass ich nicht genau sagen konnte, ob ich die Säbel sah oder nur ihr Aufblitzen in der Luft, der Lärm dieser Schläge, wenn sie Stahl oder Polster trafen, war etwas wunderbar Aufregendes, und sie wurden mit so furchtbarer Kraft geführt, dass ich nicht begreifen konnte, wieso der gegnerische Säbel unter dem Anprall nicht aus der Hand geschlagen wurde. Plötzlich sah ich inmitten der Säbelblitze eine Handvoll Haar aufstieben, als hätte es lose auf dem Kopfe des Opfers gelegen wäre plötzlich von einem Windstoß fortgeweht worden."

Rohde, 30 Jahre alt, blond und stämmig, legt das Buch aus der Hand, beobachtet den Kampf der Studenten im Hinterhof. Ihm gefällt was Twain schreibt, mit kleinen Einschränkungen:

"Es ist natürlich aus seiner Sicht geschrieben, ob es für jeden wunderbar ist, ist auch natürlich auch eine andere Frage. Es ist ein gewisses Zeremoniell, trotzdem diese Sprache ich trotzdem antiquiert finde. Nicht heftig, früher so gesehen, heute sieht man es anders und drückt man es vielleicht auch etwas anders aus."

Rohde lebt wie alle 300 Mitglieder die ersten drei Semester im Corps-Haus. "Was anstrengend ist". Zu viele Anlässe, zu viele Feiern. Rohde beugt sich vor, greift wieder zum Buch.

"Neun Zehntel der Heidelberger Studenten trugen weder Abzeichen noch Uniform, das andere Zehntel trug Mützen verschiedener Farben und gehörte gesellschaftlichen Organisationen an, die Corps heißen. Die Kneipe scheint auch eine Spezialität von ihnen zu sein. Kneipen werden dann und wann abgehalten, um große Anlässe zu feiern wie zum Beispiel die Wahl eines Bierkönigs."

Rohde lächelt. Bierkönig – diese Ehre kennt er ganz persönlich:

"Jeder fühlt sich als Bierkönig und dementsprechend eine Kneipe feiern. Man trifft sich und kneipt unter dem Offizierscommand. Dann heißt es Silencium, dann ist Ruhe ist Stall und wenn kein Silencium, dann wird nett mit seinem gegenüber unterhalten. Und dazwischen wird getrunken, meistens auf Kommando. Das ist nicht willkürlich. Man kann mit seinem Gegenüber leeren, aber meistens wird nur auf Kommando getrunken. Und dann noch aus."

Und noch eine lächelt. Christa Huberta Kemmer genießt die Gastfreundschaft der Studenten, die für Heidelberg Pluspunkte sammeln. Sie zeigt vom Hinterhof über die Altstadt, will noch den Studenten-Karzer zeigen, die Studentenkneipe Roter Ochsen und, und, und… Alles irgendwie verbunden mit Mark Twain.

Noch circa 20 Kilometer bis Heidelberg. Wind peitscht über den Neckar, dazu Regen. Es schüttet wie aus Eimern. Kapitän a.D. Baars hat genug. Gundelsheim und der trockene Weinpavillon bleiben die Endstation für den Kanuausflug. Nur Thomas Dierolf geht noch mal zum Boot, sichert es am Ufer, bevor es abtreibt. Auch er kennt Mark Twain. Dierolf, ein schlanker Mann mit grauer langer Haarmähne, bietet über seine Firma "Kanu und Bike" Twain-Touren entlang des Neckars an, auf dem der Schriftsteller eine lebensgefährliche Flossfahrt erlebt. Dierolf zitiert:

"Mittlerweile ging die See zollhoch und drohte jedem Augenblick, das zerbrechliche Fahrzeug zu verschlingen. Nun kam der Maat nach Altern, gejagt und sagte dich am Ohr des Kapitäns mit leiser erregter Stimme: Bereiten Sie sich auf das Schlimmste vor, Kapitän – wir sind leck!
Himmel! Wo? Gleich hinter der zweiten Stammreihe. Nur noch ein Wunder kann uns retten. Das nur die Leute es nicht erfahren, sonst gibt es Panik und Meuterei! Dreh auf das Land zu und mach dich klar, mit der Heckleine abzuspringen, sobald es anstößt."

Es geht gut, alle überleben. Auch Twain. Nur – er ist nie auf einem Floß von Heilbronn nach Heidelberg gefahren. Zu diesem Ergebnis kommt die Twain-Kennerin Yvonne Kubitza in ihrer Magisterarbeit. "Nein", schreibt sie, "das ist eine erfundene Geschichte, die Mark Twain vielleicht gehört, aber nie erlebt hat. Für Kapitän Baars ein Schock. Das wusste er nicht. Er bestellt ein neues Viertele. " Übles Seemannsgarn" würde er sagen, wenn er noch auf dem Schiff wäre. Aber hier im Pavillon haben Maultaschen und Wein ihn milde gestimmt. "Ja, der Twain… sagt er langsam und betont jedes Wort. "Wenigstens hat er die Floßfahrt gut erzählt"!