Das "Individualisierungsversprechen" des Bösen

Thomas Macho im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
In Filmen, Romanen und Dramen faszinieren am meisten die bösen Gestalten. Das liege vor allem daran, dass Böse sich eher abheben von anderen als die Guten, glaubt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho: "Böse ist man sozusagen mehr individuell, ist man sozusagen mehr einzigartig, als wenn man gut ist. Wenn man gut ist, dann ist man immer auch ein Stück weit uniform."
Liane von Billerbeck: Dem abgrundtief Bösen widmen wir uns in dieser Woche und versuchen, uns aus verschiedenen Richtungen Menschen, Denkrichtungen und Taten zu nähern, die man eigentlich nicht verstehen kann. Das abgrundtief Böse, die Themenwoche im Radiofeuilleton. Und dieses Böse hat natürlich auch eine Geschichte. Eine religiöse, eine psychologische und eine kulturhistorische. Und diese kulturhistorische, die wollen wir heute mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho besprechen, von der Humboldt-Universität Berlin, der über Tod und Todeskultur, über Rituale und über Vorbilder Bücher geschrieben hat. Herr Professor Macho, herzlich willkommen!

Thomas Macho: Auch meinerseits.

Billerbeck: Ist das Böse, historisch gesehen, ein absoluter Begriff?

Macho: Nein. Ich würde sagen, historisch ist es ein relativer Begriff, der eben von den Normen und Regeln einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Gesellschaft abhängt. Ob man zum Beispiel bestimmte Tiere essen oder nicht essen darf, kann durch diese Normen geregelt werden und insofern kann in einer Kultur etwas als böse betrachtet werden, was in einer anderen Kultur als der Normalfall gilt.

Billerbeck: Wenn wir uns das Böse angucken, welche Karriere hat es denn im Laufe der Geschichte gemacht? Wie hat sich denn die Vorstellung vom Bösen verändert?

Macho: Die Vorstellung vom Bösen hat sich ein Stück weit ins Abstrakte hin verschoben. Anfänglich ist es ganz klar, dass für das Böse allerlei Geister, Dämonen, personifizierte Wesenheiten zuständig sind. Und heute hat man eher das Gefühl, dass es etwas, wie soll man sagen, von diesem konkreten Erscheinungsformen auch des Hässlichen – es gibt einen sehr schönen Übergang zwischen dem Bösen und dem Hässlichen – sich emanzipiert hat, und dass das Böse eher eine abstraktere Qualität angenommen hat.

Billerbeck: Aber wir erleben doch ganz böse Gestalten, ich erinnere nur an Herrn Breivik in Norwegen, der also 70 Menschen erschossen hat. Der wird ja von manchen als das personifizierte Böse empfunden.

Macho: Ja, interessanterweise nicht unbedingt von den Gerichtsgutachtern, die festgestellt haben, dass er wahrscheinlich für seine Taten nicht so ganz zurechnungsfähig ist. Das hat das Publikum empört, denn wir mögen ja diese absolut bösen Gestalten. Wir haben eine große Faszination für diese absolut bösen und grandios schlimmen Persönlichkeiten. Wenn man genauer hinsieht, stellt sich meistens heraus, dass auch diese Heroen des Bösen dann meistens recht gequälte und armselige Menschen sind, deren Geistesverfassung eben sehr viel mit dem zu tun hat mit dem, was sie konkret ausführen.

Billerbeck: Angenommen, wir würden einen Menschen aus der Gegenwart ein paar Jahrhunderte zurückschicken mit einer Zeitmaschine, beispielsweise ins 15. Jahrhundert. Würde er die Menschen dort als böser empfinden als heute?

Macho: Die Lebensumstände vermutlich schon. Wir leben doch in einer sehr geschützten –jedenfalls in der westlichen, den westlich hoch zivilisierten Gesellschaften – in sehr geschützten Atmosphären und Umgebungen. Das wäre im 15. Jahrhundert schon ein Schock, wenn man erleben würde, wie abhängig man zum Beispiel schlicht von Wetterlagen ist. Und zwar nicht deshalb, weil man darüber nachdenkt, ob man nun einen Anorak anziehen muss oder nicht, sondern weil das schlichte Überleben der Familie davon abhängen kann, ob die Ernte gelingt oder ob ein Hagelwetter einen womöglich in eine Dürreperiode oder in eine Hungersnot hineinstürzt.

Das heißt, es gibt historisch gesehen sehr viele Erscheinungsformen, sagen wir mal, zumindest des Erschreckenden, des Bösen auch im Sinne einer bösen Natur, die wir uns ja gar nicht mehr so vorstellen können, weil wir von der Natur ja immer als der gütigen Mutter auszugehen scheinen.

Billerbeck: Das sind die Umstände, die Lebensumstände. Wie hätte denn ein heutiger Mensch die Menschen von damals empfunden? Auch als böser?

Macho: Auch als gröber jedenfalls. Umstände formen natürlich auch die Menschen und die Lebewesen, die unter diesen Umständen leben und überleben müssen. Und vermutlich wäre uns selbst das, was wir so als Prinz-Eisenherz-Kultur und Ritterkultur mit dem Mittelalter assoziieren, in der konkreten, wirklichen Erscheinung sehr viel schlimmer, böser, aggressiver, gröber, ungebildeter und so weiter vorgekommen. Eine Kultur, in der diejenigen, die die Macht haben, meistens auch nicht zögern, diese Macht anzuwenden, in der die Quälerei und das Foltern und das Töten sehr viel mehr an der Tagesordnung ist, als wir uns das heute vorstellen können.

Billerbeck: Wenn wir mit der Zeitmaschine im Kopf wieder zurückreisen, die Frage an Sie: Ist die Demokratie also eine Gesellschaft, die das Böse zurückdrängt oder vielleicht endgültig besiegen kann?

Macho: Endgültig besiegen ist bei diesen Ansprüchen und Erfahrungen, die wir auch historisch gemacht haben, ein schwieriger Begriff. Wir haben demokratisch auch manchmal böse Dinge ermöglicht oder ins Amt gewählt oder ertragen. Von daher würde ich das nicht ganz so scharf sehen. Auf der anderen Seite ist schon klar, dass natürlich unsere demokratische Verfassung sehr viel Böses, das mit autokratischen, mit totalitären Systemen verbunden war, zurückdrängt oder in Schach hält.

Billerbeck: Also die Demokratie mildert das Böse?

Macho: In gewisser Hinsicht schon. Das würde ich schon so unterschreiben.

Billerbeck: Ein Bereich, mit dem man immer das Böse verbindet, das ist ja die Religion. Da gibt es ja viele Bezeichnungen für den Teufel, den Satan ... Ist der die Inkarnation des Bösen?

Macho: Also jedenfalls die historische Einbildungskraft hat den Satan und seine Heere eben zuständig gemacht für das Böse und da auch eine sehr große, eine sehr bildmächtige Fantasie entwickelt. Also wir haben sehr viel weniger großartige Bilder vom Himmel als von der Hölle. Also in der Hölle hat sich die sadistische Fantasie auch der Maler früh auszutoben begonnen. Und auch wenn man mit Dante beziehungsweise mit Vergil und mit Dante durch die jenseitigen Gefilde wandert, stellt man fest, dass die Hölle besonders spannend und aufregend ist.

Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum wir sehr viel mehr böse Wesenheiten kennen als gute. Es gab zwar auch eine Riege von Engeln, die in der Geschichte ausdifferenziert und mit Namen bekannt gemacht wurden. Aber die Dämonenheere sind uns ein Stück weit vertrauter und plausibler vorgekommen.

Warum wurde das Böse nicht früher säkularisiert und entmythologisiert? Das war eine Frage, die sich etwa der Philosoph Ernst Bloch gestellt hat. Und seine Antwort war sehr einfach, er hat gesagt: Das Böse hat so eine hohe Evidenz, dass man von daher sich schwer tut, es abzuschaffen. Während eben der liebe Gott und die Schutzengel manchmal doch recht blamiert vor der empirischen Wirklichkeit unseres Lebens stehen.

Billerbeck: Was passiert denn nun, Sie haben die Aufklärung schon erwähnt. Was passiert denn nun seit der Aufklärung, als man sich also von der Religion abwendet, gibt es da eine Art wissenschaftlichen Begriff für das Böse?

Macho: Darum haben sich die Philosophen, also insbesondere die großen aufklärerischen Philosophen früh bemüht. Es gibt eine sehr intensive Auseinandersetzung um den Begriff des Bösen bei Kant. Und Kant räumt schon ein, dass es eben auch böse Charaktere geben könnte, die ihre bösen Maximen ähnlich konsequent befolgen wie gute Menschen ihren guten. Und dass man diesen bösen Charakteren – ich glaube, er denkt dabei an irgendeinen römischen Bösen wie Sulla und Richard III. wird dann später auch nach Verbreitung des Shakespearestücks zum Inbegriff dieses Bösen, dem eine gewisse Faszinationskraft, ein gewisses Charisma nicht abgesprochen werden kann. Da fängt schon diese wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bösen an, die auch danach fragt, warum uns diese Charaktere, diese Naturen auf eine bestimmte Weise eben doch bis heute imponieren und so ein gewisses Faszinationspotenzial verströmen.

Billerbeck: Deutschlandradio Kultur. Das abgrundtief Böse beschäftigt uns in dieser Themenwoche im Radiofeuilleton. Der Kulturhistoriker Professor Thomas Macho ist mein Gast. Woran liegt es, dass wir eben nicht die Braven, die Guten lieben, sondern die Bösewichte? Wir interessieren uns ja für Verbrechen, nicht nur von historischen Figuren verübten, sondern auch in Büchern und Filmen.

Macho: Genau. Wir gehen am liebsten in die Serienmörderfilme, obwohl sie jetzt langsam ein bisschen langweilig zu werden beginnen. Aber seit 1991, seit dem "Schweigen der Lämmer" ist, glaube ich, jedes Jahr mindestens ein Serienkillerfilm in die Kinos gekommen. Auch das Fernsehen konnte da nicht zurückstehen und hat in den diversen Forensiker- und Kriminalserien, die eben in dieser Zeit entwickelt wurden, die gruseligsten und abscheulichsten Verbrechen sich darzustellen bemüht. Das fasziniert uns offenbar mehr als das Gute.

Ein Film über ein Nonnenkloster ist eben einfach nicht ganz so attraktiv, obwohl das auch versucht wird, wie die Geschichte von ganz bösen und gestörten Menschen, die wir dann als Kriminalfilme vorgeführt bekommen. Warum ist das so? Eine Antwort, eine mögliche Antwort ist die, dass das Böse immer auch mit einem Individualisierungsversprechen verbunden war. Böse ist man sozusagen mehr individuell, ist man sozusagen mehr einzigartig, als wenn man gut ist. Wenn man gut ist, dann ist man immer auch ein Stück weit uniform und man läuft Gefahr, im Chor der Engel eben in der hintersten Reihe unterzugehen, während man als Böser eben doch ein gewisses Prestige haben kann, sogar in der Hölle.

Billerbeck: Man hat Kreuzzüge geführt, die Inquisition haben Sie ja letztlich auch erwähnt. Immer im Namen des Guten auch. Gehören Gut und Böse zusammen? Können die gar nicht ohne einander?

Macho: Also die können, die sind natürlich aufeinander bezogen, weil wenn eben das Böse ein relativer Begriff ist, dann ist auch das Gute ein relativer Begriff. Und diese relativen Begriffe verweisen aufeinander, so weit schon. Auf der anderen Seite glaube ich schon, dass es Verbote geben muss von bestimmten bösen Handlungen, die eben im Sinne eines absoluten, eines nicht mehr weiter befragbaren, aufhebbaren Verbots etwa der Folter gültig bleiben, auch unter den verschiedenartigsten Umständen, die man sich dann ausmalen kann.

Billerbeck: Herr Professor Macho, gibt es etwas, was heute als das Böse gilt, das spezifisch Böse der Gegenwart?

Macho: Das spezifisch Böse der Gegenwart – das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, unsere Bildwelten von dem spezifisch Bösen der Gegenwart und das, was wir real in der Politik und in der Auseinandersetzung mit konkreten Lebensumständen – das driftet immer weiter auseinander. Im Film sitzen wir dann vorm "Blair Witch Project" und sehen junge Menschen, die irgendwie mit Hexen, mit Teufeln, mit Vampiren und was weiß ich noch allem konfrontiert werden, und in der Wirklichkeit geht es darum, dass halbe Kontinente am Verhungern sind und dass wir die Bilder gar nicht mehr sehen wollen von den bleistiftdünnen Ärmchen von Kindern, die noch zwei, drei Tage zu leben haben, und dergleichen mehr.

Von daher habe ich das Gefühl, dass das, was böse ist und dass das, was uns fasziniert und das, was man als Böse jetzt in einem gesellschaftlichen Sinn bekämpfen muss, dass das immer weniger miteinander zu tun hat.

Billerbeck: Sagt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Ganz herzlichen Dank!

Macho: Herzlichen Dank auch an Sie!

Billerbeck: Das Gespräch haben wir vor unserer Sendung aufgezeichnet. Und am Nachmittag geht es weiter in unserer Themenwoche über das Böse. Wir haben Sebastian Fitzek zu Gast, der höchst erfolgreich höchst gewalttätige Psychothriller schreibt. Und wir porträtieren böse Gestalten. Heute Nachmittag den Satan.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Das abgrundtief Böse -
Themenwoche im Radiofeuilleton vom 2. bis 7. April 2012