"Das ist braver Zeitgeist"
Bisher seien 10.000 Dauerkarten für die documenta verkauft worden. Das sei eine Steigerung um 100 Prozent, erklärt der Publizist Christian Saehrendt. Für ihn sei das Kunsterlebnis, was in Kassel zelebriert werde, jedoch "so eine Art westliche Variante eines verwässerten Wellnessbuddhismus".
Matthias Hanselmann: Wahlrecht für Hunde und Erdbeeren! Mit dieser Forderung sorgte die diesjährige Leiterin der documenta in Kassel für Furore oder wahlweise für Kopfschütteln. Carolyn Christov-Bakargiev, genannt CCB, hatte damit immerhin eines erreicht: Man schaute wieder hin, man interessierte sich für die documenta.
Am kommenden Samstag ist Halbzeit nach 50 Tagen der weltgrößten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, und offenbar steuert man auf einen Besucherrekord zu, es sollen jetzt schon weit über 375.000 gewesen sein. Dabei hatte alles mit Skepsis und auch harscher Kritik begonnen. Kunst für Hunde, was soll das? Und Wahlrecht für Erdbeeren, geht's noch? Und was sollen Zoologen im Team einer Kunstausstellung? Das waren einige Reaktionen. Aber die Kritik scheint allgemeiner Begeisterung gewichen zu sein.
Wir sprechen mit Christian Saehrendt. Er ist Kunstwissenschaftler und Publizist, Autor etlicher kunstkritischer Bücher, eines davon mit dem schönen Titel "Ist das Kunst - oder kann das weg?", außerdem gebürtiger Kasselaner, also er kennt die documenta seit vielen Jahren und ist jetzt für uns in einem Studio in Kassel. Guten Tag, Herr Saehrendt!
Christian Saehrendt: Ich grüße Sie!
Hanselmann: Sie haben ja im Vorfeld der documenta von einer arroganten Chefkuratorin geschrieben, von unprofessioneller Pressearbeit und sogar von der schlechtesten documenta aller Zeiten. Sie haben Carolyn Christov-Bakargiev sogar die "Lady Gaga der Kunsttheorie" genannt. Was ist denn Ihre Halbzeitbilanz, sind Sie auch begeistert inzwischen?
Saehrendt: Ja, ich nehme alles zurück, also ich mache eine totale Wende, und ich find jetzt alles gut, also ich hab die Seiten gewechselt. Aber man muss auch sagen, also diese documenta macht's uns Kritikerin auch wirklich schwer - also nicht, weil sie so gut ist, sondern weil sie so gut gemeint ist, also sie will so viel Gutes, vielleicht kann man das sagen.
Denn wenn man sich mal die intellektuelle Grundierung ansieht vieler Kunstwerke und Veranstaltungen, dann ist es letztlich so ein trendiger Mix aus Feminismus, Ökobewusstsein, poststrukturalistischer Philosophie, abgeschmeckt mit einem Schuss Buddhismus und Esoterik, und da kann man gar nichts gegen haben. Das ist also auch nichts Revolutionäres, sondern das ist braver Zeitgeist. Und für mich ist dieses Kunsterlebnis, was hier in Kassel zelebriert wird, ist so eine Art westliche Variante eines verwässerten Wellnessbuddhismus - und das tut uns allen gut.
Hanselmann: Na ja, also Sie sind mehr ein Rhetoriker. Am Anfang sagen Sie, haben sich komplett geändert, und dann diese Seitenhiebe. Es gibt ja wirklich fast keine Kritik mehr. Der Kunsthistoriker Michael Diers, Professor in Hamburg und Berlin, sagt, eine der besten, die es je gab. Die Kritikerin des Kunstmagazins ...
Saehrendt: So ein Schleimer! Der will wohl der nächste documenta-Leiter werden.
Hanselmann: Lassen Sie mich zu Ende zitieren! Die Kritikerin des Kunstmagazins "Monopol" sagt, sie war selten so begeistert von einer Ausstellung.
Saehrendt: Ja, die sind ja immer begeistert, von "Monopol", die kann man nicht ernst nehmen.
Hanselmann: Ja, aber wie erklären Sie sich denn diese Begeisterung?
Saehrendt: Ja, ich glaube, die sind einfach ... also der Parkspaziergang in Kassel, der ist einfach großartig. Sie wissen vielleicht, im Auepark, also in der historischen Parkanlage, sind sehr viele Kunstobjekte platziert worden, einzelne Pavillons und Skulpturen, und man hat also neuartiges oder ungewohntes Kunsterlebnis.
Man hat nicht mehr kompakt alle Werke im Museum und arbeitet sich da sklavenhaft ab, sondern man geht ein paar Schritte durch die schöne Kultur-, Naturlandschaft, und dann kommt wieder das Nächste. Der Kopf wird wieder frei für das nächste Kunstwerk.
Und man muss auch sagen, es ist - wie man Kunst empfindet, ob sie einem gefällt oder nicht, das hängt von der emotionalen Voreinstellung ab. Also wenn ich jetzt sozusagen frisch verliebt in die documenta gehe, dann finde ich alles gut, wenn ich vorher schon einen Riesenfrust habe und aggressiv und sauer bin, also dann kommt nur so was bei raus wie "Das kann ich auch." oder "Wo gibt's denn hier die Kunst zu sehen?".
Und ich glaube, viele von den potenziellen Kritikern und Journalisten sind in irgendeiner Art von der Atmosphäre verzaubert worden oder eingefangen worden und waren entsprechend positiv voreingestellt.
Hanselmann: Also Sie waren offenbar nicht verliebt, bevor Sie hingegangen sind oder als Sie hingegangen sind?
Saehrendt: Das kann ich so jetzt nicht sagen, also da findet ja auch immer ein Wandel statt.
Hanselmann: Sie haben jetzt schon ein Beispiel genannt - was würden Sie denn noch als gelungen bezeichnen an dieser documenta?
Saehrendt: Also gelungen finde ich vor allem der Ausstieg aus dem Hamsterrad des Kunstmarktes und aus dieser konsumistischen Kunstbetrachtung. Wir haben also immer sehr viele Berichte gehabt in letzter Zeit über Kunstmessen, über Preisrekorde, Auktionsrekorde, über reiche Künstlerstars, über Superstars wie Gerhard Richter oder Damien Hirst, und da gelingt der documenta tatsächlich ein Ausstieg - also tatsächlich den Blick abwenden von diesem sozusagen Shopping mit den Augen und hingehen zu einem bewussten Auswählen, zu einem Sichzurücknehmen und konzentrieren auf einzelne Objekte oder Empfindungen.
Hanselmann: Sie kennen ja die Stadt Kassel wie Ihre Westentasche als Kasselaner, die documenta setzt sich auch mit Ihrer Stadt auseinander. Wie tut sie das denn aus der Sicht eines Kasselaners?
Saehrendt: Also sehr reizvoll in Kassel ist ja vor allem der Gegensatz zwischen historischer Bausubstanz und Parks und dieser hässlichen Innenstadt, und diese hässliche Innenstadt empfinde ich inzwischen als ein großes Kapital, weil das ist so was wie ein Sparringspartner für die zeitgenössische Kunst, so eine Art Spielfeld, wo man bestimmte Formen erproben kann oder wo man auch Verfallsprozesse beobachten kann oder so eine Art Urbanismuskritik ansetzen kann.
Und das sind alles wichtige Punkte geworden in der zeitgenössischen Kunst der letzten Zeit. Also so was wie das Hugenottenhaus, eine innerstädtische Bauruine wiederzubesiedeln durch Künstler aus Chicago, die ihrerseits dort in Chicago aus Abbruchhäusern retten, was zu retten ist und so eine Art Nachbarschaftszentrum zusammenbauen, das ist natürlich eine tolle Verbindung, also wenn man praktisch auch das Ruinöse oder das Hässliche ins Positive wendet und nutzt für die Kunst.
Hanselmann: Sie haben, wir haben es gesagt, viele documentas gesehen oder auch erlebt. Wenn Sie mal vergleichen, wie steht sie denn da, die 13. documenta im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen?
Saehrendt: Das können natürlich nur die Kunsthistoriker in 50 oder 100 Jahren sagen, aber man kann jetzt schon mal als Zwischenbilanz ziehen - also ich meine, es ist schon wieder ein Problem, wenn man jetzt sich auf die Zahlen stürzt, eigentlich geht es um die Kunst, und alle reden jetzt schon wieder darum, wird es ein neuer Besucherrekord oder nicht - aber zumindest ein Anhaltspunkt ist da, dass viele Menschen sich für interessieren.
Viel wichtiger finde ich, dass 10.000 Dauerkarten verkauft sind, also da wäre mancher Fußballbundesligist stolz drauf. 10.000 Dauerkarten, also das ist eine Steigerung jetzt schon um 100 Prozent.
Hanselmann: 7000 mehr als bei der letzten documenta im Jahre 2007, habe ich gehört.
Saehrendt: Genau. Also das heißt, es gibt Leute, die sich wirklich ... wo das Konzept aufgeht, die sagen, ich guck mir die documenta mehrere Wochen lang an, ich geh immer mal wieder hin, und die damit dieses entschleunigte, intensivierte Kunsterlebnis für sich nutzen wollen.
Das finde ich toll. Außerdem schaue ich natürlich auch, wer an Prominenten da rumläuft, und da gibt es inzwischen auch schon einen tollen Querschnitt, der zeigt also, wie viele verschiedene Role Models da inzwischen auflaufen. Es geht ja mit Brad Pitt los, Karl Lagerfeld wurde gesehen, Farin Urlaub, der Sänger von den Ärzten, Schauspielerin Eva Mattes, unser Bundespräsident, ja, Gregor Gysi, Susanne Klatten, die Unternehmerin und reichste Frau Deutschlands.
Das ist schon ein toller Querschnitt - diverse Scheichs auch. Das finde ich toll, dass also ganz verschiedene gesellschaftliche Milieus ...
Hanselmann: Glauben Sie, dass die alle da waren, ohne das Portemonnaie dabei zu haben oder zumindest im Kopf zu öffnen?
Saehrendt: Direkt wird nicht gekauft, also es kann nicht auf der documenta direkt was verkauft werden, also die Distanz zum Markt muss ja gewahrt bleiben, aber Sie können sicher sein, bei der nächsten Art Basel gehen dann die Sachen übern Ladentisch.
Hanselmann: Der Untertitel Ihres Buches, das ich in der Anmod erwähnt habe, ist "documenta-Geschichten, Märchen und Mythen". Skandale wurden Ihnen ja nicht geboten dieses Jahr, oder?
Saehrendt: Ich hoffe, dass da noch einiges kommt, also ich setze immer auf Blamagen und Peinlichkeiten, manchmal sind es auch Kleinigkeiten, die man halt da zusammenkehren kann und was draus drehen kann.
Bisher muss man sagen, die documenta-Leitung hat sich doch als extrem profihaft und geschickt angestellt, auch dieser ganze Presserummel im Vorfeld halte ich für sehr gelungen, also dieses Wahlrecht für Erdbeeren, das sollte Journalisten eben auf die Palme bringen und hat auch toll geklappt, "Süddeutsche Zeitung" fühlte sich superprovoziert.
Und bei der Pressekonferenz, also diese Nägelkauperformance, wo die Nervosität praktisch im Raum multipliziert wurde, da wurde ein toller Spannungsbogen aufgebaut und ja, letztlich auch eine vielseitige ... es gibt vielseitige Ansatzpunkte, also auch niederschwellige Angebote.
Man kann ja als Spaziergänger im Park rumlaufen und mit seinem Hund Skulpturen besichtigen, die für Hunde und Menschen gleichermaßen geeignet sind, ohne einen Eintrittspreis zu bezahlen. Man kann sich auch mit Theorie und intellektueller schwerer Kost den Wanst vollschlagen. Also es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese documenta zu genießen.
Hanselmann: Ja, ich wollte Sie gerade fragen: Waren Sie mit Hund da?
Saehrendt: Ich war unter anderem auch mit Hund da, ja.
Hanselmann: Und, wie war der so drauf, wie hat er reagiert?
Saehrendt: An dem Tag war es unglücklicherweise sehr heiß, und bei 32 Grad und dem dicken Fell, also da war nicht so viel drin mit Kunstgenuss.
Hanselmann: Ja, denn Hunde sollen ja genauso Kunst genießen, sagt Carolyn Christov-Bakargiev. Und nehmen Sie jetzt öffentlich zurück, dass Sie die "Lady Gaga der Kunsttheorie" sei?
Saehrendt: Nee, also das ist das Einzige, worauf ich bestehe, "Lady Gaga der Kunsttheorie" finde ich eine sehr treffende Beschreibung, weil, wie Sie selbst ja sicher wissen, Lady Gaga hat auch mal ein paar Semester Kunstgeschichte studiert, und ihre intellektuellen Verkleidungen und Performances und immer neuen Rollen, die sie ausübt, das passt ja auch gut zu diesen intellektuellen Spiegelfechtereien von Frau Christov-Bakargiev, dass sie auch immer in ein neues Gewand schlüpft, um uns letztlich zu verwirren und um uns zu unterhalten.
Hanselmann: Halbzeit bei der documenta. Christian Saehrendt war das, Kunstwissenschaftler und Kritiker, Kasselaner und documenta-Insider. Herzlichen Dank!
Saehrendt: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Am kommenden Samstag ist Halbzeit nach 50 Tagen der weltgrößten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, und offenbar steuert man auf einen Besucherrekord zu, es sollen jetzt schon weit über 375.000 gewesen sein. Dabei hatte alles mit Skepsis und auch harscher Kritik begonnen. Kunst für Hunde, was soll das? Und Wahlrecht für Erdbeeren, geht's noch? Und was sollen Zoologen im Team einer Kunstausstellung? Das waren einige Reaktionen. Aber die Kritik scheint allgemeiner Begeisterung gewichen zu sein.
Wir sprechen mit Christian Saehrendt. Er ist Kunstwissenschaftler und Publizist, Autor etlicher kunstkritischer Bücher, eines davon mit dem schönen Titel "Ist das Kunst - oder kann das weg?", außerdem gebürtiger Kasselaner, also er kennt die documenta seit vielen Jahren und ist jetzt für uns in einem Studio in Kassel. Guten Tag, Herr Saehrendt!
Christian Saehrendt: Ich grüße Sie!
Hanselmann: Sie haben ja im Vorfeld der documenta von einer arroganten Chefkuratorin geschrieben, von unprofessioneller Pressearbeit und sogar von der schlechtesten documenta aller Zeiten. Sie haben Carolyn Christov-Bakargiev sogar die "Lady Gaga der Kunsttheorie" genannt. Was ist denn Ihre Halbzeitbilanz, sind Sie auch begeistert inzwischen?
Saehrendt: Ja, ich nehme alles zurück, also ich mache eine totale Wende, und ich find jetzt alles gut, also ich hab die Seiten gewechselt. Aber man muss auch sagen, also diese documenta macht's uns Kritikerin auch wirklich schwer - also nicht, weil sie so gut ist, sondern weil sie so gut gemeint ist, also sie will so viel Gutes, vielleicht kann man das sagen.
Denn wenn man sich mal die intellektuelle Grundierung ansieht vieler Kunstwerke und Veranstaltungen, dann ist es letztlich so ein trendiger Mix aus Feminismus, Ökobewusstsein, poststrukturalistischer Philosophie, abgeschmeckt mit einem Schuss Buddhismus und Esoterik, und da kann man gar nichts gegen haben. Das ist also auch nichts Revolutionäres, sondern das ist braver Zeitgeist. Und für mich ist dieses Kunsterlebnis, was hier in Kassel zelebriert wird, ist so eine Art westliche Variante eines verwässerten Wellnessbuddhismus - und das tut uns allen gut.
Hanselmann: Na ja, also Sie sind mehr ein Rhetoriker. Am Anfang sagen Sie, haben sich komplett geändert, und dann diese Seitenhiebe. Es gibt ja wirklich fast keine Kritik mehr. Der Kunsthistoriker Michael Diers, Professor in Hamburg und Berlin, sagt, eine der besten, die es je gab. Die Kritikerin des Kunstmagazins ...
Saehrendt: So ein Schleimer! Der will wohl der nächste documenta-Leiter werden.
Hanselmann: Lassen Sie mich zu Ende zitieren! Die Kritikerin des Kunstmagazins "Monopol" sagt, sie war selten so begeistert von einer Ausstellung.
Saehrendt: Ja, die sind ja immer begeistert, von "Monopol", die kann man nicht ernst nehmen.
Hanselmann: Ja, aber wie erklären Sie sich denn diese Begeisterung?
Saehrendt: Ja, ich glaube, die sind einfach ... also der Parkspaziergang in Kassel, der ist einfach großartig. Sie wissen vielleicht, im Auepark, also in der historischen Parkanlage, sind sehr viele Kunstobjekte platziert worden, einzelne Pavillons und Skulpturen, und man hat also neuartiges oder ungewohntes Kunsterlebnis.
Man hat nicht mehr kompakt alle Werke im Museum und arbeitet sich da sklavenhaft ab, sondern man geht ein paar Schritte durch die schöne Kultur-, Naturlandschaft, und dann kommt wieder das Nächste. Der Kopf wird wieder frei für das nächste Kunstwerk.
Und man muss auch sagen, es ist - wie man Kunst empfindet, ob sie einem gefällt oder nicht, das hängt von der emotionalen Voreinstellung ab. Also wenn ich jetzt sozusagen frisch verliebt in die documenta gehe, dann finde ich alles gut, wenn ich vorher schon einen Riesenfrust habe und aggressiv und sauer bin, also dann kommt nur so was bei raus wie "Das kann ich auch." oder "Wo gibt's denn hier die Kunst zu sehen?".
Und ich glaube, viele von den potenziellen Kritikern und Journalisten sind in irgendeiner Art von der Atmosphäre verzaubert worden oder eingefangen worden und waren entsprechend positiv voreingestellt.
Hanselmann: Also Sie waren offenbar nicht verliebt, bevor Sie hingegangen sind oder als Sie hingegangen sind?
Saehrendt: Das kann ich so jetzt nicht sagen, also da findet ja auch immer ein Wandel statt.
Hanselmann: Sie haben jetzt schon ein Beispiel genannt - was würden Sie denn noch als gelungen bezeichnen an dieser documenta?
Saehrendt: Also gelungen finde ich vor allem der Ausstieg aus dem Hamsterrad des Kunstmarktes und aus dieser konsumistischen Kunstbetrachtung. Wir haben also immer sehr viele Berichte gehabt in letzter Zeit über Kunstmessen, über Preisrekorde, Auktionsrekorde, über reiche Künstlerstars, über Superstars wie Gerhard Richter oder Damien Hirst, und da gelingt der documenta tatsächlich ein Ausstieg - also tatsächlich den Blick abwenden von diesem sozusagen Shopping mit den Augen und hingehen zu einem bewussten Auswählen, zu einem Sichzurücknehmen und konzentrieren auf einzelne Objekte oder Empfindungen.
Hanselmann: Sie kennen ja die Stadt Kassel wie Ihre Westentasche als Kasselaner, die documenta setzt sich auch mit Ihrer Stadt auseinander. Wie tut sie das denn aus der Sicht eines Kasselaners?
Saehrendt: Also sehr reizvoll in Kassel ist ja vor allem der Gegensatz zwischen historischer Bausubstanz und Parks und dieser hässlichen Innenstadt, und diese hässliche Innenstadt empfinde ich inzwischen als ein großes Kapital, weil das ist so was wie ein Sparringspartner für die zeitgenössische Kunst, so eine Art Spielfeld, wo man bestimmte Formen erproben kann oder wo man auch Verfallsprozesse beobachten kann oder so eine Art Urbanismuskritik ansetzen kann.
Und das sind alles wichtige Punkte geworden in der zeitgenössischen Kunst der letzten Zeit. Also so was wie das Hugenottenhaus, eine innerstädtische Bauruine wiederzubesiedeln durch Künstler aus Chicago, die ihrerseits dort in Chicago aus Abbruchhäusern retten, was zu retten ist und so eine Art Nachbarschaftszentrum zusammenbauen, das ist natürlich eine tolle Verbindung, also wenn man praktisch auch das Ruinöse oder das Hässliche ins Positive wendet und nutzt für die Kunst.
Hanselmann: Sie haben, wir haben es gesagt, viele documentas gesehen oder auch erlebt. Wenn Sie mal vergleichen, wie steht sie denn da, die 13. documenta im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen?
Saehrendt: Das können natürlich nur die Kunsthistoriker in 50 oder 100 Jahren sagen, aber man kann jetzt schon mal als Zwischenbilanz ziehen - also ich meine, es ist schon wieder ein Problem, wenn man jetzt sich auf die Zahlen stürzt, eigentlich geht es um die Kunst, und alle reden jetzt schon wieder darum, wird es ein neuer Besucherrekord oder nicht - aber zumindest ein Anhaltspunkt ist da, dass viele Menschen sich für interessieren.
Viel wichtiger finde ich, dass 10.000 Dauerkarten verkauft sind, also da wäre mancher Fußballbundesligist stolz drauf. 10.000 Dauerkarten, also das ist eine Steigerung jetzt schon um 100 Prozent.
Hanselmann: 7000 mehr als bei der letzten documenta im Jahre 2007, habe ich gehört.
Saehrendt: Genau. Also das heißt, es gibt Leute, die sich wirklich ... wo das Konzept aufgeht, die sagen, ich guck mir die documenta mehrere Wochen lang an, ich geh immer mal wieder hin, und die damit dieses entschleunigte, intensivierte Kunsterlebnis für sich nutzen wollen.
Das finde ich toll. Außerdem schaue ich natürlich auch, wer an Prominenten da rumläuft, und da gibt es inzwischen auch schon einen tollen Querschnitt, der zeigt also, wie viele verschiedene Role Models da inzwischen auflaufen. Es geht ja mit Brad Pitt los, Karl Lagerfeld wurde gesehen, Farin Urlaub, der Sänger von den Ärzten, Schauspielerin Eva Mattes, unser Bundespräsident, ja, Gregor Gysi, Susanne Klatten, die Unternehmerin und reichste Frau Deutschlands.
Das ist schon ein toller Querschnitt - diverse Scheichs auch. Das finde ich toll, dass also ganz verschiedene gesellschaftliche Milieus ...
Hanselmann: Glauben Sie, dass die alle da waren, ohne das Portemonnaie dabei zu haben oder zumindest im Kopf zu öffnen?
Saehrendt: Direkt wird nicht gekauft, also es kann nicht auf der documenta direkt was verkauft werden, also die Distanz zum Markt muss ja gewahrt bleiben, aber Sie können sicher sein, bei der nächsten Art Basel gehen dann die Sachen übern Ladentisch.
Hanselmann: Der Untertitel Ihres Buches, das ich in der Anmod erwähnt habe, ist "documenta-Geschichten, Märchen und Mythen". Skandale wurden Ihnen ja nicht geboten dieses Jahr, oder?
Saehrendt: Ich hoffe, dass da noch einiges kommt, also ich setze immer auf Blamagen und Peinlichkeiten, manchmal sind es auch Kleinigkeiten, die man halt da zusammenkehren kann und was draus drehen kann.
Bisher muss man sagen, die documenta-Leitung hat sich doch als extrem profihaft und geschickt angestellt, auch dieser ganze Presserummel im Vorfeld halte ich für sehr gelungen, also dieses Wahlrecht für Erdbeeren, das sollte Journalisten eben auf die Palme bringen und hat auch toll geklappt, "Süddeutsche Zeitung" fühlte sich superprovoziert.
Und bei der Pressekonferenz, also diese Nägelkauperformance, wo die Nervosität praktisch im Raum multipliziert wurde, da wurde ein toller Spannungsbogen aufgebaut und ja, letztlich auch eine vielseitige ... es gibt vielseitige Ansatzpunkte, also auch niederschwellige Angebote.
Man kann ja als Spaziergänger im Park rumlaufen und mit seinem Hund Skulpturen besichtigen, die für Hunde und Menschen gleichermaßen geeignet sind, ohne einen Eintrittspreis zu bezahlen. Man kann sich auch mit Theorie und intellektueller schwerer Kost den Wanst vollschlagen. Also es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese documenta zu genießen.
Hanselmann: Ja, ich wollte Sie gerade fragen: Waren Sie mit Hund da?
Saehrendt: Ich war unter anderem auch mit Hund da, ja.
Hanselmann: Und, wie war der so drauf, wie hat er reagiert?
Saehrendt: An dem Tag war es unglücklicherweise sehr heiß, und bei 32 Grad und dem dicken Fell, also da war nicht so viel drin mit Kunstgenuss.
Hanselmann: Ja, denn Hunde sollen ja genauso Kunst genießen, sagt Carolyn Christov-Bakargiev. Und nehmen Sie jetzt öffentlich zurück, dass Sie die "Lady Gaga der Kunsttheorie" sei?
Saehrendt: Nee, also das ist das Einzige, worauf ich bestehe, "Lady Gaga der Kunsttheorie" finde ich eine sehr treffende Beschreibung, weil, wie Sie selbst ja sicher wissen, Lady Gaga hat auch mal ein paar Semester Kunstgeschichte studiert, und ihre intellektuellen Verkleidungen und Performances und immer neuen Rollen, die sie ausübt, das passt ja auch gut zu diesen intellektuellen Spiegelfechtereien von Frau Christov-Bakargiev, dass sie auch immer in ein neues Gewand schlüpft, um uns letztlich zu verwirren und um uns zu unterhalten.
Hanselmann: Halbzeit bei der documenta. Christian Saehrendt war das, Kunstwissenschaftler und Kritiker, Kasselaner und documenta-Insider. Herzlichen Dank!
Saehrendt: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.