"Das ist ein fürchterlicher Schock"
Nach dem Anschlag in Oslo und dem Massaker auf der Ferieninsel Utoya kommt auf die norwegische Gesellschaft die Frage nach den Gründen für das furchtbare Geschehen zu. Was Anders Behring B. zu seiner Tat bewogen hat, bleibe vorerst rätselhaft, sagte der Osloer Pfarrer Björn Sandvik.
Nana Brink: Der Doppelanschlag in Norwegen lässt uns weiter ratlos zurück. Erst verwüstete eine Bombe die Innenstadt Oslos und dann hat der mutmaßliche Einzeltäter Anders Behring Breivik ein Massaker in einem Feriencamp der Sozialdemokratischen Partei verübt, das über 90 Menschen tot zurückgelassen hat. Es gab keine schlimmere Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg im friedlichen Norwegen, das ja so stolz ist auf seine Toleranz und seine Weltoffenheit. Am Telefon ist jetzt Björn Sandvik, er ist Pfarrer im Ruhestand in Oslo. Einen schönen guten Tag, Herr Sandvik!
Björn Sandvik: Ja, guten Tag!
Brink: Sie sind zwar Pfarrer im Ruhestand, waren aber gestern in der Kirche und sind es sicherlich heute auch noch. Was erleben Sie?
Sandvik: Wir erleben das, wenn wir die Kirchentüren öffnen, dann kommen Menschen, um einfach in der Stille zu sitzen und Kerzen anzuzünden. Wir sagen dazu, das ist ein wortloses Gebet.
Brink: Wie tief greifend ist der Schock in Norwegen?
Sandvik: Er ist sehr tief greifend. Also, diese gelassene Sommerstimmung, Urlaub – die Hälfte der Bevölkerung ist im Urlaub, weg von Oslo hier –, und dann plötzlich ist auf einmal alles anders. Soldaten in der Stadt und Glassplitter überall und das Regierungsgebäude muss vielleicht abgerissen werden und so weiter, und so fort. Das ist ein fürchterlicher Schock. Und das hat irgendwie die ganze Nation gelähmt, also man weiß nicht, wohin mit seinen Gedanken und Gefühlen. Und dann ist es gut, dass die Kirche da ist. Und man sagt ja auch, dass Norwegen ziemlich säkularisiert ist, aber tiefen lutherischen Wurzeln, sagen wir, die stehen dann fest in dieser Katastrophensituation.
Brink: Sind denn diese Attentate auch ein Angriff auf, ich sage mal, das norwegische Ideal einer transparenten, gutgläubigen Gesellschaft, einer multikulturellen Gesellschaft?
Sandvik: Ja, also, das muss eigentlich so aufgefasst werden. Und unser Staatsminister Stoltenberg hat gesagt, wir lassen uns das nicht nehmen. Wir lassen uns nicht zur Ruhe und zum Schweigen bomben. Und der Leiter der sozialdemokratischen Jugendbewegung sagt es sehr schön: Wir wollen Utoya, also diese Insel, wo das Fürchterliche geschehen ist, wollen wir zurückerobern, wir lassen uns das nicht wegnehmen. Und es fragt sich aber, ob man wirklich auch so offen ... Also, in Oslo konnte man ja oft eigentlich einen Minister einfach allein gehen sehen, in einem Geschäft und so. Das muss vielleicht geändert werden. Aber alle Parteien sind sich jetzt darüber einig: Es ist wichtig, sehr wichtig, dass Norwegen als eine offene freundliche Gesellschaft wirklich behalten wird.
Brink: Er kam aus dem Nichts, das haben viele Medien getitelt. Aber der Attentäter kam ja nicht aus dem Nichts, sondern er war verankert in einer – das wissen wir zumindest – islamfeindlichen Szene, er hatte einen rechtsextremen, christlich-fundamentalistischen Hintergrund. Haben Sie eine Erklärung, warum das in Ihrem Land passiert ist?
Sandvik: Nein, das ist ein Rätsel. Also, dieser Mensch war vielleicht ein Einzelgänger, aber intelligent, gut ausgebildet, ein gelungener Kaufmann vom Westteil der Stadt, von einer guten Familie und so weiter. Und das ist etwas, er hat ja ein Memorandum veröffentlicht im Internet mit verwirrten Gedanken. Und wir sind nun eigentlich froh oder dankbar – das ist fürchterlich zu sagen –, dass es kein Muslim oder Islamist oder Terrorist war, sondern ein Norweger. Nur, deshalb müssen wir uns selbst Gedanken machen, wie überhaupt so etwas möglich ist in Norwegen. Und das ist vorläufig total rätselhaft.
Brink: Denken Sie denn, das ist eine Einzelmeinung?
Sandvik: Ja. Also seine Meinung, er hat kein Netzwerk oder keine Freunde, die so was mit ihm teilen. Also, vorläufig sieht es so aus, dass er total alleine war.
Brink: Wie ausgeprägt sind denn die rechten Strömungen in Norwegen?
Sandvik: Da waren Anfang der 90er-Jahre einige Neonazis. Die haben zum Beispiel ein paar, drei, vier Kirchenbrände angestiftet, zum Beispiel die Holmenkollen-Kapelle wurde abgebrannt. Sie wird jetzt wieder aufgebaut und es war sehr still um die Rechtsradikalen in den letzten zehn Jahren. Und die Polizei hat also auch ziemlich genau kontrolliert und wusste eigentlich alles. Und deshalb kam er ja wahrscheinlich ... Er war Mitglied der Freimaurerloge, Kaufmann, hat sich dann einen kleinen Bauernhof gekauft und so weiter. Also total unerwartet.
Brink: Norwegens Premierminister, Sie haben es erwähnt, Jens Stoltenberg sagte ja im Trauergottesdienst am Sonntag, noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben, unsere Antwort lautet Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit. Wenn Sie jetzt in die Kirche gehen, was hören Sie von den Leuten: dass diese multikulturelle Gesellschaft unbedingt aufrechterhalten werden muss in Norwegen? Wie reagieren die Menschen?
Sandvik: Ja. Also, Fremdenfeindlichkeit wird von der Kirche angegriffen und ziemlich ... Das liegt im Toleranzbegriff eines norwegischen Menschen, dass die Fremden da sind und freundlich zu empfangen sind. Man sollte sie vielleicht recht schön informieren und auch missionieren, wenn es möglich ist, aber eine farbenfrohe Gesellschaft, … , das wollen wir auch haben. Und wir haben ja viele Adoptivkinder aus anderen Ländern. Ich war auf einer Ferieninsel jetzt und da sind vier schwarze Jungen Norweger, die sprechen fließend Norwegisch. Sie sind eigentlich Afrikaner, aber jetzt wirklich Norweger. Und Chinesen und alles ... Das fällt eigentlich auf in Oslo, dass viele aus anderen Ländern da sind als unsere neuen Landsleute.
Brink: Björn Sandvik, Pfarrer im Ruhestand in Oslo. Herr Sandvik, herzlichen Dank für das Gespräch!
Sandvik: Ja, ich freue mich, dass ich einen Dienst für deutsche Zuhörer machen konnte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen
Björn Sandvik: Ja, guten Tag!
Brink: Sie sind zwar Pfarrer im Ruhestand, waren aber gestern in der Kirche und sind es sicherlich heute auch noch. Was erleben Sie?
Sandvik: Wir erleben das, wenn wir die Kirchentüren öffnen, dann kommen Menschen, um einfach in der Stille zu sitzen und Kerzen anzuzünden. Wir sagen dazu, das ist ein wortloses Gebet.
Brink: Wie tief greifend ist der Schock in Norwegen?
Sandvik: Er ist sehr tief greifend. Also, diese gelassene Sommerstimmung, Urlaub – die Hälfte der Bevölkerung ist im Urlaub, weg von Oslo hier –, und dann plötzlich ist auf einmal alles anders. Soldaten in der Stadt und Glassplitter überall und das Regierungsgebäude muss vielleicht abgerissen werden und so weiter, und so fort. Das ist ein fürchterlicher Schock. Und das hat irgendwie die ganze Nation gelähmt, also man weiß nicht, wohin mit seinen Gedanken und Gefühlen. Und dann ist es gut, dass die Kirche da ist. Und man sagt ja auch, dass Norwegen ziemlich säkularisiert ist, aber tiefen lutherischen Wurzeln, sagen wir, die stehen dann fest in dieser Katastrophensituation.
Brink: Sind denn diese Attentate auch ein Angriff auf, ich sage mal, das norwegische Ideal einer transparenten, gutgläubigen Gesellschaft, einer multikulturellen Gesellschaft?
Sandvik: Ja, also, das muss eigentlich so aufgefasst werden. Und unser Staatsminister Stoltenberg hat gesagt, wir lassen uns das nicht nehmen. Wir lassen uns nicht zur Ruhe und zum Schweigen bomben. Und der Leiter der sozialdemokratischen Jugendbewegung sagt es sehr schön: Wir wollen Utoya, also diese Insel, wo das Fürchterliche geschehen ist, wollen wir zurückerobern, wir lassen uns das nicht wegnehmen. Und es fragt sich aber, ob man wirklich auch so offen ... Also, in Oslo konnte man ja oft eigentlich einen Minister einfach allein gehen sehen, in einem Geschäft und so. Das muss vielleicht geändert werden. Aber alle Parteien sind sich jetzt darüber einig: Es ist wichtig, sehr wichtig, dass Norwegen als eine offene freundliche Gesellschaft wirklich behalten wird.
Brink: Er kam aus dem Nichts, das haben viele Medien getitelt. Aber der Attentäter kam ja nicht aus dem Nichts, sondern er war verankert in einer – das wissen wir zumindest – islamfeindlichen Szene, er hatte einen rechtsextremen, christlich-fundamentalistischen Hintergrund. Haben Sie eine Erklärung, warum das in Ihrem Land passiert ist?
Sandvik: Nein, das ist ein Rätsel. Also, dieser Mensch war vielleicht ein Einzelgänger, aber intelligent, gut ausgebildet, ein gelungener Kaufmann vom Westteil der Stadt, von einer guten Familie und so weiter. Und das ist etwas, er hat ja ein Memorandum veröffentlicht im Internet mit verwirrten Gedanken. Und wir sind nun eigentlich froh oder dankbar – das ist fürchterlich zu sagen –, dass es kein Muslim oder Islamist oder Terrorist war, sondern ein Norweger. Nur, deshalb müssen wir uns selbst Gedanken machen, wie überhaupt so etwas möglich ist in Norwegen. Und das ist vorläufig total rätselhaft.
Brink: Denken Sie denn, das ist eine Einzelmeinung?
Sandvik: Ja. Also seine Meinung, er hat kein Netzwerk oder keine Freunde, die so was mit ihm teilen. Also, vorläufig sieht es so aus, dass er total alleine war.
Brink: Wie ausgeprägt sind denn die rechten Strömungen in Norwegen?
Sandvik: Da waren Anfang der 90er-Jahre einige Neonazis. Die haben zum Beispiel ein paar, drei, vier Kirchenbrände angestiftet, zum Beispiel die Holmenkollen-Kapelle wurde abgebrannt. Sie wird jetzt wieder aufgebaut und es war sehr still um die Rechtsradikalen in den letzten zehn Jahren. Und die Polizei hat also auch ziemlich genau kontrolliert und wusste eigentlich alles. Und deshalb kam er ja wahrscheinlich ... Er war Mitglied der Freimaurerloge, Kaufmann, hat sich dann einen kleinen Bauernhof gekauft und so weiter. Also total unerwartet.
Brink: Norwegens Premierminister, Sie haben es erwähnt, Jens Stoltenberg sagte ja im Trauergottesdienst am Sonntag, noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben, unsere Antwort lautet Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit. Wenn Sie jetzt in die Kirche gehen, was hören Sie von den Leuten: dass diese multikulturelle Gesellschaft unbedingt aufrechterhalten werden muss in Norwegen? Wie reagieren die Menschen?
Sandvik: Ja. Also, Fremdenfeindlichkeit wird von der Kirche angegriffen und ziemlich ... Das liegt im Toleranzbegriff eines norwegischen Menschen, dass die Fremden da sind und freundlich zu empfangen sind. Man sollte sie vielleicht recht schön informieren und auch missionieren, wenn es möglich ist, aber eine farbenfrohe Gesellschaft, … , das wollen wir auch haben. Und wir haben ja viele Adoptivkinder aus anderen Ländern. Ich war auf einer Ferieninsel jetzt und da sind vier schwarze Jungen Norweger, die sprechen fließend Norwegisch. Sie sind eigentlich Afrikaner, aber jetzt wirklich Norweger. Und Chinesen und alles ... Das fällt eigentlich auf in Oslo, dass viele aus anderen Ländern da sind als unsere neuen Landsleute.
Brink: Björn Sandvik, Pfarrer im Ruhestand in Oslo. Herr Sandvik, herzlichen Dank für das Gespräch!
Sandvik: Ja, ich freue mich, dass ich einen Dienst für deutsche Zuhörer machen konnte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen