"Das ist ein ganz wichtiger Moment für Irland"

Hugo Hamilton im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.06.2010
Am 30. Januar 1972 hatten britische Soldaten in Nordirland katholische Demonstranten erschossen. Für die Angehörigen der Getöteten sei die Entschuldigung des Premiers wichtiger als eine finanzielle Entschädigung, sagt der irische Schriftsteller Hugo Hamilton.
Dieter Kassel: Es ist Zufall, dass ausgerechnet heute in der Woche noch, in der der britische Premierminister David Cameron sich für den sogenannten "Blutsonntag" in Nordirland offiziell entschuldigt hat. Dass in dieser Woche auch noch in Deutschland ein Film in die Kinos kommt, der anhand einer wahren Begebenheit ziemlich deutlich zeigt, wie schwer es ist, sich zwischen Rache und Vergebung zu entscheiden. Es ist ein Film des deutschen Regisseurs Oliver Hirschbiegel, der Film heißt "Five Minutes of Heaven". (...) Dieser Film kommt in Deutschland heute in einige Kinos. Hugo Hamilton aber hat ihn sogar schon gesehen. Hamilton ist in der Republik Irland aufgewachsen, war zuerst Journalist, hat dann ab Anfang der 1990er-Jahre Romane geschrieben, viel Erfolg damit gehabt. Besonders erfolgreich waren aber die beiden Bücher über seine eigene Jugend als Sohn eines ziemlich nationalistischen irischen Vaters und einer deutschen Mutter. Diese beiden Bücher sind in Deutschland unter den Titeln "Gescheckte Menschen" und "Der Matrose im Schrank" auch sehr erfolgreich gewesen. Hugo Hamilton macht gerade Urlaub in Spanien, ist aber da extra für uns früh aufgestanden. Guten Morgen, Herr Hamilton!

Hugo Hamilton: Guten Morgen!

Kassel: Man hat in diesem Film gesehen oder kann das sehen, wie schwer das ist, sich zu entscheiden manchmal zwischen Rache und zwischen Verzeihen. In dieser Woche gab es nun diese Entschuldigung von David Cameron. Was meinen Sie, macht so eine Entschuldigung das Verzeihen jetzt eher leichter oder eher schwerer?

Hamilton: Ja, ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Moment für Irland. Das ist Teil des Friedensabkommens von 1998, dass nicht nur die Iren selber diese Versöhnung entgegennehmen, sondern dass auch die britische Regierung ihre Fehler eingesteht. Und das war ganz wichtig. Und es trifft einen tief ins Herz, zu sehen, wie die Leute, die Verwandten von den Opfern von dem "Blutsonntag" diese Entschuldigung hören konnten nach 38 Jahren.

Kassel: Ist das denn nun das Ende dieses Teils der Geschichte oder ist das erst der Anfang, muss da jetzt so etwas passieren wie vielleicht – Sie haben die Angehörigen erwähnt – wie vielleicht Entschädigungen?

Hamilton: Das ist möglich, dass Leute noch vor Gericht kommen oder dass Entschädigung für die Verwandten ausgeteilt wird. Aber für die Leute ist das nicht so wichtig. Für die Leute ist es zuerst wichtig, dass die 14 jungen Menschen, die da am "Blutsonntag" getötet oder ermordet wurden, dass die freigesprochen sind. Bis jetzt, 38 Jahre lang, behaupteten die Soldaten und die öffentliche Meinung, dass die auch Waffen in der Hand gehabt hatten zu der Zeit. Also für die Verwandten ist das sehr wichtig, diese Freisprechung.

Kassel: Das sind natürlich die Verwandten von katholischen Nordiren. Was bedeutet denn dieser Untersuchungsbericht und diese sehr, sehr eindeutige Entschuldigung – Cameron hat ja gesagt, es gab überhaupt keine Rechtfertigung für diese Schüsse – was bedeutet die denn für die Protestanten in Nordirland?

Hamilton: Ja, für die Protestanten ist das etwas schwieriger, weil sie meinen, die Katholiken bekommen jetzt alles, sie gewinnen aus diesem Friedensprozess. Aber ich glaube, für den Friedensprozess ist das von allen Seiten wichtig, sich selbst ins Herz zu schauen. Und für England ist es wichtig, für die britische Regierung, für die Leute in Großbritannien, zu wissen, dass am "Blutsonntag" ein ganz großer Fehler gemacht worden ist, indem sie der IRA und den Provos die Waffe in die Hand gelegt haben. Die 30 Jahre Krieg wären vielleicht vermieden worden.

Kassel: Nun ist aber doch das Problem immer schon genau das gewesen, was Sie gerade beschrieben haben, Herr Hamilton, auch schon vor Beginn des Bürgerkrieges, Konflikte gab es schon vorher und auch noch nach 1998. Seit dem Good Friday Agreement ist es doch immer so: Wenn man den Katholiken Gerechtigkeit widerfahren lässt, dann fühlen sich die Protestanten ungerecht behandelt. Lässt man den Protestanten Gerechtigkeit widerfahren, fühlen sich die Katholiken schlecht behandelt.

Hamilton: Ja, das ist die Großzügigkeit des Friedensabkommens, dass jeder barmherzig und großzügig zueinander ist. In 1972, als der "Blutsonntag" stattgefunden hat, war es ein ganz anderes Milieu in Nordirland. Da war dieser Hass und diese Hilflosigkeit. Ich kann mich gut daran erinnern, dass sich in ganz Irland diese Art Hilflosigkeit verbreitet hat. Und man wusste nicht, was passieren sollte. Man sagte zueinander, jetzt geht es wirklich los hier in Irland, jetzt gibt es Krieg. Und das wurde nicht gesehen, dass diese Leute ganz ungerecht getötet wurden.

Kassel: Wie ist es denn heute in der Republik Irland? Haben sich die meisten Iren damit abgefunden, dass das Karfreitagsarrangement ja auch bedeutet, dass Nordirland eine Region bleibt, die nicht zur Republik gehört – das ist ja Teil der Vereinbarung, das ist natürlich nicht Großbritannien, aber es ist auch weiterhin nicht die Republik Irland –, haben sich die Iren damit abgefunden?

Hamilton: Ja, schon längst. Ich glaube, schon in den 70er-Jahren gab es ein ganzes, eine geschulte Schicht von Leuten in Irland, die überhaupt nichts mit dem Krieg zu tun haben wollten. Es gab dann auch noch immer diese Rache gegen England. Es gab es in den Liedern, man konnte es überall hören, und es gab die Art ständige Anklage gegen England – über die Hungersnot, über den Freiheitskampf, alles Mögliche wurde den Engländern noch angerechnet. Aber das hat sich sehr geändert.

Kassel: Würden Sie denn, wenn Sie sagen, es hat sich so stark geändert, würden Sie denn jetzt das Verhältnis zwischen der Republik Irland und zwischen Großbritannien als ein ganz normales Verhältnis zwischen zwei Staaten betrachten?

Hamilton: Ich würde sagen ja. In den 70er-Jahren gab es dieses große Misstrauen zwischen England und Irland. Die Iren, die in London arbeiteten, fühlten sich sehr ängstlich, die Engländer, die nach Irland kamen, fühlten sich nicht wohl. Also das hat sich sehr viel geändert jetzt. Und das Friedensabkommen von '98 war sehr wichtig. Und dieser Bericht über den "Blutsonntag" ist Teil davon – dass die Engländer sehen und dass die Welt jetzt eindeutig sieht, was für ein großer Fehler das war. Was kann man von den Terroristen, von den IRA erwarten, wenn die britische Armee sich auch nicht gut verhält.

Kassel: Sagt Hugo Hamilton, der irische Schriftsteller über den Nordirlandkonflikt und die Lage jetzt im Jahr 2010, die Lage ein paar Tage nachdem der britische Premierminister sich für den "Blutsonntag" 1972 offiziell entschuldigt hat. Hugo Hamiltons letztes Buch in deutscher Sprache – auf Englisch gibt es schon wieder ein anderes – heißt "Legenden". Dieser Roman ist erhältlich in Deutschland, genauso wie viele andere seiner Bücher. Er selber macht aber eigentlich gerade Urlaub, deshalb erst recht herzlichen Dank, Herr Hamilton, und noch einen schönen Tag in Spanien!

Hamilton: Vielen Dank!
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