"Das ist gegen die Verfassung"
Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) hat die Bundesregierung aufgefordert, sich von den Äußerungen von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) zum Abschuss entführter Zivilflugzeuge zu distanzieren. Die Tötung Unschuldiger sei Totschlag und damit Verfassungsbruch. Zugleich lehnte Baum eine Grundgesetzänderung zum Einsatz der Bundeswehr im Innern ab.
Leonie March: Trotz Rücktrittsforderungen und harscher Kritik im Bundestag, Verteidigungsminister Jung nimmt weder von seinen Äußerungen Abstand, noch korrigiert er sie. Er bleibt dabei, im Notfall den Befehl zum Abschuss eines entführten Flugzeuges zu geben. Außerdem fordert er eine Grundgesetzänderung. Die rechtliche Lage sei eindeutig nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz, meinen dagegen die Kritiker. Der Minister kündige an, gegen die Verfassung zu verstoßen. Über die rechtliche Lage habe ich mit dem ehemaligen Bundesinnenminister, dem FDP-Innenexperten Gerhart Baum gesprochen, und ich habe ihn zuerst gefragt, ob der Verteidigungspolitiker bewusst Ängste schürt, mit Angst also Politik macht.
Gerhart Baum: Ja, also er suggeriert natürlich, dass ein solcher Tathergang jetzt irgendwo bevorsteht, also dass man damit rechnen muss, und kündigt an, dass er ein Verbrechen begehen will, nämlich einen Totschlag befehlen will, denn die Tötung von unschuldigen Menschen in einem Flugzeug ist Totschlag. Das ist gegen die Verfassung. Das Verfassungsgericht hat ganz deutlich gesagt, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes absolut dagegen steht, Menschen zu opfern. Diese Möglichkeit kennt unser Rechtssystem und unser Wertesystem nicht.
March: Die FDP-Fraktion im Bundestag will ja einen Missbilligungsantrag gegen Jung stellen. Reicht das oder muss der Minister zurücktreten?
Baum: Wissen Sie, ich beteilige mich schon lange nicht mehr an irgendwelchen Rücktrittsdiskussionen. Für mich ist es nur wichtig jetzt, dass das im Bewusstsein bleibt: Hier ist ein Minister, also ein Mensch, der einem Verfassungsorgan, nämlich der Bundesregierung angehört und auf die Verfassung vereidigt ist, im Konflikt mit der Verfassung. Und das ist irgendwo eine Kraftprobe zwischen dem Verfassungsgericht und diesem Minister. Ich halte das für einen ganz unerträglichen Zustand. Die Regierung muss jetzt sagen, dass sie dem Minister auf diesem Wege nicht folgt. Das vermisse ich.
Denn was der Minister macht, auch in der Ankündigung, sich in übergesetzlichen Notstand zu retten, das ist ja kein Ausweg. Und er steht auch nicht zwischen der Entscheidung, Leben und Tod nun abzuwägen, denn er entscheidet sich ja in jedem Fall für den Tod der Passagiere. Es ist auch völlig abwegig anzunehmen, man könne mit einer Verfassungsänderung diese Situation regeln. Das ist ausgeschlossen nach dem Urteil. Für diese Art von Fällen gibt es keine andere Regelung.
March: Hinter den Vorschlägen des Verteidigungsministers, eine gesetzliche Grundlage für den Abschuss entführter Flugzeuge im Notfall zu schaffen, steht ja genau das, nämlich dass der Rechtsstaat auf jeden möglichen Terrorangriff optimal vorbereitet ist. Kann er das denn hiermit?
Baum: Er ist optimal vorbereitet, indem er das todgeweihte Leben genauso schützt wie das andere Leben. Wir haben nicht nur die Rechtsfragen hier, sondern wir haben auch sehr schwerwiegende Fragen tatsächlicher Art. Wer identifiziert denn ein solches Flugzeug? Was machen wir mit einem Verrückten, der aus einem Flugzeug so was ankündigt? Schießen wir dann ab? Wir haben im Jahre 2004 250 Alarmfälle in der Bundesrepublik gehabt, wo Flugzeuge nicht mehr unter Kontrolle waren. Es sind mehrfach schon Tornados aufgestiegen. Das alles ist ja im tatsächlichen Bereich alles noch schwierig, abgesehen von dem grundgesetzlichen Bereich, den ich eben erwähnt habe.
March: Jung argumentiert ja, ohne eine Grundgesetzänderung wäre der Rechtsstaat einem vergleichbaren Terrorangriff wie dem am 11. September 2001 in den USA hilflos ausgeliefert. Stimmt das denn?
Baum: Nein. Den 11. September hätte man auf diese Weise durch Abfangjäger überhaupt nicht verhindern können. Und wir müssen auch in solchen Situationen die Grundlagen unserer Verfassung beachten. Und die Verfassung sagt uns, der Staat schützt das Leben. Und das Leben darf nicht zahlenmäßig gegen anderes Leben aufgerechnet werden. Diese Entscheidung ist so eindeutig, eine Entscheidung zum Lebensschutz, und so klar, dass mich die ganze Diskussion verwundert und ich frage mich, von welchen Juristen wird eigentlich der Verteidigungsminister beraten.
March: Der Koalitionspartner SPD wehrt sich zwar auch gegen die Art des Vorstoßes Jungs, allerdings will auch sie laut Koalitionsvertrag den Grundgesetzartikel 35 überprüfen, in dem es um den möglichen Einsatz der Streitkräfte bei, so heißt es, einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall geht. Müssen hier auch Terroranschläge explizit genannt werden?
Baum: Also die Bundeswehr kann nicht sozusagen der verlängerte Arm der Polizei sein. Wir haben eine ganz klare Situation, Kriminalität wird durch die Polizei, also durch die Sicherheitskräfte bekämpft. Die Bundeswehr hat nach der Verfassung Aufgaben bei Naturkatastrophen und ähnlichen Fällen. Also dort, wo sie bewährterweise schon eingesetzt worden ist, wird man das vernünftigerweise weiter tun, aber sie kann nicht jetzt eine Rolle spielen in einem Quasi-Verteidigungsfall. Herr Schäuble will ja für diesen Fall einen Verteidigungsfall konstruieren. Er sagt, dann sind wir eben im Krieg. Und das ist eine fatale Entwicklung, denn im Krieg gelten die rechtsstaatlichen Kautelen nicht mehr. Dann ist möglicherweise auch das Bürgeropfer gerechtfertigt. Das ist die Theorie des Ausnahmezustandes, wie sie von dem Nazi-Wegbegleiter Carl Schmitt vertreten worden ist in den 20er Jahren.
March: Heißt das also, Terroristen sollten genauso wie andere Straftäter behandelt werden, und zwar von Polizei und Verfassungsschutz und nicht von der Bundeswehr?
Baum: Ja, so heißt es, und wir wollen uns doch nicht auf den Weg begeben, den Bush eingeschlagen hat, wo er den Kampf gegen den Terror in Krieg umgedeutet hat und einen vermeintlichen Notstand ausgerufen hat, der dann zu einem Ausnahmezustand wurde. Die Bundeswehr darf hier nicht sozusagen in der Bekämpfung der Kriminalität zum Kriegführen herbeigerufen werden, das geht nicht.
March: Nun wird ja in den letzten Wochen und Monaten wieder viel über die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus gesprochen, wieder wird über die Verschärfung der Sicherheitsgesetze diskutiert. Sollte man nicht lieber die bestehenden Gesetze auf den Prüfstand stellen?
Baum: Ja, vor allen Dingen vernünftig anwenden. Es ist ja so, dass wir einen Fahndungserfolg hatten. Die sogenannten Sauerlandtäter sind gefasst worden. Man kann die Sicherheitskräfte ja nur beglückwünschen zu diesem Erfolg. Aber was machen wir? Wir diskutieren wieder streitig über neue gesetzliche Regelungen, die angeblich unbedingt notwendig sind, wie die heimliche Online-Durchsuchung. Es ist eine fatale Neigung der Deutschen, nach jedem Fall dieser Art immer wieder gleich Gesetzesänderungen zu diskutieren. Sie haben völlig Recht, man sollte die Gesetze anwenden, die wir haben, und wir haben ein umfangreiches Antiterror-Instrumentarium, und man sollte sie eben anwenden.
March: Sie, Herr Baum, waren ja von 1972 bis ‛78 parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium und anschließend für vier Jahre selbst Bundesinnenminister. Damals stand der Kampf gegen die RAF im Mittelpunkt. Auch damals wurden Ausnahmegesetze eingeführt. War das der Beginn der Entwicklung, über die wir gerade gesprochen haben?
Baum: Das kann man sagen, obwohl die Verfassung damals nicht verletzt wurde. Es gibt also keinen Fall, wo das Verfassungsgericht eine Maßnahme aufgehoben hätte, während das Verfassungsgericht in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Entscheidungen gegen die Politik getroffen hat. Ich erinnere nur an die Entscheidung zum Lauschangriff, an die Entscheidung zur Rasterfahndung, das Luftsicherheitsgesetz, auch noch andere Gesetze. Das heißt also, die Politiker sind dazu übergegangen, jetzt die Belastbarkeit unserer Verfassung zu erproben, und das ist eine fatale Situation.
Gerhart Baum: Ja, also er suggeriert natürlich, dass ein solcher Tathergang jetzt irgendwo bevorsteht, also dass man damit rechnen muss, und kündigt an, dass er ein Verbrechen begehen will, nämlich einen Totschlag befehlen will, denn die Tötung von unschuldigen Menschen in einem Flugzeug ist Totschlag. Das ist gegen die Verfassung. Das Verfassungsgericht hat ganz deutlich gesagt, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes absolut dagegen steht, Menschen zu opfern. Diese Möglichkeit kennt unser Rechtssystem und unser Wertesystem nicht.
March: Die FDP-Fraktion im Bundestag will ja einen Missbilligungsantrag gegen Jung stellen. Reicht das oder muss der Minister zurücktreten?
Baum: Wissen Sie, ich beteilige mich schon lange nicht mehr an irgendwelchen Rücktrittsdiskussionen. Für mich ist es nur wichtig jetzt, dass das im Bewusstsein bleibt: Hier ist ein Minister, also ein Mensch, der einem Verfassungsorgan, nämlich der Bundesregierung angehört und auf die Verfassung vereidigt ist, im Konflikt mit der Verfassung. Und das ist irgendwo eine Kraftprobe zwischen dem Verfassungsgericht und diesem Minister. Ich halte das für einen ganz unerträglichen Zustand. Die Regierung muss jetzt sagen, dass sie dem Minister auf diesem Wege nicht folgt. Das vermisse ich.
Denn was der Minister macht, auch in der Ankündigung, sich in übergesetzlichen Notstand zu retten, das ist ja kein Ausweg. Und er steht auch nicht zwischen der Entscheidung, Leben und Tod nun abzuwägen, denn er entscheidet sich ja in jedem Fall für den Tod der Passagiere. Es ist auch völlig abwegig anzunehmen, man könne mit einer Verfassungsänderung diese Situation regeln. Das ist ausgeschlossen nach dem Urteil. Für diese Art von Fällen gibt es keine andere Regelung.
March: Hinter den Vorschlägen des Verteidigungsministers, eine gesetzliche Grundlage für den Abschuss entführter Flugzeuge im Notfall zu schaffen, steht ja genau das, nämlich dass der Rechtsstaat auf jeden möglichen Terrorangriff optimal vorbereitet ist. Kann er das denn hiermit?
Baum: Er ist optimal vorbereitet, indem er das todgeweihte Leben genauso schützt wie das andere Leben. Wir haben nicht nur die Rechtsfragen hier, sondern wir haben auch sehr schwerwiegende Fragen tatsächlicher Art. Wer identifiziert denn ein solches Flugzeug? Was machen wir mit einem Verrückten, der aus einem Flugzeug so was ankündigt? Schießen wir dann ab? Wir haben im Jahre 2004 250 Alarmfälle in der Bundesrepublik gehabt, wo Flugzeuge nicht mehr unter Kontrolle waren. Es sind mehrfach schon Tornados aufgestiegen. Das alles ist ja im tatsächlichen Bereich alles noch schwierig, abgesehen von dem grundgesetzlichen Bereich, den ich eben erwähnt habe.
March: Jung argumentiert ja, ohne eine Grundgesetzänderung wäre der Rechtsstaat einem vergleichbaren Terrorangriff wie dem am 11. September 2001 in den USA hilflos ausgeliefert. Stimmt das denn?
Baum: Nein. Den 11. September hätte man auf diese Weise durch Abfangjäger überhaupt nicht verhindern können. Und wir müssen auch in solchen Situationen die Grundlagen unserer Verfassung beachten. Und die Verfassung sagt uns, der Staat schützt das Leben. Und das Leben darf nicht zahlenmäßig gegen anderes Leben aufgerechnet werden. Diese Entscheidung ist so eindeutig, eine Entscheidung zum Lebensschutz, und so klar, dass mich die ganze Diskussion verwundert und ich frage mich, von welchen Juristen wird eigentlich der Verteidigungsminister beraten.
March: Der Koalitionspartner SPD wehrt sich zwar auch gegen die Art des Vorstoßes Jungs, allerdings will auch sie laut Koalitionsvertrag den Grundgesetzartikel 35 überprüfen, in dem es um den möglichen Einsatz der Streitkräfte bei, so heißt es, einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall geht. Müssen hier auch Terroranschläge explizit genannt werden?
Baum: Also die Bundeswehr kann nicht sozusagen der verlängerte Arm der Polizei sein. Wir haben eine ganz klare Situation, Kriminalität wird durch die Polizei, also durch die Sicherheitskräfte bekämpft. Die Bundeswehr hat nach der Verfassung Aufgaben bei Naturkatastrophen und ähnlichen Fällen. Also dort, wo sie bewährterweise schon eingesetzt worden ist, wird man das vernünftigerweise weiter tun, aber sie kann nicht jetzt eine Rolle spielen in einem Quasi-Verteidigungsfall. Herr Schäuble will ja für diesen Fall einen Verteidigungsfall konstruieren. Er sagt, dann sind wir eben im Krieg. Und das ist eine fatale Entwicklung, denn im Krieg gelten die rechtsstaatlichen Kautelen nicht mehr. Dann ist möglicherweise auch das Bürgeropfer gerechtfertigt. Das ist die Theorie des Ausnahmezustandes, wie sie von dem Nazi-Wegbegleiter Carl Schmitt vertreten worden ist in den 20er Jahren.
March: Heißt das also, Terroristen sollten genauso wie andere Straftäter behandelt werden, und zwar von Polizei und Verfassungsschutz und nicht von der Bundeswehr?
Baum: Ja, so heißt es, und wir wollen uns doch nicht auf den Weg begeben, den Bush eingeschlagen hat, wo er den Kampf gegen den Terror in Krieg umgedeutet hat und einen vermeintlichen Notstand ausgerufen hat, der dann zu einem Ausnahmezustand wurde. Die Bundeswehr darf hier nicht sozusagen in der Bekämpfung der Kriminalität zum Kriegführen herbeigerufen werden, das geht nicht.
March: Nun wird ja in den letzten Wochen und Monaten wieder viel über die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus gesprochen, wieder wird über die Verschärfung der Sicherheitsgesetze diskutiert. Sollte man nicht lieber die bestehenden Gesetze auf den Prüfstand stellen?
Baum: Ja, vor allen Dingen vernünftig anwenden. Es ist ja so, dass wir einen Fahndungserfolg hatten. Die sogenannten Sauerlandtäter sind gefasst worden. Man kann die Sicherheitskräfte ja nur beglückwünschen zu diesem Erfolg. Aber was machen wir? Wir diskutieren wieder streitig über neue gesetzliche Regelungen, die angeblich unbedingt notwendig sind, wie die heimliche Online-Durchsuchung. Es ist eine fatale Neigung der Deutschen, nach jedem Fall dieser Art immer wieder gleich Gesetzesänderungen zu diskutieren. Sie haben völlig Recht, man sollte die Gesetze anwenden, die wir haben, und wir haben ein umfangreiches Antiterror-Instrumentarium, und man sollte sie eben anwenden.
March: Sie, Herr Baum, waren ja von 1972 bis ‛78 parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium und anschließend für vier Jahre selbst Bundesinnenminister. Damals stand der Kampf gegen die RAF im Mittelpunkt. Auch damals wurden Ausnahmegesetze eingeführt. War das der Beginn der Entwicklung, über die wir gerade gesprochen haben?
Baum: Das kann man sagen, obwohl die Verfassung damals nicht verletzt wurde. Es gibt also keinen Fall, wo das Verfassungsgericht eine Maßnahme aufgehoben hätte, während das Verfassungsgericht in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Entscheidungen gegen die Politik getroffen hat. Ich erinnere nur an die Entscheidung zum Lauschangriff, an die Entscheidung zur Rasterfahndung, das Luftsicherheitsgesetz, auch noch andere Gesetze. Das heißt also, die Politiker sind dazu übergegangen, jetzt die Belastbarkeit unserer Verfassung zu erproben, und das ist eine fatale Situation.