"Das ist ja eine verpanschte, vermanschte Geschichte geworden"
Die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff findet, dass die Jugend zu nachlässig mit der deutschen Sprache umgeht. Die Autorin, die lange in Jerusalem gelebt hat, sieht sich da als Preußin: der lockere Umgang sei nicht deutsch, glaubt die heute 80-Jährige. Das Deutsche habe sie ein Leben lang begleitet und sei ihr nun nicht mehr vertraut.
1927 wurde Angelika Schrobsdorff in Freiburg geboren, aufgewachsen ist sie dann in Berlin. 1939 emigrierte sie mit ihrer jüdischen Mutter nach Bulgarien. Später lebte sie lange in Paris und vor allem Jerusalem. 2006 kam sie nach Berlin zurück, wo sie heute ihren 80. Geburtstag feiert.
Renate Schönfelder: Viele Menschen sagen, auch die, die Ihre Bücher gelesen haben, aber die über Ihre Bücher schreiben, Sie seien ein pessimistischer Mensch. Ich habe das aus den Büchern nie gelesen. Und Sie selber sagen, Sie sind Realistin. Was stimmt denn nun?
Angelika Schrobsdorff: Mein Grundtenor ist selbstverständlich Pessimismus und schwere Melancholie. Diese Melancholie habe ich meiner Meinung nach geerbt. Denn ich war schon als Kind melancholisch. Aber was die Geschehnisse betrifft, sagen wir, die politischen oder überhaupt die Geschehnisse, da bin ich realistisch, würde ich sagen, ja.
Schönfelder: Woher kommt diese Melancholie? Vom Vater?
Schrobsdorff: Ich glaube, von meiner Großmutter.
Schönfelder: Von der Großmutter?
Schrobsdorff: Mütterlicherseits, ja. Ich sehe ihr irgendwo doch ähnlich. Mein Vater war, nein, nein, er war kein Melancholiker in dem Sinne und meine Mutter nun schon gar nicht.
Schönfelder: Der Vater, wie Sie selber auch so gesagt haben, ein preußischer Junker. Sie haben zwei Halbgeschwister. Ihre Mutter war eine lebenslustige Frau. Das kann man so sagen, eine kluge, eine offene, eine lebenslustige Frau.
Schrobsdorff: Ja, Lebensgierige Frau sogar.
Schönfelder: Lebensgierig? Was sich auch auf die Männer bezog?
Schrobsdorff: Ja. Auf alles.
Schönfelder: Da haben Sie aber auch bisschen von geerbt.
Schrobsdorff: Nein, das war etwas ganz anderes. Aber das war einfach die Verzweiflung und die Suche nach Wärme und Nähe und natürlich völlig falsch gelagert. Aber ich war sehr jung und verstand unter Leben etwas ganz Falsches und war gestrandet wie ein Fisch auf dem Trockenen und wusste nicht, wohin und was und wie.
Schönfelder: Dieses erste Buch, was Sie da andeuten, hieß "Die Herren", ist 1961 erschienen.
Schrobsdorff: Die Herren ironisch gemeint.
Schönfelder: Und die Herren waren die Männer in Ihrem Leben, wo Sie eben gesagt haben, da haben Sie Wärme gesucht. Diese vielen Männer, also allein drei Väter, drei Kinder. Das war bei Ihnen in München.
Schrobsdorff: Damals in München.
Schönfelder: Bei Ihrer Mutter in Berlin, das ist in der Tat ein Unterschied. Ihre Mutter, wie Sie in einem späteren, und ich glaube, in Ihrem dicksten Buch, aber auch in Ihrem erfolgreichsten Buch "Du bist nicht so wie andere Mütter" beschrieben haben, das ist eine Frau, die wirklich vor Lebenslust und Lebensgier, wie Sie es eben gesagt haben, fast zerspringt. Hat sie Sie auch ein Stück erdrückt damit?
Schrobsdorff: Ja, als Kind, als kleines Kind, hatte ich immer Angst, sie würde nicht mehr zurückkommen. Das war so. Sie hat mich nicht damit erdrückt. Aber die Angst, sie zu verlieren, war unendlich. Ich wusste ja nichts, habe nie etwas gewusst in meinem Leben. Aber ich habe es geahnt wie ein kleines Tier, was da abläuft. Und hatte immer Angst, habe mich in ihre Mäntel, in ihre Röcke verkrallt und wollte sie nicht gehen lassen.
Schönfelder: Also Sie haben nichts gewusst von den vielen Beziehungen, die sie hatte?
Schrobsdorff: Keine Ahnung! Ich wusste doch überhaupt nicht, was eine Beziehung ist, was zwischen Mann und Frau abläuft? Das wusste ich doch nicht.
Schönfelder: Welche Rolle spielt denn da Ihr Vater?
Schrobsdorff: Mein Vater war ein sehr ruhiger, wunderbarer, sehr in sich zurückgezogner, introvertierter Mann, der am liebsten in seiner Bibliothek mit seinem deutschen Dichtern und Denkern saß. Und er hat, glaube ich, was mich betraf, mit Kindern hatte er … Er hat mich sehr geliebt, davon bin ich überzeugt. Aber ich war ein Kind.
Schönfelder: Sie haben ihn zumindest lange Jahre verloren, als sie mit Ihrer Mutter und Ihrer Halbschwester 1939 nach Bulgarien ausgereist sind, eigentlich noch in letzter Minute, in ein Land, was Juden nicht auslieferte. Und wo Sie später oft geschrieben haben, das waren eigentlich mit die glücklichsten Jahre, die ich verbrachte habe in Bulgarien?
Schrobsdorff: Nein, nein. Ich war unglücklich wie ein verlorener Hund zunächst einmal. Habe dann auch prompt, weil ich war ein sehr schwächliches Kind eigentlich, eine Tbc bekommen. Und die dauerte, Gott sei Dank, lange. Da war ich dann ganz geschützt. Es wurde ein wenig besser, als ich in die Schule kam. Und diese bulgarischen Menschen sind ja was ganz anderes als die Deutschen. Das waren alles kleine Mütter, die mich in die Arme nahmen, die merkten, was für eine Angst und Scheu ich hatte, und dass irgendwas nicht stimmte. Und die mich behandelt haben mit der größten Fürsorge und Wärme. Und dann fand ich da auch die beste Freundin zum ersten Mal. Nein, nicht zum ersten Mal, aber doch dann in der Immigration. Jedenfalls sie war und sie blieb meine Freundin. Sie war genauso verrückt, wenn nicht verrückter als ich. Und das hat mir auch sehr, sehr geholfen. Und diese Wärme und Fürsorglichkeit, Sie hatten keinen… ich wurde nicht ausgelacht, ich wurde nicht angegriffen, und das war schön.
Schönfelder: Haben Sie die Deutschen gehasst?
Schrobsdorff: Ja. Oh, ja! Sie haben mir alles genommen.
Schönfelder: Was das auch der Grund, weswegen Sie später nach vielen Jahren in München und in Paris, wo Sie in dritter Ehe mit Claude Lanzmann verheiratet waren, auch eine Weile gelebt haben, dann, 1983, nach Israel gegangen sind? Weil Sie sagten: Ich möchte keine Deutschen mehr sehen. Ich hasse sie immer noch. War das 1983 noch so?
Schrobsdorff: Nein, 1983 - Ich war 1961 das erste Mal in Jerusalem und habe sofort eine unendliche Liebe für diese Stadt empfunden. Und damals war sie noch eine geteilte Stadt und eine sehr arme Stadt. Sie war wirklich hässlich eigentlich. Aber das Licht und die Wüste drum herum, in die ich natürlich nicht durfte. Denn es war ja geteilt. Aber ich habe sofort eine unendliche Liebe für diese Stadt empfunden. Und ich wollte eigentlich nur dort sein. Und das ging nicht aus verschiedenen Gründen. Also ich hatte meine Wohnung in München. Ich hatte meinen Sohn in München. Und ich hatte meinen ersten, wirklich sehr großen Erfolg mit diesem ersten Buch in München. Ich fand den Absprung nicht, der sehr schwer war für eine Frau allein, sehr schwer damals.
Und ich bin erst … 1970 habe ich alles zusammengepackt, die Möbel in ein Lager, nach Israel gegangen. Nach Jerusalem. Ich sage auch: Meine Heimat ist Jerusalem, nicht Israel. Nicht mehr. Und dann bin ich dorthin.
Und was wollte Gott? Dass ich Claude Lanzmann da begegne am Ende desselben Jahres. Und es war eine sehr große Liebe beiderseitig. Ich sage immer Verliebtheit, weil ich an Liebe, das glaube ich nicht bei mir. Ich glaube nicht, dass ich lieben kann. Aber auf jeden Fall das war es. Und er fuhr immer hin und her. Jeden Monat kam er nach Israel. Es war alles sehr beschwerlich.
Und dann sind wir 1973 nach New York, wo sein erster Film "Pourquoi Israel" gezeigt wurde. Und da brach, es ist eine merkwürdige Sache, der Jom-Kippur-Krieg aus. Und er sagte, er müsse sofort zurück. Und so sind wir dann wieder nach Paris zurückgefahren, noch am nächsten Tag geflogen.
Schönfelder: Eine Stadt, in der Sie sich nie wohl gefühlt haben?
Schrobsdorff: Nein. Ich habe mich in keiner Stadt wohl gefühlt.
Schönfelder: Sie haben an einer Stelle mal geschrieben … -In Jerusalem nicht?
Schrobsdorff: Das wunderschöne Paris kann nichts dafür. Das bin ich.
Schönfelder: Aber in Jerusalem haben Sie sich wohl gefühlt, zumindest eine ganz Zeit lang?
Schrobsdorff: Na, und wie! Jerusalem war alles für mich, alles, alles, alles! Und dann habe ich gesagt: Ich bleibe nicht in Paris. Ich fliege nach Jerusalem.
Schönfelder: Ein Jerusalem, was Sie, glaube ich, auch ein bisschen immer auf den Sockel gestellt haben als die Stadt, die Sie geheilt hat zusammen mit dem Schreiben.
Schrobsdorff: Immer, natürlich! Ich stelle immer alles auf einen Sockel.
Schönfelder: Wann ist der eingestürzt?
Schrobsdorff: Das kam langsam sukzessive. Aber richtig mit Karacho eingestürzt ist er mit der zweiten Intifada. Die erste Intifada, das war noch eine hoffnungsvolle Intifada.
Schönfelder: Was Sie auch immer wieder in Ihren Büchern verarbeitet haben in "Jericho", in "Jerusalem war immer schon eine schwere Adresse", ein Satz, den man, glaube ich, nur unterstreichen kann. Sie haben immer gesagt, Sie sind kein politischer Mensch, Sie sind keine politische Schriftstellerin. Aber wenn man diese Bücher liest, auch Ihr letztes Buch "Wenn ich dich je vergesse, oh Jerusalem", was wahrscheinlich nie der Fall sein wird, diese eindeutige Stellungnahme für eine nicht sehr palästinenserfreundliche Politik der Israelis.
Schrobsdorff: Sie drücken es aber milde aus!
Schönfelder: Ja, sehr diplomatisch, nicht? Äußerungen wie: Opfer können auch Täter sein. Also in dem Fall: Juden können auch Täter sein. Äußerungen, die man als Nichtjude gar nicht in den Mund nehmen dürfte, die würde ich als hoch politisch bezeichnen.
Schrobsdorff: Ich bin politisch geworden. Ich bin ein Spätentwickler in allem, ein entsetzlicher Spätentwickler. Und mein Gefühl für Politik wachte eigentlich mit der ersten Intifada auf. Hielt sich aber in Grenzen, weil da kriegten die, die Araber genannt wurden, plötzlich einen Namen. Sie wurden die Palästinenser. Und sie wurden dies und das. Und ich dachte, ich war so wahnsinnig, ich dachte, es geht gut. Jetzt kriegen wir eine neue Politik. Denkste! Und das war schön alles.
Und als ich dann merkte, wie die Sache lief und laufen würde, ich habe einen Riecher, den habe ich von meiner Mutter geerbt, da wurde es natürlich sehr wacklig bei mir. Und ich habe, das ergab sich so, Stellung für die Palästinenser genommen, obgleich das in keinster Weise mein Volk ist. Und ich bin keine große Liebhaberin von Arabern oder irgendetwas, so etwas. Es ging mir nicht darum. Es ging mir um die Gerechtigkeit. Und ich wollte auch nicht Privilegierte sein, vom Mischling ersten Grades zur Privilegierten gleich aufsteigen. Und das war wieder ganz umgekehrt, hat es mich wieder furchtbar gestört. Na, und das wurde immer schlimmer bei mir, bis ich dann wirklich sehr extrem wurde.
Schönfelder: Was hat Angelika Schrobsdorff den letzten Anstoß gegeben zu sagen: Ich kehre der Stadt, in die ich so viel Hoffnung gesetzt habe, wohl endgültig den Rücken?
Schrobsdorff: Diese furchtbare Enttäuschung, diese grauenhafte Enttäuschung. Wie Sie sagen, ich habe immer alles auf einen Sockel gestellt. Ich klammerte mich ja immer an irgendetwas, was ich glaubte mehr zu lieben als alles andere.
Schönfelder: Wer steht heute auf diesem Sockel?
Schrobsdorff: Meine Katzen.
Schönfelder: Das habe ich mir gedacht. In Jerusalem waren es, glaube ich, zum Teil bis zu 25, die Sie im Haus hatten und drum herum.
Schrobsdorff: Sie übertreiben: 18.
Schönfelder: 18. Gut. Na gut. Ich meine, auch schon eine ziemliche Menge.
Schrobsdorff: Aber die waren auf dem Dach.
Schönfelder: Wie viel haben Sie mitgebracht?
Schrobsdorff: Ich hatte drei mitgebracht. Einen Kater, der wirklich ein armseliges Tier war. Und der hat eine richtige Attacke bekommen, eine Angstattacke und ist weg. Und ich habe ihn nie wiedergefunden. Ich habe alles getan und nie wiedergefunden. Jetzt sind es zwei: Puschkin und Vicky. Puschkin ist ein alter Mann.
Schönfelder: Das heißt, er hat das Dach in dieser wunderschönen Wohnung an der Grünen Grenze in Jerusalem, wo Sie den Blick in die Wüste hatten, erlebt
Schrobsdorff: Und ich denke andauernd an die Worte meiner Mutter, die in einem Brief schrieb, dass ich mir das angetan habe. Denn sie wollte ja nicht weg aus Berlin. Das ist nicht so schlimm. Aber was ich meinen Kindern damit angetan habe, na ja, wäre sie hier geblieben, wäre es noch schlimmer geworden. Aber so hatte sie dieses Gefühl, was ich meinen Kindern damit angetan habe. Und da die Katzen meine Kinder sind, habe ich immer das Gefühl: Was habe ich meinen Kindern damit angetan.
Schönfelder: Darf man in dem Zusammenhang auch nach Ihrem wirklichen Kind, dem Sohn fragen? Haben Sie ihm auch was angetan? Wo lebt er inzwischen?
Schrobsdorff: Er lebt immer noch in der Nähe von München. Er lebt nicht in einer Stadt. Er mag die Natur. Das hat er von mir wohl geerbt. Ansonsten habe ich nichts mehr darüber zu sagen. Es ist zu schrecklich. Das war eine Enttäuschung, die ich nie verwinden werde.
Schönfelder: Eine Enttäuschung über das eigene Kind?
Schrobsdorff: Mmhmmh.
Schönfelder: Stand es auch erst auf einem Sockel?
Schrobsdorff: Nein, das nie. Das hat er mir nicht verziehen, dass er nicht auf dem Sockel stand. Für mich stand das Schreiben auf dem Sockel. Und es war mir wichtiger. Und ich habe viel Schuld. Und ich muss diese Schuld tragen. Und ich werde sie tragen bis zum Ende. Es ist ja nicht mehr weit, Gott sei Dank. Aber trotzdem: Die Enttäuschung ist unermesslich.
Schönfelder: Sie haben gar keinen Kontakt mehr?
Schrobsdorff: Ich habe ihn abgeschnitten jetzt.
Schönfelder: Das Schreiben auf dem Sockel, was Sie gesagt haben, aber das, was ich oft in den Büchern gespürt habe und auch in dem, was Sie in Interviews gesagt haben, Schreiben auch als eine lebensrettende Maßnahme für Sie selber?
Schrobsdorff: Ich habe immer für mich geschrieben. Auch, als ich schon Erfolg hatte, habe ich immer für mich weiter selber geschrieben. Ich kann keine anonyme Menge Leserinnen, oder was immer auch, sehen. Das kann ich nicht. Und ich schreibe für mich.
Schönfelder: Schreiben Sie zurzeit?
Schrobsdorff: Nein, ich kann nicht mehr.
Schönfelder: Aber das hatten Sie immer wieder in Ihrem Leben. Und dann haben Sie irgendwann trotzdem wieder angefangen?
Schrobsdorff: Ja, nun ist die Zeit etwas knapper geworden.
Schönfelder: Wollen Sie nicht mehr, können Sie nicht mehr schreiben?
Schrobsdorff: Ich mag nicht mehr. Ach so, Schreiben?
Schönfelder: Schreiben.
Schrobsdorff: Ja, ich habe keinen Schwung mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Der letzte Schritt war zu schwer.
Schönfelder: Sie meinen, der von Jerusalem nach Berlin?
Schrobsdorff: Ja. Und ich wusste nicht, dass er das letzte meiner Kraft aufbrauchen würde, dieser Schritt. Hätte ich das gewusst, ich weiß nicht, ob ich es gemacht hätte. Aber er hat es getan. Ich war ja nun auch schon alt genug. Wer macht das in einem Alter von 79 Jahren, alles abzubrechen und hierher zu kommen? In ein Land, das ich nicht mehr geliebt habe. Ich habe Berlin sehr geliebt, sehr. Es war meine Heimat.
Schönfelder: Und Sie wohnen auch jetzt wieder ganz in der Nähe, wo Sie aufgewachsen sind?
Schrobsdorff: Zufall, alles Zufall.
Schönfelder: Zufall, ja?
Schrobsdorff: Ja, man kann es Zufall nennen. Ich wusste nicht, dass der Johannaplatz um die Ecke ist.
Schönfelder: Aber gibt dieses Land nicht auch Kraft? Hier sind viele Freunde natürlich auch näher. Hier ist die Sprache, in der Sie immer geschrieben und gedacht haben.
Schrobsdorff: Das ist es, die Sprache! Ich dachte mir, ich kann ja nicht mehr neu anfangen. Dazu ist es ja zu spät. Ich kann es nur beenden. Und dann kommt eben dieser Satz. Und es ist die Sprache. Ich wollte die deutsche Sprache noch mal um mich haben. Ja, die hat sich ja nun sehr verändert. Und ich habe immer falsch gelesen und falsch ausgesprochen. Und ich war ganz verzweifelt, weil ich nicht wusste, was ist los. Das ist ja gar keine deutsche Sprache mehr. Das ist ja eine verpanschte, vermanschte Geschichte geworden.
Schönfelder: Zu viel Anglizismen?
Schrobsdorff: Das sowieso, aber wie man sie auch spricht. Ich habe noch die alte Art. Aber wenn die Jungen sprechen, dann verstehe ich sie überhaupt nicht mehr. Die nuscheln vor sich hin, leise, weiß ich was. Das nennen sie locker. Das ist nicht deutsch, locker zu sein.
Schönfelder: Sind Sie da Preußin?
Schrobsdorff: Ja! Natürlich habe ich einen großen preußischen Teil in mir.
Schönfelder: Das wäre doch eigentlich ein guter Ansatz, so wie Sie vor vielen Jahren schon mal gesagt haben: "Ich koche so vor Wut und Frustration, dass ich einerseits nicht schreiben kann". Und dann haben Sie es wieder angefangen. Wenn Sie so was hören, zu sagen: Ich setze dem was entgegen, noch ein Buch oder vielleicht spreche ich auch mal ein Buch?
Schrobsdorff: Ich spreche doch antiquarisch.
Schönfelder: Aber schön.
Schrobsdorff: Ich bitte Sie!
Schönfelder: Ist das jetzt Fishing for Compliments, um mal was Englisches zu nehmen?
Schrobsdorff: Nein, das nicht.
Schönfelder: Sie werden ja auch von vielen jüngeren Menschen gelesen. Wer einmal mit Ihren Büchern angefangen hat, denke ich, wird auch so ein Stück süchtig, mehr zu erfahren über die Autorin, aber auch über diese ganze Familie, die damit zu tun hat.
Schrobsdorff: Na ja, ich habe die Muttersprache mir bewahrt. Ich habe ja mit meiner Mutter immer deutsch gesprochen, auch in Bulgarien.
Schönfelder: Die Sprache, die Sie ihr Leben lang begleitet hat?
Schrobsdorff: Ja.
Schönfelder: Wie werden Sie Ihren Geburtstag, wie werden Sie Heiligabend verbringen? Wissen Sie das schon?
Schrobsdorff: Die bulgarische Botschaft, aber erst im Januar, weil Weihnachten ist ja eh alles tot, alles fährt weg und ist bei der Familie, was auch wahrscheinlich richtig ist, ich weiß es nicht, also gibt mir die bulgarische Botschaft einen Empfang am 16. Januar. Ich bin ihr sehr dankbar, dieser bulgarischen Botschaft. Ich habe auch mich ein bisschen eingesetzt, als ich dieses Buch "Grand Hotel Bulgaria" schrieb. Und das war dieser schreckliche Winter 1996, wo sie alle, die Pensionäre natürlich, gehungert haben und gefroren haben. Und ich hänge mehr an Bulgarien, als ich hier an Berlin hänge.
Schönfelder: Warum sind Sie dann nicht nach Bulgarien gegangen?
Schrobsdorff: Weil das auch im Aufbruch ist. Es verändert sich stündlich zu seinem Nachteil. Den ganzen balkanesischen Charme hat es bereits verloren. Das kann ich nicht noch einmal durchmachen. Außerdem würde ich da wieder zu den Privilegierten gehören.
Schönfelder: Sie möchten nicht zu den Privilegierten gehören.
Schrobsdorff: Nein.
Schönfelder: Das ist hier in Berlin, glaube ich, auch einfacher. Da können Sie so ein bisschen mitschwimmen. Sie wohnen zwar nicht in einer gerade armen Gegend, aber da fallen Sie auch nicht weiter auf. Haben Sie irgendwie Kontakt zu Nachbarn oder so?
Schrobsdorff: Doch ich falle auf als ganz junge.
Schönfelder: Und als eine, die immer noch raucht, was ab 01. Januar hier ganz verboten ist.
Schrobsdorff: Ich sitze am Fenster, und ich sehe meine Zukunft vorbeiziehen, an Stöcken und Krücken und Rollstühlen und diesen kleinen Gehsachen da.
Schönfelder: Rollatoren.
Schrobsdorff: Hm?
Schönfelder: Rollatoren. Also ich weiß nicht, was der Plural ist. Rollator heißen die jedenfalls im Singular.
Schrobsdorff: Ja, und so sehe ich sie vorbeiziehen und sage: Ah, das ist deine Zukunft. Schau hin, mein liebes Kind. Und sehr viele Autos, weil ja da die Einfahrt zur Autobahn ist. Das ist auch sehr interessant. Das ist für meine Katze Vicky sehr interessant. Die sitzt auf dem Fensterbrett und zählt die Autos. Die macht Statistiken oder irgendwas. Ja, so sitzt sie an dem einem Fenster. Wenn ich hinkomme, springt sie sofort runter, weil das hält sie für übertrieben, dass ich da auch mit ihr rausschaue. Und ich sitze am anderen und sehe meine Zukunft vorbeiziehen.
Schönfelder: Angelika Schrobsdorff, ich danke Ihnen sehr, dass Sie da waren! Und der Satz, den Sie, glaube ich, selber mal gesagt haben, jeder Mensch ist eine ganze Welt, der trifft für Sie gar nicht zu. Ich würde sagen: Angelika Schrobsdorff, das sind ganz, ganz viele Welten. Ich wünsche Ihnen alles Gute zum Geburtstag!
Schrobsdorff: Danke!
Renate Schönfelder: Viele Menschen sagen, auch die, die Ihre Bücher gelesen haben, aber die über Ihre Bücher schreiben, Sie seien ein pessimistischer Mensch. Ich habe das aus den Büchern nie gelesen. Und Sie selber sagen, Sie sind Realistin. Was stimmt denn nun?
Angelika Schrobsdorff: Mein Grundtenor ist selbstverständlich Pessimismus und schwere Melancholie. Diese Melancholie habe ich meiner Meinung nach geerbt. Denn ich war schon als Kind melancholisch. Aber was die Geschehnisse betrifft, sagen wir, die politischen oder überhaupt die Geschehnisse, da bin ich realistisch, würde ich sagen, ja.
Schönfelder: Woher kommt diese Melancholie? Vom Vater?
Schrobsdorff: Ich glaube, von meiner Großmutter.
Schönfelder: Von der Großmutter?
Schrobsdorff: Mütterlicherseits, ja. Ich sehe ihr irgendwo doch ähnlich. Mein Vater war, nein, nein, er war kein Melancholiker in dem Sinne und meine Mutter nun schon gar nicht.
Schönfelder: Der Vater, wie Sie selber auch so gesagt haben, ein preußischer Junker. Sie haben zwei Halbgeschwister. Ihre Mutter war eine lebenslustige Frau. Das kann man so sagen, eine kluge, eine offene, eine lebenslustige Frau.
Schrobsdorff: Ja, Lebensgierige Frau sogar.
Schönfelder: Lebensgierig? Was sich auch auf die Männer bezog?
Schrobsdorff: Ja. Auf alles.
Schönfelder: Da haben Sie aber auch bisschen von geerbt.
Schrobsdorff: Nein, das war etwas ganz anderes. Aber das war einfach die Verzweiflung und die Suche nach Wärme und Nähe und natürlich völlig falsch gelagert. Aber ich war sehr jung und verstand unter Leben etwas ganz Falsches und war gestrandet wie ein Fisch auf dem Trockenen und wusste nicht, wohin und was und wie.
Schönfelder: Dieses erste Buch, was Sie da andeuten, hieß "Die Herren", ist 1961 erschienen.
Schrobsdorff: Die Herren ironisch gemeint.
Schönfelder: Und die Herren waren die Männer in Ihrem Leben, wo Sie eben gesagt haben, da haben Sie Wärme gesucht. Diese vielen Männer, also allein drei Väter, drei Kinder. Das war bei Ihnen in München.
Schrobsdorff: Damals in München.
Schönfelder: Bei Ihrer Mutter in Berlin, das ist in der Tat ein Unterschied. Ihre Mutter, wie Sie in einem späteren, und ich glaube, in Ihrem dicksten Buch, aber auch in Ihrem erfolgreichsten Buch "Du bist nicht so wie andere Mütter" beschrieben haben, das ist eine Frau, die wirklich vor Lebenslust und Lebensgier, wie Sie es eben gesagt haben, fast zerspringt. Hat sie Sie auch ein Stück erdrückt damit?
Schrobsdorff: Ja, als Kind, als kleines Kind, hatte ich immer Angst, sie würde nicht mehr zurückkommen. Das war so. Sie hat mich nicht damit erdrückt. Aber die Angst, sie zu verlieren, war unendlich. Ich wusste ja nichts, habe nie etwas gewusst in meinem Leben. Aber ich habe es geahnt wie ein kleines Tier, was da abläuft. Und hatte immer Angst, habe mich in ihre Mäntel, in ihre Röcke verkrallt und wollte sie nicht gehen lassen.
Schönfelder: Also Sie haben nichts gewusst von den vielen Beziehungen, die sie hatte?
Schrobsdorff: Keine Ahnung! Ich wusste doch überhaupt nicht, was eine Beziehung ist, was zwischen Mann und Frau abläuft? Das wusste ich doch nicht.
Schönfelder: Welche Rolle spielt denn da Ihr Vater?
Schrobsdorff: Mein Vater war ein sehr ruhiger, wunderbarer, sehr in sich zurückgezogner, introvertierter Mann, der am liebsten in seiner Bibliothek mit seinem deutschen Dichtern und Denkern saß. Und er hat, glaube ich, was mich betraf, mit Kindern hatte er … Er hat mich sehr geliebt, davon bin ich überzeugt. Aber ich war ein Kind.
Schönfelder: Sie haben ihn zumindest lange Jahre verloren, als sie mit Ihrer Mutter und Ihrer Halbschwester 1939 nach Bulgarien ausgereist sind, eigentlich noch in letzter Minute, in ein Land, was Juden nicht auslieferte. Und wo Sie später oft geschrieben haben, das waren eigentlich mit die glücklichsten Jahre, die ich verbrachte habe in Bulgarien?
Schrobsdorff: Nein, nein. Ich war unglücklich wie ein verlorener Hund zunächst einmal. Habe dann auch prompt, weil ich war ein sehr schwächliches Kind eigentlich, eine Tbc bekommen. Und die dauerte, Gott sei Dank, lange. Da war ich dann ganz geschützt. Es wurde ein wenig besser, als ich in die Schule kam. Und diese bulgarischen Menschen sind ja was ganz anderes als die Deutschen. Das waren alles kleine Mütter, die mich in die Arme nahmen, die merkten, was für eine Angst und Scheu ich hatte, und dass irgendwas nicht stimmte. Und die mich behandelt haben mit der größten Fürsorge und Wärme. Und dann fand ich da auch die beste Freundin zum ersten Mal. Nein, nicht zum ersten Mal, aber doch dann in der Immigration. Jedenfalls sie war und sie blieb meine Freundin. Sie war genauso verrückt, wenn nicht verrückter als ich. Und das hat mir auch sehr, sehr geholfen. Und diese Wärme und Fürsorglichkeit, Sie hatten keinen… ich wurde nicht ausgelacht, ich wurde nicht angegriffen, und das war schön.
Schönfelder: Haben Sie die Deutschen gehasst?
Schrobsdorff: Ja. Oh, ja! Sie haben mir alles genommen.
Schönfelder: Was das auch der Grund, weswegen Sie später nach vielen Jahren in München und in Paris, wo Sie in dritter Ehe mit Claude Lanzmann verheiratet waren, auch eine Weile gelebt haben, dann, 1983, nach Israel gegangen sind? Weil Sie sagten: Ich möchte keine Deutschen mehr sehen. Ich hasse sie immer noch. War das 1983 noch so?
Schrobsdorff: Nein, 1983 - Ich war 1961 das erste Mal in Jerusalem und habe sofort eine unendliche Liebe für diese Stadt empfunden. Und damals war sie noch eine geteilte Stadt und eine sehr arme Stadt. Sie war wirklich hässlich eigentlich. Aber das Licht und die Wüste drum herum, in die ich natürlich nicht durfte. Denn es war ja geteilt. Aber ich habe sofort eine unendliche Liebe für diese Stadt empfunden. Und ich wollte eigentlich nur dort sein. Und das ging nicht aus verschiedenen Gründen. Also ich hatte meine Wohnung in München. Ich hatte meinen Sohn in München. Und ich hatte meinen ersten, wirklich sehr großen Erfolg mit diesem ersten Buch in München. Ich fand den Absprung nicht, der sehr schwer war für eine Frau allein, sehr schwer damals.
Und ich bin erst … 1970 habe ich alles zusammengepackt, die Möbel in ein Lager, nach Israel gegangen. Nach Jerusalem. Ich sage auch: Meine Heimat ist Jerusalem, nicht Israel. Nicht mehr. Und dann bin ich dorthin.
Und was wollte Gott? Dass ich Claude Lanzmann da begegne am Ende desselben Jahres. Und es war eine sehr große Liebe beiderseitig. Ich sage immer Verliebtheit, weil ich an Liebe, das glaube ich nicht bei mir. Ich glaube nicht, dass ich lieben kann. Aber auf jeden Fall das war es. Und er fuhr immer hin und her. Jeden Monat kam er nach Israel. Es war alles sehr beschwerlich.
Und dann sind wir 1973 nach New York, wo sein erster Film "Pourquoi Israel" gezeigt wurde. Und da brach, es ist eine merkwürdige Sache, der Jom-Kippur-Krieg aus. Und er sagte, er müsse sofort zurück. Und so sind wir dann wieder nach Paris zurückgefahren, noch am nächsten Tag geflogen.
Schönfelder: Eine Stadt, in der Sie sich nie wohl gefühlt haben?
Schrobsdorff: Nein. Ich habe mich in keiner Stadt wohl gefühlt.
Schönfelder: Sie haben an einer Stelle mal geschrieben … -In Jerusalem nicht?
Schrobsdorff: Das wunderschöne Paris kann nichts dafür. Das bin ich.
Schönfelder: Aber in Jerusalem haben Sie sich wohl gefühlt, zumindest eine ganz Zeit lang?
Schrobsdorff: Na, und wie! Jerusalem war alles für mich, alles, alles, alles! Und dann habe ich gesagt: Ich bleibe nicht in Paris. Ich fliege nach Jerusalem.
Schönfelder: Ein Jerusalem, was Sie, glaube ich, auch ein bisschen immer auf den Sockel gestellt haben als die Stadt, die Sie geheilt hat zusammen mit dem Schreiben.
Schrobsdorff: Immer, natürlich! Ich stelle immer alles auf einen Sockel.
Schönfelder: Wann ist der eingestürzt?
Schrobsdorff: Das kam langsam sukzessive. Aber richtig mit Karacho eingestürzt ist er mit der zweiten Intifada. Die erste Intifada, das war noch eine hoffnungsvolle Intifada.
Schönfelder: Was Sie auch immer wieder in Ihren Büchern verarbeitet haben in "Jericho", in "Jerusalem war immer schon eine schwere Adresse", ein Satz, den man, glaube ich, nur unterstreichen kann. Sie haben immer gesagt, Sie sind kein politischer Mensch, Sie sind keine politische Schriftstellerin. Aber wenn man diese Bücher liest, auch Ihr letztes Buch "Wenn ich dich je vergesse, oh Jerusalem", was wahrscheinlich nie der Fall sein wird, diese eindeutige Stellungnahme für eine nicht sehr palästinenserfreundliche Politik der Israelis.
Schrobsdorff: Sie drücken es aber milde aus!
Schönfelder: Ja, sehr diplomatisch, nicht? Äußerungen wie: Opfer können auch Täter sein. Also in dem Fall: Juden können auch Täter sein. Äußerungen, die man als Nichtjude gar nicht in den Mund nehmen dürfte, die würde ich als hoch politisch bezeichnen.
Schrobsdorff: Ich bin politisch geworden. Ich bin ein Spätentwickler in allem, ein entsetzlicher Spätentwickler. Und mein Gefühl für Politik wachte eigentlich mit der ersten Intifada auf. Hielt sich aber in Grenzen, weil da kriegten die, die Araber genannt wurden, plötzlich einen Namen. Sie wurden die Palästinenser. Und sie wurden dies und das. Und ich dachte, ich war so wahnsinnig, ich dachte, es geht gut. Jetzt kriegen wir eine neue Politik. Denkste! Und das war schön alles.
Und als ich dann merkte, wie die Sache lief und laufen würde, ich habe einen Riecher, den habe ich von meiner Mutter geerbt, da wurde es natürlich sehr wacklig bei mir. Und ich habe, das ergab sich so, Stellung für die Palästinenser genommen, obgleich das in keinster Weise mein Volk ist. Und ich bin keine große Liebhaberin von Arabern oder irgendetwas, so etwas. Es ging mir nicht darum. Es ging mir um die Gerechtigkeit. Und ich wollte auch nicht Privilegierte sein, vom Mischling ersten Grades zur Privilegierten gleich aufsteigen. Und das war wieder ganz umgekehrt, hat es mich wieder furchtbar gestört. Na, und das wurde immer schlimmer bei mir, bis ich dann wirklich sehr extrem wurde.
Schönfelder: Was hat Angelika Schrobsdorff den letzten Anstoß gegeben zu sagen: Ich kehre der Stadt, in die ich so viel Hoffnung gesetzt habe, wohl endgültig den Rücken?
Schrobsdorff: Diese furchtbare Enttäuschung, diese grauenhafte Enttäuschung. Wie Sie sagen, ich habe immer alles auf einen Sockel gestellt. Ich klammerte mich ja immer an irgendetwas, was ich glaubte mehr zu lieben als alles andere.
Schönfelder: Wer steht heute auf diesem Sockel?
Schrobsdorff: Meine Katzen.
Schönfelder: Das habe ich mir gedacht. In Jerusalem waren es, glaube ich, zum Teil bis zu 25, die Sie im Haus hatten und drum herum.
Schrobsdorff: Sie übertreiben: 18.
Schönfelder: 18. Gut. Na gut. Ich meine, auch schon eine ziemliche Menge.
Schrobsdorff: Aber die waren auf dem Dach.
Schönfelder: Wie viel haben Sie mitgebracht?
Schrobsdorff: Ich hatte drei mitgebracht. Einen Kater, der wirklich ein armseliges Tier war. Und der hat eine richtige Attacke bekommen, eine Angstattacke und ist weg. Und ich habe ihn nie wiedergefunden. Ich habe alles getan und nie wiedergefunden. Jetzt sind es zwei: Puschkin und Vicky. Puschkin ist ein alter Mann.
Schönfelder: Das heißt, er hat das Dach in dieser wunderschönen Wohnung an der Grünen Grenze in Jerusalem, wo Sie den Blick in die Wüste hatten, erlebt
Schrobsdorff: Und ich denke andauernd an die Worte meiner Mutter, die in einem Brief schrieb, dass ich mir das angetan habe. Denn sie wollte ja nicht weg aus Berlin. Das ist nicht so schlimm. Aber was ich meinen Kindern damit angetan habe, na ja, wäre sie hier geblieben, wäre es noch schlimmer geworden. Aber so hatte sie dieses Gefühl, was ich meinen Kindern damit angetan habe. Und da die Katzen meine Kinder sind, habe ich immer das Gefühl: Was habe ich meinen Kindern damit angetan.
Schönfelder: Darf man in dem Zusammenhang auch nach Ihrem wirklichen Kind, dem Sohn fragen? Haben Sie ihm auch was angetan? Wo lebt er inzwischen?
Schrobsdorff: Er lebt immer noch in der Nähe von München. Er lebt nicht in einer Stadt. Er mag die Natur. Das hat er von mir wohl geerbt. Ansonsten habe ich nichts mehr darüber zu sagen. Es ist zu schrecklich. Das war eine Enttäuschung, die ich nie verwinden werde.
Schönfelder: Eine Enttäuschung über das eigene Kind?
Schrobsdorff: Mmhmmh.
Schönfelder: Stand es auch erst auf einem Sockel?
Schrobsdorff: Nein, das nie. Das hat er mir nicht verziehen, dass er nicht auf dem Sockel stand. Für mich stand das Schreiben auf dem Sockel. Und es war mir wichtiger. Und ich habe viel Schuld. Und ich muss diese Schuld tragen. Und ich werde sie tragen bis zum Ende. Es ist ja nicht mehr weit, Gott sei Dank. Aber trotzdem: Die Enttäuschung ist unermesslich.
Schönfelder: Sie haben gar keinen Kontakt mehr?
Schrobsdorff: Ich habe ihn abgeschnitten jetzt.
Schönfelder: Das Schreiben auf dem Sockel, was Sie gesagt haben, aber das, was ich oft in den Büchern gespürt habe und auch in dem, was Sie in Interviews gesagt haben, Schreiben auch als eine lebensrettende Maßnahme für Sie selber?
Schrobsdorff: Ich habe immer für mich geschrieben. Auch, als ich schon Erfolg hatte, habe ich immer für mich weiter selber geschrieben. Ich kann keine anonyme Menge Leserinnen, oder was immer auch, sehen. Das kann ich nicht. Und ich schreibe für mich.
Schönfelder: Schreiben Sie zurzeit?
Schrobsdorff: Nein, ich kann nicht mehr.
Schönfelder: Aber das hatten Sie immer wieder in Ihrem Leben. Und dann haben Sie irgendwann trotzdem wieder angefangen?
Schrobsdorff: Ja, nun ist die Zeit etwas knapper geworden.
Schönfelder: Wollen Sie nicht mehr, können Sie nicht mehr schreiben?
Schrobsdorff: Ich mag nicht mehr. Ach so, Schreiben?
Schönfelder: Schreiben.
Schrobsdorff: Ja, ich habe keinen Schwung mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Der letzte Schritt war zu schwer.
Schönfelder: Sie meinen, der von Jerusalem nach Berlin?
Schrobsdorff: Ja. Und ich wusste nicht, dass er das letzte meiner Kraft aufbrauchen würde, dieser Schritt. Hätte ich das gewusst, ich weiß nicht, ob ich es gemacht hätte. Aber er hat es getan. Ich war ja nun auch schon alt genug. Wer macht das in einem Alter von 79 Jahren, alles abzubrechen und hierher zu kommen? In ein Land, das ich nicht mehr geliebt habe. Ich habe Berlin sehr geliebt, sehr. Es war meine Heimat.
Schönfelder: Und Sie wohnen auch jetzt wieder ganz in der Nähe, wo Sie aufgewachsen sind?
Schrobsdorff: Zufall, alles Zufall.
Schönfelder: Zufall, ja?
Schrobsdorff: Ja, man kann es Zufall nennen. Ich wusste nicht, dass der Johannaplatz um die Ecke ist.
Schönfelder: Aber gibt dieses Land nicht auch Kraft? Hier sind viele Freunde natürlich auch näher. Hier ist die Sprache, in der Sie immer geschrieben und gedacht haben.
Schrobsdorff: Das ist es, die Sprache! Ich dachte mir, ich kann ja nicht mehr neu anfangen. Dazu ist es ja zu spät. Ich kann es nur beenden. Und dann kommt eben dieser Satz. Und es ist die Sprache. Ich wollte die deutsche Sprache noch mal um mich haben. Ja, die hat sich ja nun sehr verändert. Und ich habe immer falsch gelesen und falsch ausgesprochen. Und ich war ganz verzweifelt, weil ich nicht wusste, was ist los. Das ist ja gar keine deutsche Sprache mehr. Das ist ja eine verpanschte, vermanschte Geschichte geworden.
Schönfelder: Zu viel Anglizismen?
Schrobsdorff: Das sowieso, aber wie man sie auch spricht. Ich habe noch die alte Art. Aber wenn die Jungen sprechen, dann verstehe ich sie überhaupt nicht mehr. Die nuscheln vor sich hin, leise, weiß ich was. Das nennen sie locker. Das ist nicht deutsch, locker zu sein.
Schönfelder: Sind Sie da Preußin?
Schrobsdorff: Ja! Natürlich habe ich einen großen preußischen Teil in mir.
Schönfelder: Das wäre doch eigentlich ein guter Ansatz, so wie Sie vor vielen Jahren schon mal gesagt haben: "Ich koche so vor Wut und Frustration, dass ich einerseits nicht schreiben kann". Und dann haben Sie es wieder angefangen. Wenn Sie so was hören, zu sagen: Ich setze dem was entgegen, noch ein Buch oder vielleicht spreche ich auch mal ein Buch?
Schrobsdorff: Ich spreche doch antiquarisch.
Schönfelder: Aber schön.
Schrobsdorff: Ich bitte Sie!
Schönfelder: Ist das jetzt Fishing for Compliments, um mal was Englisches zu nehmen?
Schrobsdorff: Nein, das nicht.
Schönfelder: Sie werden ja auch von vielen jüngeren Menschen gelesen. Wer einmal mit Ihren Büchern angefangen hat, denke ich, wird auch so ein Stück süchtig, mehr zu erfahren über die Autorin, aber auch über diese ganze Familie, die damit zu tun hat.
Schrobsdorff: Na ja, ich habe die Muttersprache mir bewahrt. Ich habe ja mit meiner Mutter immer deutsch gesprochen, auch in Bulgarien.
Schönfelder: Die Sprache, die Sie ihr Leben lang begleitet hat?
Schrobsdorff: Ja.
Schönfelder: Wie werden Sie Ihren Geburtstag, wie werden Sie Heiligabend verbringen? Wissen Sie das schon?
Schrobsdorff: Die bulgarische Botschaft, aber erst im Januar, weil Weihnachten ist ja eh alles tot, alles fährt weg und ist bei der Familie, was auch wahrscheinlich richtig ist, ich weiß es nicht, also gibt mir die bulgarische Botschaft einen Empfang am 16. Januar. Ich bin ihr sehr dankbar, dieser bulgarischen Botschaft. Ich habe auch mich ein bisschen eingesetzt, als ich dieses Buch "Grand Hotel Bulgaria" schrieb. Und das war dieser schreckliche Winter 1996, wo sie alle, die Pensionäre natürlich, gehungert haben und gefroren haben. Und ich hänge mehr an Bulgarien, als ich hier an Berlin hänge.
Schönfelder: Warum sind Sie dann nicht nach Bulgarien gegangen?
Schrobsdorff: Weil das auch im Aufbruch ist. Es verändert sich stündlich zu seinem Nachteil. Den ganzen balkanesischen Charme hat es bereits verloren. Das kann ich nicht noch einmal durchmachen. Außerdem würde ich da wieder zu den Privilegierten gehören.
Schönfelder: Sie möchten nicht zu den Privilegierten gehören.
Schrobsdorff: Nein.
Schönfelder: Das ist hier in Berlin, glaube ich, auch einfacher. Da können Sie so ein bisschen mitschwimmen. Sie wohnen zwar nicht in einer gerade armen Gegend, aber da fallen Sie auch nicht weiter auf. Haben Sie irgendwie Kontakt zu Nachbarn oder so?
Schrobsdorff: Doch ich falle auf als ganz junge.
Schönfelder: Und als eine, die immer noch raucht, was ab 01. Januar hier ganz verboten ist.
Schrobsdorff: Ich sitze am Fenster, und ich sehe meine Zukunft vorbeiziehen, an Stöcken und Krücken und Rollstühlen und diesen kleinen Gehsachen da.
Schönfelder: Rollatoren.
Schrobsdorff: Hm?
Schönfelder: Rollatoren. Also ich weiß nicht, was der Plural ist. Rollator heißen die jedenfalls im Singular.
Schrobsdorff: Ja, und so sehe ich sie vorbeiziehen und sage: Ah, das ist deine Zukunft. Schau hin, mein liebes Kind. Und sehr viele Autos, weil ja da die Einfahrt zur Autobahn ist. Das ist auch sehr interessant. Das ist für meine Katze Vicky sehr interessant. Die sitzt auf dem Fensterbrett und zählt die Autos. Die macht Statistiken oder irgendwas. Ja, so sitzt sie an dem einem Fenster. Wenn ich hinkomme, springt sie sofort runter, weil das hält sie für übertrieben, dass ich da auch mit ihr rausschaue. Und ich sitze am anderen und sehe meine Zukunft vorbeiziehen.
Schönfelder: Angelika Schrobsdorff, ich danke Ihnen sehr, dass Sie da waren! Und der Satz, den Sie, glaube ich, selber mal gesagt haben, jeder Mensch ist eine ganze Welt, der trifft für Sie gar nicht zu. Ich würde sagen: Angelika Schrobsdorff, das sind ganz, ganz viele Welten. Ich wünsche Ihnen alles Gute zum Geburtstag!
Schrobsdorff: Danke!