"Das ist keine landwirtschaftliche Leistungsschau"
Roger M. Buergel hat die Bedeutung der <papaya:addon addon="d53447f5fcd08d70e2f9158d31e5db71" article="201197" text="documenta" alternative_text="documenta" /> als historische Ausstellung hervorgehoben. Man verstehe die zeitgenössische Kunst nur dann, wenn man die historischen Dimensionen der jeweiligen Kulturen begreife, sagte der künstlerische Leiter der documenta. Für Deutschland seien hier vor allem die 70er Jahre prägend, ergänzte Kuratorin Ruth Noack.
Alexandra Mangel: Alle fünf Jahre fiebert die Kunstwelt wieder der documenta entgegen, der Ausstellung, die sich die wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst weltweit nennt. 113 Künstler aus aller Welt sind vertreten, über 500 Werke gibt es zu sehen, fünf Hauptausstellungsorte zu erkunden. Das Fridericianum, die documenta-Halle, die neue Galerie, das Schloss Wilhelmshöhe und der neue Aue-Pavillon. Schon im Voraus angepriesen als revolutionäres Kunstereignis, ist die Ausstellung seit gestern für die Fachwelt und ab Samstag für das Publikum eröffnet und will entdeckt werden.
Stephan Detjen: Und bei uns in unserem Ü-Wagen sind jetzt der künstlerische Leiter der documenta 12, Roger M. Buergel, und die Kuratorin, seine Frau, Ruth Noack, herzlich Willkommen.
Wir stehen hier mit unserem Ü-Wagen auf dem Friedrichsplatz. Das war schon immer ein zentraler Ort für die documenta. Hier schüttete Joseph Beuys 1982 bei der documenta 7 7000 Basaltsteine auf, um für jeden dann eine Eiche in Kassel zu pflanzen. Hier versenkte Walter de Maria 1977 bei der documenta 6 sein Erdkilometer in genau den Boden, auf dem heute jetzt eigentlich ein Mohnfeld der in Zagreb geborenen Künstlerin Sanja Ivekovic rot blühend sollte. Der Mohn aber blüht noch nicht, es ragen grad mal ein paar zaghafte Halme aus der rohen Erde. Also die documenta wird eröffnet, aber fertig ist sie noch nicht?
Ruth Noack: Hoffentlich nicht, denn wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod, sagt man in Norddeutschland. Wir wollen ja eine documenta, die die ganzen 100 Tage über lebendig ist. Deswegen war das Mohnfeld auch nie so geplant, dass es zur Eröffnung blüht. Ich will auch nicht, dass wir eine Ausstellung nur für die Professionals machen, die in den ersten drei Tagen anreisen, sondern es soll ja auch was für die Leute in Kassel sein. Und die betrachten jetzt dieses Mohnfeld eigentlich schon seit zwei, drei Monaten mit Misstrauen und Argwohn und guten Ratschlägen. Und das heißt, im Grunde hat die Ausstellung schon viel früher angefangen, nämlich ab dem Zeitpunkt, wo wir behaupteten, dass hier Mohn blühen würde. Ich hoffe, die Behauptung erfüllt sich dann im August auch. Ich habe damals, als ich für dieses Kunstwerk votiert habe, gesagt, das ist doch Natur als Performance.
Alexandra Mangel: Neben dem Mohnfeld war ja auch die Einladung des spanischen Starkochs Ferran Adrià schon vorher eines der bekannten Werke. Der wird nun in Spanien kochen, und Sie haben kurzerhand, Herr Buergel, das Restaurant "El Bulli" an der Costa Brava zur Außenstelle der documenta erklärt. Wie viel Abstriche von Ihrem Konzept für die documenta mussten Sie machen?
Roger M. Buergel: Gar keine, das war nie anders angedacht. Also jeder, der alle Tassen im Schrank hat, weiß, dass Ferran mit seiner hoch komplizierten Küche, also die so kompliziert ist wie Gehirnchirurgie, nicht für 650.000 Leute kochen kann. Das ist nicht der Punkt. Sondern der Punkt ist, eine Form zu finden, wie man einen Koch adäquat repräsentiert. Wir haben lange drüber nachgedacht zusammen, wie wir das machen. Wir wussten, dass es ein paar Optionen gibt, wir haben die alle verworfen. So ein bisschen was, so Snacks darreichen oder so, fanden wir vulgär. Mit Fotos kann man Essen nicht repräsentieren, Gerüche ist ein bisschen esoterisch. Und wir sind dann halt einfach auf die einfache und stringente Lösung verfallen zu sagen, okay, "El Bulli" ist ein Standort der documenta.
Mangel: Es wird jetzt so sein, dass im "El Bulli" ein Tisch für zwei Personen für documenta-Besucher reserviert ist. Und als Sie gestern auf der Pressekonferenz gefragt wurden, wer dann oder wie die Glücklichen ausgewählt werden, da haben Sie gesagt, das werden Sie machen. Und das sorgte dann etwas für Unruhe, für Murmeln im Publikum. Und Sie sagten dann noch, dass Sie das nach dem bewährten Modell der kuratorischen Willkür entscheiden würden. Was ist das, die kuratorische Willkür?
Buergel: Das kann man doch eigentlich nicht klarer ausdrücken. Bei documenta ist es so, dass es eine Findungskommission gibt, die den künstlerischen Leiter oder die künstlerische Leiterin ernennt. Man kann sich nicht bewerben. Bei den Künstlerinnen und Künstlern ist es ähnlich. Die werden ausgewählt. Man hat als künstlerischer Leiter Carte blanche. Ich muss mich nicht legitimieren. Bei den Gästen verhält es sich analog. Ich gehe über die Ausstellung, ich schaue, ich lade Leute spontan ein, von denen ich denke, dass sie das jetzt vielleicht brauchen. Es gibt verschiedene Künstlerinnen und Künstler, von denen ich das gern hätte, dass sie diese Erfahrung machen und wo ich auch glaube, dass Ferran Interesse hätte, die kennenzulernen. Ich gehe da eigentlich nach dem Bauch, würde ich fast sagen.
Mangel: Wie kommen die denn dahin?
Buergel: So wie jeder andere auch, mit dem Flugzeug und mit dem Auto.
Detjen: Um noch mal gestern auf diese Pressekonferenz zurückzukommen, da waren knapp 3000 Journalisten aus aller Welt in der Kasseler Stadthalle, und ich hatte den Eindruck, als ich mir das angeschaut und angehört habe, da läuft auch ein Spiel zwischen Ihnen und den Medien ab. Sie sind – man konnte das ja auch schon vorher beobachten – Sie sind konfrontiert mit medialen Erwartungen: Erklären Sie mal kurz und bündig, was will uns der Kurator sagen, was soll das Ganze hier. Und Sie unterlaufen diese Erwartungen dann immer wieder. Sie verweigern Antworten oder geben unerwartete Antworten, lassen Journalisten unbefriedigt zurück. Braucht so eine documenta so was wie eine subversive Öffentlichkeitsarbeit?
Noack: Ich glaube, das hat eher damit zu tun, den Charakter der Kunst auch ein Stückchen weit in die Medien zu tragen. Und wir wollen das Publikum im Grunde schon dadurch drauf vorbereiten, dass es sich auch mit der Kunst so verhält, dass sie vielleicht nicht subversiv ist – weil das wäre ja zu viel gesagt, glaube ich –, aber doch, dass sie nicht so einfach zähmbar ist, und dass es auch notwendig ist, dass sich da was entzieht, und dass es notwendig ist, dass da ein Rest bleibt, den man vielleicht nicht versteht, und dass man sich auch mit dieser Frustration konfrontieren muss und dass es sich lohnt, damit zu konfrontieren.
Detjen: Ein Beispiel scheint mir auch das Bilderbuch zu sein, das Sie zu der documenta hergestellt haben, mit Fotos der Kunstwerke, aber ohne jede Erläuterung. Da stehen wirklich diese Bilder ganz für sich. Sie nehmen das in Kauf, dass da jemand reinschaut und denkt, eigentlich möchte ich da mehr Erklärungen haben?
Buergel: Das finde ich ja richtig, wenn Leute mehr Erklärungen haben wollen. Aber ich glaube nicht, dass sie die von uns bekommen können. Und ich glaube auch nicht, dass man Bildern unbedingt durch Sprache Herr wird. Das Buch hat auch so was wie eine interne Organisation. Es sind einfach nicht nur wahllos da Bilder zusammengefügt, sondern was wir versucht haben ist, gewissermaßen ein Gedicht aus Bildern zu bilden. Und ob das funktioniert oder nicht, müssen die Leute einfach selber entscheiden. Aber wir haben uns ab einem bestimmten Punkt auch dagegen entschieden, überhaupt ein Vorwort zu schreiben, weil wir das einfach nicht zutexten wollten. Ich denke mir, dass Bilder ein Eigenleben haben und dass man sich auch damit konfrontieren muss, dass man sich sozusagen nicht alles zu eigen machen kann, sondern dass man auch die Dinge in ihrem Eigenleben erscheinen lassen muss.
Detjen: Es gibt dennoch ein Vorwort von Ihnen in dem zweiten Band, den Sie gemacht haben, in dem dann auch Text ist, und da schreiben Sie, ich zitiere das mal: "Die große Ausstellung hat keine Form." Sie sprechen von der Formlosigkeit der documenta. Was ist das?
Buergel: Ich glaube, das ist das Eingeständnis, dass es nicht so was wie einen übergeordneten Zusammenhang gibt. Es gibt keinen Rahmen, sondern es gibt eigentlich so was wie ein Zentrum eher, einen Kern, der schlägt wie ein Herz, und von dem aus Wellen ausgehen, so ähnlich wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Und das bedeutet auch, dass sich die Ausstellung einfach verändert, und zwar nicht, weil jetzt irgendwie die Kunstwerke ausgetauscht werden, sondern dass sie selber ein Resonanzraum ist. Wenn man gut drauf ist, dann sprechen einen bestimmte Dinge an, stärker, die dann vielleicht an anderen Tagen wiederum stumpf sind. Und dann gibt’s wieder andere Sachen, die einen trösten, also wenn es einem schlecht geht. Ich glaube, dass man sich dafür öffnen muss, dafür, dass Kunst einfach sehr, sehr viel mit Emotionen und Sinn zu tun hat, und dass man sich auch nicht auf einen Begriff bringen kann.
Noack: Ich denke, es ist aber auch so, dass 2007 nicht mehr die Zeit der Meistererzählungen ist. Noch 2002 war das so, dass man sagte, es muss eine andere Erzählung entstehen, aber doch eine Erzählung, die irgendwie kohärent ist. Ich denke, dass war auch bei Cathrin Davids Ausstellung so und bei Okus Ausstellung so. Und jetzt würde ich mich eher so daran halten, was die Alice Kreischer gesagt hat: Man macht so was, weil man auch mit sich selber in der Welt fertig werden muss, und das kann sich nicht zu dieser großen Geschichte zusammenfügen, das wäre totalitär. Das heißt, dass man akzeptieren muss, dass nicht alle Menschen alles verstehen oder mitbekommen. Das ist kein Widerspruch, sondern es ist eher so, dass man das den Menschen anbietet und dann doch darauf setzt, dass Menschen selber an der einen oder anderen Stelle so viel Interesse entwickeln, dass sie sich selber zu bilden anfangen.
Mangel: Was mir sehr stark aufgefallen ist beim Rundgang durch die Ausstellung, war, dass wenn man hier zum Beispiel ins Fridericianum kommt, man sehr, sehr viele Werke aus den 70er Jahren, auch aus den 60ern findet – eine Performance, eine Installation von Trisha Brown, Charlotte Posenenske, Martha Rosler –, sehr viele Künstler aus dieser Zeit. Warum war es Ihnen so wichtig, diese Zeit so stark zu machen bei einer Ausstellung, die ja eigentlich die wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst genannt wird?
Buergel: Ich glaube, dass man da die Konzeption von documenta nicht richtig verstanden hat. Also die documenta ist keine landwirtschaftliche Leistungsshow, sondern war von ihren Anfängen her immer als eine historische Ausstellung konzipiert. Bode ’55 ging’s darum darzulegen, warum die zeitgenössische Kunst die Form hat, die sie hat. Das heißt, der hat nicht diese zeitgenössische Oberfläche abgebildet, sondern schon bereits die Tiefe. Das hatte damals eine historische Geschichte, weil er einfach auch die Nazi-Verfolgung und die Verfilmung der Moderne als entartete Kunst wiedergutmachen wollte. Heute ist es so, dass wir Kunst aus ganz, ganz unterschiedlichen Geografien hier in Kassel zeigen, aber unser Publikum im Wesentlichen hat absolut keine Ahnung über die Formschicksale in Indien in den letzten sagen wir mal 200 Jahren, Afrika in den letzten 200 Jahren, arabischer Raum in den letzten 200 Jahren, Asien in den letzten 200 Jahren. Und das sind jetzt einfach auch nur Oberbegriffe. Wenn man sich Asien genauer anschaut, zerfällt es in unendlich viele Komponenten. Ich glaube, dass man die zeitgenössische Kunst überhaupt nicht begreift, also außer jetzt halt so Abziehbildversionen, die für den Markt produziert werden, wenn man die historische Dimension dieser Kulturen nicht kapiert hat. Und deshalb haben wir uns entschlossen, diese historische Dimension auch unserer eigenen Kultur mit zu zeigen.
Noack: Da sind die 70er Jahre natürlich nach wie vor entscheidend und prägend.
Detjen: Mein Eindruck war, dass das in Teilen eine sehr verständliche, eine sehr gut lesbare Ausstellung ist.
Buergel: Danke.
Detjen: Man trifft da auf rote, und zwar ganz sprichwörtlich, auf rote Fäden, also Seile, die man sieht und sich dann in verschiedenen Kunstwerken wiedererkennbar spiegeln – in Performances, in Filmen, in Videoinstallationen. Sind es diese wiederkehrenden Leitmotive, die Sie im Vorfeld immer wieder angekündigt haben, als das Thema der Migration der Formen?
Buergel: Ja.
Detjen: Die Ausstellung ist ja jetzt seit gestern bevölkert von Besuchern, Sie haben die ersten Eindrücke, wie die Leute mit dieser Ausstellung umgehen. Haben Sie den Eindruck, das funktioniert? Sind Sie zufrieden damit?
Mangel: Wir haben Sie gestern gesehen, wie Sie durch Ihre eigene Ausstellung gingen, und Sie wirkten sehr entspannt.
Buergel: Ja, die hauptsächliche Arbeit machen ja die Künstlerinnen und Künstler. Ich denke mir, dass es ganz entscheidend sein wird, wie auch ein – sagen wir mal – ein Laienpublikum, also Leute, die sich jetzt 24 Stunden am Tag mit Kunst beschäftigen, mit der Ausstellung umgehen. Ich denke mir, das ist die eigentliche Bewährungsprobe, und es ist auch der Anspruch unserer Ausstellung.
Detjen: Trotzdem formulieren Sie auch an diese Laien sehr deutliche Erwartungen. Sie haben gesagt, man muss da Disziplin mitbringen, Disziplin, sich durchlässig zu machen, sich selbst nicht mehr zu kennen. Was erwarten Sie von einem Besucher, der aus dem Norden oder aus dem tiefen Süden Deutschlands hier nach Kassel kommt, um die documenta zu sehen? Was muss der mitbringen?
Buergel: Die Bereitschaft, sich einzulassen, also die Bereitschaft, sich einer Situation auszusetzen, wo sein Verstehen radikal irritiert ist, wo man kapiert, dass man sich etwas nicht zu eigen machen kann, und wo man aber auch bitte schön gehalten ist, das dann nicht irgendwie abzuwerten, so nach dem Motto, das ist keine Kunst oder das kann ich auch oder so, sondern sich wirklich darauf einzulassen und darauf zu kommen, sich für die Erfahrung zu interessieren, so könnte man es vielleicht formulieren, die man selber macht. Also sich selber zu betrachten auch, während man betrachtet.
Noack: Aber deswegen denke ich, ist auch documenta eine Ausstellung, die viel ihrem Publikum verdankt in der Tradition schon. Weil ich glaube, die Leute, die hierher kommen, sind zwar Laien, aber die haben tatsächlich diese Bereitschaft, jedenfalls haben es die letzten Ausstellungen gezeigt, dass die Leute mit ziemlich ernsthaften Anliegen hierher kommen, die reisen ja auch nicht nach Venedig, sondern nach Kassel. Wieso würde man hier sonst herkommen, im Sommer, im schönen Sommer, außer für die documenta. Und die tragen dann auch eine Ausstellung. Und ob uns das passiert oder nicht, wissen wir noch nicht. Wir hoffen natürlich darauf.
Detjen: Ruth Noack, Roger Buergel, vielen Dank für das Gespräch, viel Erfolg mit der documenta. Wir werden das in den nächsten 100 Tagen natürlich intensiv weiterverfolgen mit unseren Sendungen in Deutschlandradio Kultur, wie der Mohn dann hier zum Erblühen kommt.
Stephan Detjen: Und bei uns in unserem Ü-Wagen sind jetzt der künstlerische Leiter der documenta 12, Roger M. Buergel, und die Kuratorin, seine Frau, Ruth Noack, herzlich Willkommen.
Wir stehen hier mit unserem Ü-Wagen auf dem Friedrichsplatz. Das war schon immer ein zentraler Ort für die documenta. Hier schüttete Joseph Beuys 1982 bei der documenta 7 7000 Basaltsteine auf, um für jeden dann eine Eiche in Kassel zu pflanzen. Hier versenkte Walter de Maria 1977 bei der documenta 6 sein Erdkilometer in genau den Boden, auf dem heute jetzt eigentlich ein Mohnfeld der in Zagreb geborenen Künstlerin Sanja Ivekovic rot blühend sollte. Der Mohn aber blüht noch nicht, es ragen grad mal ein paar zaghafte Halme aus der rohen Erde. Also die documenta wird eröffnet, aber fertig ist sie noch nicht?
Ruth Noack: Hoffentlich nicht, denn wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod, sagt man in Norddeutschland. Wir wollen ja eine documenta, die die ganzen 100 Tage über lebendig ist. Deswegen war das Mohnfeld auch nie so geplant, dass es zur Eröffnung blüht. Ich will auch nicht, dass wir eine Ausstellung nur für die Professionals machen, die in den ersten drei Tagen anreisen, sondern es soll ja auch was für die Leute in Kassel sein. Und die betrachten jetzt dieses Mohnfeld eigentlich schon seit zwei, drei Monaten mit Misstrauen und Argwohn und guten Ratschlägen. Und das heißt, im Grunde hat die Ausstellung schon viel früher angefangen, nämlich ab dem Zeitpunkt, wo wir behaupteten, dass hier Mohn blühen würde. Ich hoffe, die Behauptung erfüllt sich dann im August auch. Ich habe damals, als ich für dieses Kunstwerk votiert habe, gesagt, das ist doch Natur als Performance.
Alexandra Mangel: Neben dem Mohnfeld war ja auch die Einladung des spanischen Starkochs Ferran Adrià schon vorher eines der bekannten Werke. Der wird nun in Spanien kochen, und Sie haben kurzerhand, Herr Buergel, das Restaurant "El Bulli" an der Costa Brava zur Außenstelle der documenta erklärt. Wie viel Abstriche von Ihrem Konzept für die documenta mussten Sie machen?
Roger M. Buergel: Gar keine, das war nie anders angedacht. Also jeder, der alle Tassen im Schrank hat, weiß, dass Ferran mit seiner hoch komplizierten Küche, also die so kompliziert ist wie Gehirnchirurgie, nicht für 650.000 Leute kochen kann. Das ist nicht der Punkt. Sondern der Punkt ist, eine Form zu finden, wie man einen Koch adäquat repräsentiert. Wir haben lange drüber nachgedacht zusammen, wie wir das machen. Wir wussten, dass es ein paar Optionen gibt, wir haben die alle verworfen. So ein bisschen was, so Snacks darreichen oder so, fanden wir vulgär. Mit Fotos kann man Essen nicht repräsentieren, Gerüche ist ein bisschen esoterisch. Und wir sind dann halt einfach auf die einfache und stringente Lösung verfallen zu sagen, okay, "El Bulli" ist ein Standort der documenta.
Mangel: Es wird jetzt so sein, dass im "El Bulli" ein Tisch für zwei Personen für documenta-Besucher reserviert ist. Und als Sie gestern auf der Pressekonferenz gefragt wurden, wer dann oder wie die Glücklichen ausgewählt werden, da haben Sie gesagt, das werden Sie machen. Und das sorgte dann etwas für Unruhe, für Murmeln im Publikum. Und Sie sagten dann noch, dass Sie das nach dem bewährten Modell der kuratorischen Willkür entscheiden würden. Was ist das, die kuratorische Willkür?
Buergel: Das kann man doch eigentlich nicht klarer ausdrücken. Bei documenta ist es so, dass es eine Findungskommission gibt, die den künstlerischen Leiter oder die künstlerische Leiterin ernennt. Man kann sich nicht bewerben. Bei den Künstlerinnen und Künstlern ist es ähnlich. Die werden ausgewählt. Man hat als künstlerischer Leiter Carte blanche. Ich muss mich nicht legitimieren. Bei den Gästen verhält es sich analog. Ich gehe über die Ausstellung, ich schaue, ich lade Leute spontan ein, von denen ich denke, dass sie das jetzt vielleicht brauchen. Es gibt verschiedene Künstlerinnen und Künstler, von denen ich das gern hätte, dass sie diese Erfahrung machen und wo ich auch glaube, dass Ferran Interesse hätte, die kennenzulernen. Ich gehe da eigentlich nach dem Bauch, würde ich fast sagen.
Mangel: Wie kommen die denn dahin?
Buergel: So wie jeder andere auch, mit dem Flugzeug und mit dem Auto.
Detjen: Um noch mal gestern auf diese Pressekonferenz zurückzukommen, da waren knapp 3000 Journalisten aus aller Welt in der Kasseler Stadthalle, und ich hatte den Eindruck, als ich mir das angeschaut und angehört habe, da läuft auch ein Spiel zwischen Ihnen und den Medien ab. Sie sind – man konnte das ja auch schon vorher beobachten – Sie sind konfrontiert mit medialen Erwartungen: Erklären Sie mal kurz und bündig, was will uns der Kurator sagen, was soll das Ganze hier. Und Sie unterlaufen diese Erwartungen dann immer wieder. Sie verweigern Antworten oder geben unerwartete Antworten, lassen Journalisten unbefriedigt zurück. Braucht so eine documenta so was wie eine subversive Öffentlichkeitsarbeit?
Noack: Ich glaube, das hat eher damit zu tun, den Charakter der Kunst auch ein Stückchen weit in die Medien zu tragen. Und wir wollen das Publikum im Grunde schon dadurch drauf vorbereiten, dass es sich auch mit der Kunst so verhält, dass sie vielleicht nicht subversiv ist – weil das wäre ja zu viel gesagt, glaube ich –, aber doch, dass sie nicht so einfach zähmbar ist, und dass es auch notwendig ist, dass sich da was entzieht, und dass es notwendig ist, dass da ein Rest bleibt, den man vielleicht nicht versteht, und dass man sich auch mit dieser Frustration konfrontieren muss und dass es sich lohnt, damit zu konfrontieren.
Detjen: Ein Beispiel scheint mir auch das Bilderbuch zu sein, das Sie zu der documenta hergestellt haben, mit Fotos der Kunstwerke, aber ohne jede Erläuterung. Da stehen wirklich diese Bilder ganz für sich. Sie nehmen das in Kauf, dass da jemand reinschaut und denkt, eigentlich möchte ich da mehr Erklärungen haben?
Buergel: Das finde ich ja richtig, wenn Leute mehr Erklärungen haben wollen. Aber ich glaube nicht, dass sie die von uns bekommen können. Und ich glaube auch nicht, dass man Bildern unbedingt durch Sprache Herr wird. Das Buch hat auch so was wie eine interne Organisation. Es sind einfach nicht nur wahllos da Bilder zusammengefügt, sondern was wir versucht haben ist, gewissermaßen ein Gedicht aus Bildern zu bilden. Und ob das funktioniert oder nicht, müssen die Leute einfach selber entscheiden. Aber wir haben uns ab einem bestimmten Punkt auch dagegen entschieden, überhaupt ein Vorwort zu schreiben, weil wir das einfach nicht zutexten wollten. Ich denke mir, dass Bilder ein Eigenleben haben und dass man sich auch damit konfrontieren muss, dass man sich sozusagen nicht alles zu eigen machen kann, sondern dass man auch die Dinge in ihrem Eigenleben erscheinen lassen muss.
Detjen: Es gibt dennoch ein Vorwort von Ihnen in dem zweiten Band, den Sie gemacht haben, in dem dann auch Text ist, und da schreiben Sie, ich zitiere das mal: "Die große Ausstellung hat keine Form." Sie sprechen von der Formlosigkeit der documenta. Was ist das?
Buergel: Ich glaube, das ist das Eingeständnis, dass es nicht so was wie einen übergeordneten Zusammenhang gibt. Es gibt keinen Rahmen, sondern es gibt eigentlich so was wie ein Zentrum eher, einen Kern, der schlägt wie ein Herz, und von dem aus Wellen ausgehen, so ähnlich wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Und das bedeutet auch, dass sich die Ausstellung einfach verändert, und zwar nicht, weil jetzt irgendwie die Kunstwerke ausgetauscht werden, sondern dass sie selber ein Resonanzraum ist. Wenn man gut drauf ist, dann sprechen einen bestimmte Dinge an, stärker, die dann vielleicht an anderen Tagen wiederum stumpf sind. Und dann gibt’s wieder andere Sachen, die einen trösten, also wenn es einem schlecht geht. Ich glaube, dass man sich dafür öffnen muss, dafür, dass Kunst einfach sehr, sehr viel mit Emotionen und Sinn zu tun hat, und dass man sich auch nicht auf einen Begriff bringen kann.
Noack: Ich denke, es ist aber auch so, dass 2007 nicht mehr die Zeit der Meistererzählungen ist. Noch 2002 war das so, dass man sagte, es muss eine andere Erzählung entstehen, aber doch eine Erzählung, die irgendwie kohärent ist. Ich denke, dass war auch bei Cathrin Davids Ausstellung so und bei Okus Ausstellung so. Und jetzt würde ich mich eher so daran halten, was die Alice Kreischer gesagt hat: Man macht so was, weil man auch mit sich selber in der Welt fertig werden muss, und das kann sich nicht zu dieser großen Geschichte zusammenfügen, das wäre totalitär. Das heißt, dass man akzeptieren muss, dass nicht alle Menschen alles verstehen oder mitbekommen. Das ist kein Widerspruch, sondern es ist eher so, dass man das den Menschen anbietet und dann doch darauf setzt, dass Menschen selber an der einen oder anderen Stelle so viel Interesse entwickeln, dass sie sich selber zu bilden anfangen.
Mangel: Was mir sehr stark aufgefallen ist beim Rundgang durch die Ausstellung, war, dass wenn man hier zum Beispiel ins Fridericianum kommt, man sehr, sehr viele Werke aus den 70er Jahren, auch aus den 60ern findet – eine Performance, eine Installation von Trisha Brown, Charlotte Posenenske, Martha Rosler –, sehr viele Künstler aus dieser Zeit. Warum war es Ihnen so wichtig, diese Zeit so stark zu machen bei einer Ausstellung, die ja eigentlich die wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst genannt wird?
Buergel: Ich glaube, dass man da die Konzeption von documenta nicht richtig verstanden hat. Also die documenta ist keine landwirtschaftliche Leistungsshow, sondern war von ihren Anfängen her immer als eine historische Ausstellung konzipiert. Bode ’55 ging’s darum darzulegen, warum die zeitgenössische Kunst die Form hat, die sie hat. Das heißt, der hat nicht diese zeitgenössische Oberfläche abgebildet, sondern schon bereits die Tiefe. Das hatte damals eine historische Geschichte, weil er einfach auch die Nazi-Verfolgung und die Verfilmung der Moderne als entartete Kunst wiedergutmachen wollte. Heute ist es so, dass wir Kunst aus ganz, ganz unterschiedlichen Geografien hier in Kassel zeigen, aber unser Publikum im Wesentlichen hat absolut keine Ahnung über die Formschicksale in Indien in den letzten sagen wir mal 200 Jahren, Afrika in den letzten 200 Jahren, arabischer Raum in den letzten 200 Jahren, Asien in den letzten 200 Jahren. Und das sind jetzt einfach auch nur Oberbegriffe. Wenn man sich Asien genauer anschaut, zerfällt es in unendlich viele Komponenten. Ich glaube, dass man die zeitgenössische Kunst überhaupt nicht begreift, also außer jetzt halt so Abziehbildversionen, die für den Markt produziert werden, wenn man die historische Dimension dieser Kulturen nicht kapiert hat. Und deshalb haben wir uns entschlossen, diese historische Dimension auch unserer eigenen Kultur mit zu zeigen.
Noack: Da sind die 70er Jahre natürlich nach wie vor entscheidend und prägend.
Detjen: Mein Eindruck war, dass das in Teilen eine sehr verständliche, eine sehr gut lesbare Ausstellung ist.
Buergel: Danke.
Detjen: Man trifft da auf rote, und zwar ganz sprichwörtlich, auf rote Fäden, also Seile, die man sieht und sich dann in verschiedenen Kunstwerken wiedererkennbar spiegeln – in Performances, in Filmen, in Videoinstallationen. Sind es diese wiederkehrenden Leitmotive, die Sie im Vorfeld immer wieder angekündigt haben, als das Thema der Migration der Formen?
Buergel: Ja.
Detjen: Die Ausstellung ist ja jetzt seit gestern bevölkert von Besuchern, Sie haben die ersten Eindrücke, wie die Leute mit dieser Ausstellung umgehen. Haben Sie den Eindruck, das funktioniert? Sind Sie zufrieden damit?
Mangel: Wir haben Sie gestern gesehen, wie Sie durch Ihre eigene Ausstellung gingen, und Sie wirkten sehr entspannt.
Buergel: Ja, die hauptsächliche Arbeit machen ja die Künstlerinnen und Künstler. Ich denke mir, dass es ganz entscheidend sein wird, wie auch ein – sagen wir mal – ein Laienpublikum, also Leute, die sich jetzt 24 Stunden am Tag mit Kunst beschäftigen, mit der Ausstellung umgehen. Ich denke mir, das ist die eigentliche Bewährungsprobe, und es ist auch der Anspruch unserer Ausstellung.
Detjen: Trotzdem formulieren Sie auch an diese Laien sehr deutliche Erwartungen. Sie haben gesagt, man muss da Disziplin mitbringen, Disziplin, sich durchlässig zu machen, sich selbst nicht mehr zu kennen. Was erwarten Sie von einem Besucher, der aus dem Norden oder aus dem tiefen Süden Deutschlands hier nach Kassel kommt, um die documenta zu sehen? Was muss der mitbringen?
Buergel: Die Bereitschaft, sich einzulassen, also die Bereitschaft, sich einer Situation auszusetzen, wo sein Verstehen radikal irritiert ist, wo man kapiert, dass man sich etwas nicht zu eigen machen kann, und wo man aber auch bitte schön gehalten ist, das dann nicht irgendwie abzuwerten, so nach dem Motto, das ist keine Kunst oder das kann ich auch oder so, sondern sich wirklich darauf einzulassen und darauf zu kommen, sich für die Erfahrung zu interessieren, so könnte man es vielleicht formulieren, die man selber macht. Also sich selber zu betrachten auch, während man betrachtet.
Noack: Aber deswegen denke ich, ist auch documenta eine Ausstellung, die viel ihrem Publikum verdankt in der Tradition schon. Weil ich glaube, die Leute, die hierher kommen, sind zwar Laien, aber die haben tatsächlich diese Bereitschaft, jedenfalls haben es die letzten Ausstellungen gezeigt, dass die Leute mit ziemlich ernsthaften Anliegen hierher kommen, die reisen ja auch nicht nach Venedig, sondern nach Kassel. Wieso würde man hier sonst herkommen, im Sommer, im schönen Sommer, außer für die documenta. Und die tragen dann auch eine Ausstellung. Und ob uns das passiert oder nicht, wissen wir noch nicht. Wir hoffen natürlich darauf.
Detjen: Ruth Noack, Roger Buergel, vielen Dank für das Gespräch, viel Erfolg mit der documenta. Wir werden das in den nächsten 100 Tagen natürlich intensiv weiterverfolgen mit unseren Sendungen in Deutschlandradio Kultur, wie der Mohn dann hier zum Erblühen kommt.