"Das ist schon fast unmenschlich"

Michael Gross im Gespräch mit Holger Hettinger |
Der dreifache Goldmedaillengewinner und mehrfache Schwimmweltmeister Michael Gross hat vor vorschnellen Verurteilungen der Leistungen des amerikanischen Schwimmers Michael Phelps gewarnt. Hinter den extremen Leistungen stehe vor allem die starke Professionalisierung des Sports. Das habe erstmal nichts mit Doping zu tun, sagte Gross.
Holger Hettinger: Und da waren es sechs. Die jüngste Goldmedaille für Michael Phelps über 200 Meter Lagen in Weltrekordzeit. Michael Phelps ist mit sechs Goldmedaillen in Peking und sechs in Athen der erfolgreichste Olympia-Teilnehmer aller Zeiten. Und die Olympischen Spiele sind noch lange nicht zu Ende. Über das Phänomen Michael Phelps spreche ich nun mit Michael Gross. Er ist der erfolgreichste deutsche Schwimmsportler. An seine Siege in Los Angeles 1984 und Seoul 1988 erinnert man sich auch heute noch ehrfurchtsvoll. Schönen guten Tag, Herr Gross.

Michael Gross: Ja, hallo.

Hettinger: Herr Gross, es ist schon ein besonderes Vergnügen, diesem Michael Phelps beim Schwimmen zuzusehen, diese mächtigen Züge und wie er sich dann so athletisch aus diesem Wasser stemmt. Wie würden Sie die Besonderheiten seines Schwimmstils beschreiben?

Gross: Zunächst mal, von der Anatomie, von seinem Körperbau her, hat er einen extrem langen Oberkörper. Er kann also quasi seinen Körper bewegen, wie ein Surfbrett. Dann hat er einen extremen Beinschlag, der von hinten ihm wirklich ziemlich Schub verleiht. Das Ganze sieht man dann sehr schön auch als Laie bei Startsprüngen und bei Wenden, wo er in der Regel einen Meter gegenüber dem Wettbewerb hervorholt. Das ist dann quasi schon sozusagen die halbe Miete seines Vorsprungs und auch seines Erfolgs. So was kann man beispielsweise auch kaum lernen, das ist wirklich eine Frage des Talentes.

Dazu kommt dann, was beispielsweise meine Schwimmgeneration noch nicht konnte, und eigentlich jetzt, wenn man sich den Wettbewerb anschaut, schon ein paar so ähnlich drauf haben, nämlich sein Armzug. Man muss sich vorstellen, dass er das Wasser wie eine Wand benutzt und sich quasi an dieser Wand hochzieht, er zieht einfach geradeaus runter mit seinen Armen. Beispielsweise jetzt Michael Gross hat früher noch ein S beschrieben, das ist dann vom Gefühl her so wie, als ob man die Wand mit Gummiseilen hochgeht, also da hat man immer ein bisschen noch Spiel drin. Und da ist einfach tierisch Power dahinter. Das sind so beispielsweise drei Stichpunkte, die seine Schnelligkeit und diese neue Leistungsdimension, was jetzt die Leistungen an einem einzelnen Rennen anbetrifft, erklärt.

Hettinger: Bemerkenswert ist ja, dass Michael Phelps keine wirkliche Konkurrenz zu haben scheint. Sie haben es eben erwähnt, der macht ja allein schon beim Startsprung einen Meter gut. Der schwimmt wie von einem anderen Stern, deklassiert die anderen. Haben Sie eine Erklärung für diese derart drastische Dominanz, oder ist das wirklich nur ein Technikvorsprung?

Gross:: Also, ich denke mal, es ist die Kombination von allen den genannten Faktoren, diese Surfbrett-Geschichte, dieser tierische Beinschlag und dann einfach dieses gnadenlose Durchziehen mit seinen Armen, weil beispielsweise optisch sein Delfin-Schwimmen ja gar nicht schön aussieht. Also, von der Ästhetik her schwimmt er wirklich nicht brillant, insbesondere bei Delfin sieht das nicht so umwerfend aus, aber es gibt ja keinen Schönheitspreis zu gewinnen, sondern der Preis geht nach Zeit. Das Erstaunliche eigentlich an Michael Phelps ist die Erholungsfähigkeit, weil, dass man wirklich ein-, zweimal einen rauslässt und auch die Konkurrenz dann deklassiert, wobei das übrigens auch nicht immer der Fall ist, Stichwort 200 Meter Delfin beispielsweise waren das ganz normale Abstände, dann ist das wirklich so, dass er eine halbe Stunde später schon wieder einen Weltrekord schwimmt. Gerade jetzt am letzten Tag 200 Meter Lagen Weltrekord und Olympiasieg, Siegerehrung, und dann geht er von der Siegerehrung, die anderen müssen kurz warten, dass er sich seinen neuen Badeanzug da anzieht, und dann geht die 100 Meter Delfin Halbfinale los, wo er dann auch fast wieder olympischen Rekord schwimmt. Das ist das eigentlich Erstaunliche an dem Phänomen Michael Phelps. Die einzelne Leistung ist schon brillant, aber dann fast 20 Rennen, glaube ich, in dieser Woche und alle auf diesem extrem hohen Niveau.

Hettinger: Die Zeichen sind ja wohl so, dass da alles optimiert wird und in einer Weise sportwissenschaftlich, ernährungswissenschaftlich und, und, und betreut. Wie nehmen Sie das wahr? Unterscheidet sich der Schwimmsport jetzt, im Jahr 2008 in Peking, nennenswert zu den Zeiten, die Sie 1984 in Los Angeles, oder 1988 in Seoul miterlebt haben?

Gross: Ja, das sieht man einfach an den Leistungen sicherlich, und hinter den Leistungen steckt sicherlich auch eine weitere Professionalisierung. Das bedeutet beispielsweise, dass natürlich trainingswissenschaftlich sich in den letzten 20 Jahren auch weiterhin weiterentwickelt hat. Das hat mit Doping erst mal gar nichts zu tun, sondern schlicht und ergreifend ist es so, dass Menschen keine Schwimmer sind, wir sind Läufer, wir sind Landtiere, und deswegen, selbst Michael Phelps würde gegenüber einem frischgeborenen Delfin ziemlich alt aussehen, weil das sind nun mal andere Hebelverhältnisse und deswegen sind immer noch im Schwimmen Leistungssprünge in dieser Art auch möglich. Man sollte sich vielleicht in 20 Jahren darüber unterhalten, aber ich würde wetten, dass es irgendwann wieder einen Michael Phelps oder was Vergleichbares geben wird, der wiederum eine neue Tür aufstößt, weil einfach das Schwimmen von dem menschlichen Körper her betrachtet noch gar nicht ausgereizt ist.

Hettinger: Dennoch gibt es ja viele Kommentatoren, die sagen "Na ja, das ist zwar übermenschlich, was dieser Michael Phelps da macht, aber so der Restverdacht bleibt ein bisschen". Geht es da auch mit rechten Dingen zu? Heute Morgen haben wir in Deutschlandradio Kultur mit dem Kölner Dopingforscher Wilhelm Schänzer gesprochen und der hat gesagt, es hat trainingswissenschaftlich ganz gewaltige Fortschritte gegeben, es ist alles viel stärker systematisiert, aber man hinkt als Dopingforscher immer hinterher, und, es würde ihn nicht wundern, wenn hier leistungssteigernde Substanzen im Spiel waren, denen man einfach noch nicht auf die Spur gekommen ist. Wie bewerten Sie das?

Gross:: Also, er hat wesentlich mehr Ahnung von dem Thema als meine Person jetzt. Man braucht ja nur den "Spiegel" aufzuschlagen von dieser Woche, das Nachrichtenmagazin, und das Interview mit dem, man kann ja sagen schon, Drogendealer, der in Amerika viele Sportler, insbesondere in der Leichtathletik, nachweislich ja versorgt hat mit Dopingsubstanzen, die nicht nachweisbar sind. Letztlich muss ich als ehemaliger Sportler aber am Ende des Tages doch dafür plädieren, und das ist wichtig bei uns glaube ich, im Rechtsstaat insbesondere, solange nichts bewiesen ist, und das ist auch bei anderen Fällen der Fall, also beispielsweise bei dem Thema Wirtschaftskorruption et cetera, hinken die Ermittler, hinken diejenigen, die bestimmte Taten entdecken wollen, immer den Tätern hinterher. Nur ich als ehemaliger Sportler würde mir verbitten, zu sagen "also das geht nur mit Doping". Nein, das geht eben nicht nur mit Doping, weil, wenn es so wäre und das zynische Argument zutreffen würde "Der dümmste Doper verliert", dann sollten Olympische Spiele sich nicht mehr Olympische Spiele nennen, sondern Olympischer Zirkus, und dann wäre man quasi in die Zeiten des Alten Roms mit panem et circences zurückgekehrt.

Hettinger: "Die Süddeutsche Zeitung" hat geschrieben "Sein Aufstieg fällt in eine Ära des Sports, in der Athletenkörper wie Kriegsgeräte hochgerüstet werden". Sehen Sie das auch so?

Gross: Das ist ein bisschen sehr (…). Also, die Sportler selber sehen das natürlich gar nicht so, sondern sie machen das ja freiwillig und lassen sich da ja nicht vergewaltigen, insbesondere nicht zu Kriegsmaterial. Also, da würde ich wirklich widersprechen wollen. Es ist eher so, dass er, das kann man ja von der Leistungskurve seit seinem 15. Lebensjahr übrigens sehr schön verfolgen, dass er seitdem ja auf diesem extremen und exorbitant hohen Niveau sich befindet. Es ist ja nicht so, dass er von jetzt auf gleich so gut geworden ist, sondern seine Entwicklungskurve ist durchaus nachvollziehbar, vergleichbar mit anderen, halt "nur" ein, zwei Sekunden schneller, "nur" in Anführungszeichen. Insofern ist das alles relativ normal. Was mich jetzt als, ich sage mal, Insider wirklich beeindruckt und erstaunt, ist dieses extrem hohe Leistungsniveau, schon fast übermenschlich, weil normalerweise, beispielsweise meine Wenigkeit hat eigentlich bei jedem Wettkampf, Weltmeisterschaften, Olympische Spiele, ein Rennen oder zwei Rennen mal, in Anführungszeichen, "in den Sand gesetzt", das findet bei ihm bislang nicht statt. Also, für ihn wäre es vielleicht ganz gut, jetzt mal ein bisschen ironisch formuliert, wenn er mal ein Rennen verliert, einfach um zu zeigen, ich bin auch nicht der Übermensch, der ins Wasser springt und dann kann man quasi fünf Minuten später wieder in die Halle kommen und weiß, wie das Rennen ausgegangen ist.

Hettinger: Gehört das auch so ein bisschen zu dem Sporthelden dazu, dass er eine menschliche Seite hat? Von Michael Phelps weiß man, der beschäftigt sich mit drei Tätigkeiten: Schlafen, essen, schwimmen. Braucht man noch so eine weiche, durchaus fehlerbehaftete Seite, um beim Publikum so richtig auch in die Herzen zu schwimmen, um es pathetisch auszudrücken?

Gross:: Sicherlich kommt das dazu. Wir in Deutschland haben ja beispielsweise die Franziska von Almsick gehabt als hervorragende Schwimmerin, die halt leider es nie geschafft hat, obwohl sie es extrem verdient hätte, Olympiasiegerin zu werden, in keiner Einzeldisziplin, auch in keiner Staffel. Und das ist ein Phänomen, dass dann dazukommt, dass sie einfach ein Typ ist, dass sie einfach einen Charakter hat. Sie leidet, mit ihr kann man mitleiden. Michael Phelps ist einfach schon zu, ja, wie soll ich sagen, zu perfekt. Das ist schon eine andere Liga, eine andere Dimension. Ich persönlich finde, meine Erfahrung auch ist, dass Niederlagen einen fast mehr formen, als ständiges Gewinnen. Das Zweite ist, also für mich war Schwimmen immer ein nettes Hobby. Das Thema schlafen, essen und schwimmen, da waren bei mir Minimum immer zwei, drei andere Sachen, die ich noch gemacht habe und vom zeitlichen Umfang auch wesentlich mehr als das Schwimmen.

Hettinger: Warum ist das Bedürfnis nach solchen Figuren gerade im Sport so riesengroß?

Gross: Der Sport lebt von Helden. Helden sind aber auch Leute, die scheitern können, Helden sind Leute, die auch Fehler haben. Es sind ja keine Götter. Das ist eben der große Unterschied seit der griechischen Sage, dass die Helden eben auch dort scheitern. Die berühmtesten Helden im Sport, beispielsweise jetzt aus Deutschland wie ein Boris Becker, der war ja auch so eine Figur, weil er eben auch im Scheitern Größe gezeigt hat und man mit ihm mitleiden konnte et cetera. Das gehört eben auch dazu. Insofern kann man in Sportler auch bestimmte Sehnsüchte hineinprojizieren, die halt der Normalbürger eben so nie erleben wird.

Hettinger: Solche olympischen Duelle, oder überhaupt Duelle im Sport sind ja Zweikämpfe, die es dann auch in sich haben. Da gibt es einen Gewinner, einen Verlierer. Warum ist ausgerechnet bei den Schwimmern das Phänomen dieses unangefochtenen Solitärs, der wirklich alles abräumt, so häufig? Ich denke da an Mark Spitz, da fing es ja eigentlich an, oder jetzt Michael Phelps. Ist das Zufall?

Gross:: Das ist kein Zufall. Das liegt auch ein bisschen an dem Sport. Durch die Disziplinvielfalt auf der einen Seite und gleichzeitig durch die Möglichkeit, doch technisch bestimmte Disziplinen zu kombinieren, das war dann beispielsweise auch meiner Person möglich. Ich war beispielsweise jetzt 1985 in der Lage, seit Mark Spitz zum ersten Mal wieder parallel vier Weltrekorde in vier unterschiedlichen Disziplinen zu halten. Das war für mich persönlich so der Höhepunkt der Karriere, und hab dann auch von 100 Meter Schmetterling, oder 200 Meter Schmetterling, 400 Meter Freistil, ganz unterschiedliche Disziplinen geschwommen. Das liegt eben am Schwimmen, dass Sie, wenn Sie jemanden haben, der eben koordinativ in der Lage ist, relativ schnell auf unterschiedliche Disziplinen umzuschalten und diese dann doch relativ perfekt zu beherrschen, dass Sie dann die Möglichkeit haben, dementsprechend auch mehr Medaillen zu holen. Punkt eins. Punkt zwei ist, Sie haben gerade zwei amerikanische Sportler genannt, und es kommt bei den Amerikanern dazu, dass sie eben in den Staffeln immer vorne liegen. Und alleine im Schwimmen gibt es drei Staffeln. Das bedeutet, wenn sie bei zwei Olympischen Spielen teilnehmen und nur bei den Staffeln mitschwimmen, die dann gewinnen, haben sie sechs Goldmedaillen.

Hettinger: Der Weltklasseschwimmer Michael Gross, dreifacher Olympiasieger und mehrfacher Weltrekordhalter, über das Phänomen Michael Phelps. Das Thema Olympia beschäftigt uns auch morgen nach den 9:00-Uhr-Nachrichten. Da heißt es "Zwischenpolitik und Kommerz- wo bleibt der olympische Geist?". Da sind Sie, die Hörer, natürlich aufgefordert zum Mitdiskutieren. Herr Gross, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.