"Das ist wirklich eine große Autorin"
Alice Munro ist "die große Meisterin der Short Story", sagt die Literaturkritikerin Manuela Reichart - und bedauert, dass die Kurzgeschichte vor allem hierzulande so wenig geschätzt werde. Doch Munro schaffe es, auf wenigen Seiten ganze Biografien zu entwickeln.
Dieter Kassel: Die kanadische Autorin und, wie wir seit heute wissen, Trägerin des Nobelpreises für Literatur 2013, Alice Monroe. Sie hat da gerade erzählt, dass sie, als sie das Märchen von der kleinen Meerjungfrau von Hans-Christian Andersen gelesen hat, sehr enttäuscht und sehr, sehr traurig war, weil diese Geschichte so negativ endet, und sie ist dann hin- und hergelaufen zuhause und hat sich ein schöneres Ende ausgedacht, ein Happy End – am Ende hat die Meerjungfrau ihren Prinzen bekommen und es gab keine Katastrophe mehr am Schluss. Und sie habe eigentlich immer sich Geschichten ausgedacht und habe das bloß ziemlich lange gar nicht schreiben, schriftstellerisch arbeiten genannt.
Die Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro ist unser Thema jetzt im Gespräch mit der Literaturkritikerin Manuela Reichart, die natürlich da ist, wo die Literaturkritiker jetzt absolut alle sind, nämlich in Frankfurt am Main. Schönen guten Tag, Frau Reichart!
Manuela Reichart: Ich grüße Sie!
Kassel: Wenn wir das so hören: Sie hat sich bei dieser Geschichte von der kleinen Meerjungfrau extra ein Happy End ausgedacht: Neigt sie auch bei ihren eigenen Short Storys zum Happy End?
Reichart: Ja, man könnte sagen: Gut, wenn man als ganz junge Autorin, also in dem Fall noch im Kinderalter, schon den Schwerpunkt auf das Happy End legt, dann braucht man das später nicht mehr zu machen. Nein, das ist keine Autorin, die jetzt Geschichten erzählt, die am Ende immer so beruhigend ausgehen und man kann das Licht ausknipsen und sagen, wie schön ist das Leben.
Kassel: Ich frage mich, wie ihr Leben ist. Ich habe mir so ein bisschen, nachdem ich ihren Lebenslauf natürlich gelesen habe, vorgestellt, wie sie wohl gelebt hat, als sie diese Geschichte von der Meerjungfrau gelesen hat, denn eins ist ja klar, Frau Reichart: In einem hochintellektuellen Haushalt mit literarischen Salons ist sie nicht gerade aufgewachsen.
Reichart: Nein, sie ist in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern haben gedacht, sie würden mit einer Silberfarm zu Geld zu kommen. Der Vater war ein sehr dem Landleben zugeneigter Mann, die Mutter war Lehrerin gewesen. Dann haben sie diese Silberfuchsfarm aufgemacht. Und dann gab es die Weltwirtschaftskrise und niemand hat sich mehr für Pelze interessiert, und dann war die Familie wirklich sehr arm, und es gab auch nicht sehr viele Bücher in ihrem Haus.
Und für Alice Munro war aber das Lesen, wie ja oft …die Tochter von Alice Munro hat mir erzählt, dass wahrscheinlich ihre Mutter ein Beispiel dafür ist, dass das, was wir Bildungsferne nennen, wenn es an den Besitz oder an die Möglichkeit zu lesen, also von Büchern gekoppelt ist –, dass das die beste Voraussetzung ist, um wirklich sich mit Literatur zu beschäftigen. Also arme Verhältnisse, sie hat ein Stipendium bekommen, hat dann studieren können, aber nur für zwei Jahre, und dann hat sie sehr früh, mit 20, geheiratet.
Kassel: Das ist jetzt der wichtigste Literaturpreis der Welt, den sie bekommt. Sie selber ist aber auf eine gewisse Art und Weise ja nicht unbedingt eine weltgewandte Autorin. Sie hat ihr ganzes Leben in dem kanadischen Bundesstaat verbracht, in dem sie geboren wurde, in Ontario.
Reichart: Ja, sie ist mal umgezogen mit ihrem Mann, sie hat mal eine Buchhandlung mit ihm geführt, ‘73 war dann die Trennung des Ehepaars. Sie hat drei Töchter. Und dann hat sie später ihren jetzigen Mann geheiratet, der war der Allererste, der eine Geschichte von ihr in einer Studentenzeitschrift veröffentlicht hat – also, wenn man so will, eine Frau mit einer großen Kontinuität. Sie selber hat dazu mal einen sehr schönen Satz gesagt, der lautete: Flaubert habe einmal gesagt, lebe ein ordentliches Leben wie ein Bürger, damit du leidenschaftlich und originell in deinem Werk sein kannst.
Kassel: Sind das denn Ontario-Geschichten, die sie erzählt, oder könnten die im Prinzip überall spielen?
Reichart: Es sind keine kanadischen Geschichten. Es sind Geschichten, die im Wesentlichen oder in den meisten Geschichten sich um das Leben, um die Existenz von Frauen und Mädchen drehen. Aber es gibt auch sehr, sehr schöne Texte, in denen ein Mann im Zentrum steht. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere: Es gab vor ein paar Jahren mal einen Film mit Julie Christie, die spielte da eine demenzkranke Frau und was das bedeutet für den Mann und für diese Ehe. Also da gibt es auch Geschichten, die sich um das Leben von Männern drehen. Aber meistens ist es weibliches Leben, um das es geht in ihren Geschichten, und, ja, um die verlorenen Träume, um Illusionen, um Hoffnungen.
Kassel: Was ist denn das für eine Sprache, die sie auszeichnet?
Reichart: Also erst mal noch zur Sprache: Sie hat inzwischen eine wunderbare deutsche Übersetzerin, Heidi Zerning, die sie wirklich so gut ins Deutsche übersetzt, dass sie diesen Munro-Ton tatsächlich trifft, also, wenn man so will, einen Ton, der von der amerikanischen Short Story geprägt ist, also einer, der nicht die großen Gefühle formuliert, sondern mit sehr knappen, sehr genauen Formulierungen ganze Biografien entwickelt auf wenigen Seiten. Das ist das Entscheidende. Sie ist wirklich in der Lage, in diesen kurzen Erzählungen, ja, von einem ganzen Leben zu berichten und die Bruchstellen, wenn man so will, die es ja in jedem Leben gibt, sehr deutlich zu machen.
Kassel: Jonathan Franzen hat über sie gesagt, sie könne auf 30 Seiten das tun, wofür er 800 braucht.
Reichart: Genau.
Kassel: Also im Grunde genommen: Wenn man, was deutsche Leser ja, glaube ich, ja leider ab und zu noch tun, wenn man so ein bisschen auf die Short Story guckt als so etwas, was nicht so viel wert ist wie ein ganzer Roman, dann tut man gerade dieser Autorin sicherlich Unrecht.
Reichart: Man tut ihr Unrecht. Sie selber hat auch irgendwann mal gedacht, sie müsse den Roman des Lebens schreiben, weil man immer so etwas herabguckt auf die kurzen Erzählungen, und hat dann gemerkt: Das ist nicht ihre Sache. Sie arbeitet sehr lange an ihren Erzählungen. Es gibt inzwischen sehr viele. Es gibt ja zwei Verlage, die sich bei uns jetzt ihres Werks annehmen, das ist einmal der Fischer-Verlag in Frankfurt und es ist der kleine Schweizer Dörlemann-Verlag, da ist im letzten Jahr auch ihr Band erschienen "Was ich dir schon immer sagen wollte". Das war, glaube ich, ihr zweiter.
Vor 20 Jahren ungefähr hat das schon mal Klett-Cotta versucht. Da hat das nicht funktioniert, aber inzwischen ist sie einfach…. Also deswegen Überraschung – einerseits ja, weil sie immer auf der Liste stand und nie den Nobelpreis bekommen hat. Ich weiß, im letzten Jahr hat noch ein renommierter Kollege dann irgendwie gesagt, ach, Alice Munro, die schreibt doch immer dasselbe, sind doch immer nur Erzählungen, nur Erzählungen. Und es ist auf der anderen Seite doch eben dann ein sehr verdienter Preis. Sie hat wirklich alle angloamerikanischen Preise bekommen und alle Autoren – Sie haben Jonathan Franzen erwähnt –, bei uns kann man auch erwähnen andere Autoren, die sehr, sehr sich für ihr Werk eingesetzt haben. Und das war immer schon klar: Das ist eine wirklich große Autorin.
Kassel: Könnte das, Frau Reichart, auch ein bisschen wirklich das Ansehen der Short Story in Deutschland verändern? Denn Sie werden ja nicht widersprechen: Gerade bei uns haben es Geschichtensammlungen, haben es Erzählbände ja doch etwas schwerer als Romane.
Reichart: Genau, weil man immer noch denkt, 800 Seiten sind besser als 18. Und darum geht es aber nicht in der Literatur. Es geht genau darum, den Ton zu finden, der zu einer Geschichte passt. Also nur noch mal, um ein Beispiel zu sagen, eine meiner Lieblingsgeschichten heißt "Die Kinder bleiben hier". Es fängt irgendwie mit einer richtigen Idylle an, junges Paar am Strand, zwei kleine Kinder – und dann macht sie einen Schnitt. Und dann erzählt sie davon, 20 Jahre später, wie die Frau diese Familie verlassen hat, weil sie sich verliebt hat, leidenschaftlich, in irgend so einen Pseudokünstler, mit dem sie dann auf und davon ist, die Kinder dagelassen hat. Der Mann sagt dann eben, okay, du kannst gehen, aber die Kinder bleiben hier. Und sie reflektiert viel später: Was hat sie verloren? Wie sind die Kinder damit umgegangen? Was ist das Ganze eigentlich gewesen in ihrem Leben?
Und das ist einerseits die Kunst, diesen Bruch zu machen und ein ganzes Leben Revue passieren zu lassen, und dann ist es aber auch noch die Kunst, wenn man jetzt denken würde so als Leserin, na ja, warum hat sie jetzt die Kinder verlassen – hätte sie nicht da bleiben können – für diesen Affen, hat es sich gelohnt, es hat sich doch eigentlich nicht gelohnt – und das macht sie aber nicht. Sie hilft uns gar nicht, dann moralisch zu lesen oder zu urteilen oder eine Figur einzuordnen, sondern sie zeigt uns nur, was dieses Leben eigentlich ist. Ihr neuester Band auf Englisch heißt "Dear Life", finde ich einen wunderbaren Titel, übersetzt kann man sagen "Liebes Leben", oder "Liebesleben", und ich glaube, das ist eigentlich so das Motto all ihrer Geschichten.
Kassel: Ist das – zum Schluss, Frau Reichart – auch eine sehr bedeutende Auszeichnung für die kanadische Literatur? Mir scheint immer, die stehen ja gleich unter einem Doppelschatten, a) natürlich der US-amerikanischen Kultur, aber natürlich auch der britischen Literaturszene. Man nimmt die immer nicht so wahr. Es hat, glaube ich, aber noch nie darüber jemand nachgedacht, dass die noch nie einen Literaturnobelpreis bekommen haben.
Reichart: Genau.
Kassel: Ist das für Kanada und auch für die Wahrnehmung relevant jetzt?
Reichart: Ganz bestimmt. Es gibt ja auch noch andere wichtige kanadische Autoren und Autorinnen. Ich finde das wunderbar, dass die Jury jetzt so entschieden hat, weil man hat ja im Vorfeld gesagt, es müsste jetzt eigentlich mal wieder ein amerikanischer Autor, also aus dem englischen, original englisch-amerikanischen Sprachbereich sein, und dass sie sich jetzt für diese große Meisterin der Short Story entschieden haben, ist wirklich auch für die kanadische Literatur eine Anerkennung, die sie längst schon verdient hat.
Kassel: Herzlichen Dank, Frau Reichart! Manuela Reichart war das, Literaturkritikerin, über die kanadische Autorin Alice Munro, die in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur bekommt. Heidi Zerning wurde in unserem Gespräch erwähnt, ihre deutsche Übersetzerin, wir werden versuchen, mit der zum Beispiel heute Abend in unserer Sendung "Fazit" zu sprechen, in der es so oder so auch noch mal um den Literaturnobelpreis gehen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro ist unser Thema jetzt im Gespräch mit der Literaturkritikerin Manuela Reichart, die natürlich da ist, wo die Literaturkritiker jetzt absolut alle sind, nämlich in Frankfurt am Main. Schönen guten Tag, Frau Reichart!
Manuela Reichart: Ich grüße Sie!
Kassel: Wenn wir das so hören: Sie hat sich bei dieser Geschichte von der kleinen Meerjungfrau extra ein Happy End ausgedacht: Neigt sie auch bei ihren eigenen Short Storys zum Happy End?
Reichart: Ja, man könnte sagen: Gut, wenn man als ganz junge Autorin, also in dem Fall noch im Kinderalter, schon den Schwerpunkt auf das Happy End legt, dann braucht man das später nicht mehr zu machen. Nein, das ist keine Autorin, die jetzt Geschichten erzählt, die am Ende immer so beruhigend ausgehen und man kann das Licht ausknipsen und sagen, wie schön ist das Leben.
Kassel: Ich frage mich, wie ihr Leben ist. Ich habe mir so ein bisschen, nachdem ich ihren Lebenslauf natürlich gelesen habe, vorgestellt, wie sie wohl gelebt hat, als sie diese Geschichte von der Meerjungfrau gelesen hat, denn eins ist ja klar, Frau Reichart: In einem hochintellektuellen Haushalt mit literarischen Salons ist sie nicht gerade aufgewachsen.
Reichart: Nein, sie ist in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern haben gedacht, sie würden mit einer Silberfarm zu Geld zu kommen. Der Vater war ein sehr dem Landleben zugeneigter Mann, die Mutter war Lehrerin gewesen. Dann haben sie diese Silberfuchsfarm aufgemacht. Und dann gab es die Weltwirtschaftskrise und niemand hat sich mehr für Pelze interessiert, und dann war die Familie wirklich sehr arm, und es gab auch nicht sehr viele Bücher in ihrem Haus.
Und für Alice Munro war aber das Lesen, wie ja oft …die Tochter von Alice Munro hat mir erzählt, dass wahrscheinlich ihre Mutter ein Beispiel dafür ist, dass das, was wir Bildungsferne nennen, wenn es an den Besitz oder an die Möglichkeit zu lesen, also von Büchern gekoppelt ist –, dass das die beste Voraussetzung ist, um wirklich sich mit Literatur zu beschäftigen. Also arme Verhältnisse, sie hat ein Stipendium bekommen, hat dann studieren können, aber nur für zwei Jahre, und dann hat sie sehr früh, mit 20, geheiratet.
Kassel: Das ist jetzt der wichtigste Literaturpreis der Welt, den sie bekommt. Sie selber ist aber auf eine gewisse Art und Weise ja nicht unbedingt eine weltgewandte Autorin. Sie hat ihr ganzes Leben in dem kanadischen Bundesstaat verbracht, in dem sie geboren wurde, in Ontario.
Reichart: Ja, sie ist mal umgezogen mit ihrem Mann, sie hat mal eine Buchhandlung mit ihm geführt, ‘73 war dann die Trennung des Ehepaars. Sie hat drei Töchter. Und dann hat sie später ihren jetzigen Mann geheiratet, der war der Allererste, der eine Geschichte von ihr in einer Studentenzeitschrift veröffentlicht hat – also, wenn man so will, eine Frau mit einer großen Kontinuität. Sie selber hat dazu mal einen sehr schönen Satz gesagt, der lautete: Flaubert habe einmal gesagt, lebe ein ordentliches Leben wie ein Bürger, damit du leidenschaftlich und originell in deinem Werk sein kannst.
Kassel: Sind das denn Ontario-Geschichten, die sie erzählt, oder könnten die im Prinzip überall spielen?
Reichart: Es sind keine kanadischen Geschichten. Es sind Geschichten, die im Wesentlichen oder in den meisten Geschichten sich um das Leben, um die Existenz von Frauen und Mädchen drehen. Aber es gibt auch sehr, sehr schöne Texte, in denen ein Mann im Zentrum steht. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere: Es gab vor ein paar Jahren mal einen Film mit Julie Christie, die spielte da eine demenzkranke Frau und was das bedeutet für den Mann und für diese Ehe. Also da gibt es auch Geschichten, die sich um das Leben von Männern drehen. Aber meistens ist es weibliches Leben, um das es geht in ihren Geschichten, und, ja, um die verlorenen Träume, um Illusionen, um Hoffnungen.
Kassel: Was ist denn das für eine Sprache, die sie auszeichnet?
Reichart: Also erst mal noch zur Sprache: Sie hat inzwischen eine wunderbare deutsche Übersetzerin, Heidi Zerning, die sie wirklich so gut ins Deutsche übersetzt, dass sie diesen Munro-Ton tatsächlich trifft, also, wenn man so will, einen Ton, der von der amerikanischen Short Story geprägt ist, also einer, der nicht die großen Gefühle formuliert, sondern mit sehr knappen, sehr genauen Formulierungen ganze Biografien entwickelt auf wenigen Seiten. Das ist das Entscheidende. Sie ist wirklich in der Lage, in diesen kurzen Erzählungen, ja, von einem ganzen Leben zu berichten und die Bruchstellen, wenn man so will, die es ja in jedem Leben gibt, sehr deutlich zu machen.
Kassel: Jonathan Franzen hat über sie gesagt, sie könne auf 30 Seiten das tun, wofür er 800 braucht.
Reichart: Genau.
Kassel: Also im Grunde genommen: Wenn man, was deutsche Leser ja, glaube ich, ja leider ab und zu noch tun, wenn man so ein bisschen auf die Short Story guckt als so etwas, was nicht so viel wert ist wie ein ganzer Roman, dann tut man gerade dieser Autorin sicherlich Unrecht.
Reichart: Man tut ihr Unrecht. Sie selber hat auch irgendwann mal gedacht, sie müsse den Roman des Lebens schreiben, weil man immer so etwas herabguckt auf die kurzen Erzählungen, und hat dann gemerkt: Das ist nicht ihre Sache. Sie arbeitet sehr lange an ihren Erzählungen. Es gibt inzwischen sehr viele. Es gibt ja zwei Verlage, die sich bei uns jetzt ihres Werks annehmen, das ist einmal der Fischer-Verlag in Frankfurt und es ist der kleine Schweizer Dörlemann-Verlag, da ist im letzten Jahr auch ihr Band erschienen "Was ich dir schon immer sagen wollte". Das war, glaube ich, ihr zweiter.
Vor 20 Jahren ungefähr hat das schon mal Klett-Cotta versucht. Da hat das nicht funktioniert, aber inzwischen ist sie einfach…. Also deswegen Überraschung – einerseits ja, weil sie immer auf der Liste stand und nie den Nobelpreis bekommen hat. Ich weiß, im letzten Jahr hat noch ein renommierter Kollege dann irgendwie gesagt, ach, Alice Munro, die schreibt doch immer dasselbe, sind doch immer nur Erzählungen, nur Erzählungen. Und es ist auf der anderen Seite doch eben dann ein sehr verdienter Preis. Sie hat wirklich alle angloamerikanischen Preise bekommen und alle Autoren – Sie haben Jonathan Franzen erwähnt –, bei uns kann man auch erwähnen andere Autoren, die sehr, sehr sich für ihr Werk eingesetzt haben. Und das war immer schon klar: Das ist eine wirklich große Autorin.
Kassel: Könnte das, Frau Reichart, auch ein bisschen wirklich das Ansehen der Short Story in Deutschland verändern? Denn Sie werden ja nicht widersprechen: Gerade bei uns haben es Geschichtensammlungen, haben es Erzählbände ja doch etwas schwerer als Romane.
Reichart: Genau, weil man immer noch denkt, 800 Seiten sind besser als 18. Und darum geht es aber nicht in der Literatur. Es geht genau darum, den Ton zu finden, der zu einer Geschichte passt. Also nur noch mal, um ein Beispiel zu sagen, eine meiner Lieblingsgeschichten heißt "Die Kinder bleiben hier". Es fängt irgendwie mit einer richtigen Idylle an, junges Paar am Strand, zwei kleine Kinder – und dann macht sie einen Schnitt. Und dann erzählt sie davon, 20 Jahre später, wie die Frau diese Familie verlassen hat, weil sie sich verliebt hat, leidenschaftlich, in irgend so einen Pseudokünstler, mit dem sie dann auf und davon ist, die Kinder dagelassen hat. Der Mann sagt dann eben, okay, du kannst gehen, aber die Kinder bleiben hier. Und sie reflektiert viel später: Was hat sie verloren? Wie sind die Kinder damit umgegangen? Was ist das Ganze eigentlich gewesen in ihrem Leben?
Und das ist einerseits die Kunst, diesen Bruch zu machen und ein ganzes Leben Revue passieren zu lassen, und dann ist es aber auch noch die Kunst, wenn man jetzt denken würde so als Leserin, na ja, warum hat sie jetzt die Kinder verlassen – hätte sie nicht da bleiben können – für diesen Affen, hat es sich gelohnt, es hat sich doch eigentlich nicht gelohnt – und das macht sie aber nicht. Sie hilft uns gar nicht, dann moralisch zu lesen oder zu urteilen oder eine Figur einzuordnen, sondern sie zeigt uns nur, was dieses Leben eigentlich ist. Ihr neuester Band auf Englisch heißt "Dear Life", finde ich einen wunderbaren Titel, übersetzt kann man sagen "Liebes Leben", oder "Liebesleben", und ich glaube, das ist eigentlich so das Motto all ihrer Geschichten.
Kassel: Ist das – zum Schluss, Frau Reichart – auch eine sehr bedeutende Auszeichnung für die kanadische Literatur? Mir scheint immer, die stehen ja gleich unter einem Doppelschatten, a) natürlich der US-amerikanischen Kultur, aber natürlich auch der britischen Literaturszene. Man nimmt die immer nicht so wahr. Es hat, glaube ich, aber noch nie darüber jemand nachgedacht, dass die noch nie einen Literaturnobelpreis bekommen haben.
Reichart: Genau.
Kassel: Ist das für Kanada und auch für die Wahrnehmung relevant jetzt?
Reichart: Ganz bestimmt. Es gibt ja auch noch andere wichtige kanadische Autoren und Autorinnen. Ich finde das wunderbar, dass die Jury jetzt so entschieden hat, weil man hat ja im Vorfeld gesagt, es müsste jetzt eigentlich mal wieder ein amerikanischer Autor, also aus dem englischen, original englisch-amerikanischen Sprachbereich sein, und dass sie sich jetzt für diese große Meisterin der Short Story entschieden haben, ist wirklich auch für die kanadische Literatur eine Anerkennung, die sie längst schon verdient hat.
Kassel: Herzlichen Dank, Frau Reichart! Manuela Reichart war das, Literaturkritikerin, über die kanadische Autorin Alice Munro, die in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur bekommt. Heidi Zerning wurde in unserem Gespräch erwähnt, ihre deutsche Übersetzerin, wir werden versuchen, mit der zum Beispiel heute Abend in unserer Sendung "Fazit" zu sprechen, in der es so oder so auch noch mal um den Literaturnobelpreis gehen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.