Die eingebildeten Heiligen
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In Jerusalem liegen wichtige Stätten dreier Weltreligionen. Manchen Menschen scheint so viel Heiligkeit zu Kopf zu steigen: Sie halten sich plötzlich selbst für König David oder Jesus. Die Psychologie spricht vom „Jerusalem-Syndrom“.
Heilige Orte fordern heraus. Ganz besonders in Jerusalem, wo gleich drei Weltreligionen ihr Zentrum verorten oder wichtige Stätten verehren. Da bleibt es zuweilen nicht aus, dass mancher Besucher von so viel Heiligkeit überfordert ist, in einen religiösen Wahn verfällt und sich plötzlich selbst für einen Propheten, für König David oder Jesus selbst hält.
Ein Selfie mit König David an der Klagemauer
Der Jerusalemer Psychiater Heinz Herman beschrieb dieses "Jerusalem-Syndrom" in den 1930er-Jahren zum ersten Mal als behandlungsbedürftige psychische Auffälligkeit. Georg Röwekamp, Theologe, Historiker und Leiter des Jerusalembüros des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande, kennt auch einen Fall aus jüngerer Zeit.
"Über Jahre gab es einen Mann, der in der Nähe der Westmauer, der Klagemauer, stand und sich als König David gerierte, Harfe spielte und sang", sagt Röwekamp. "Mir ist nie hundertprozentig klar geworden, ob das vielleicht am Anfang eher eine Masche war, um Touristen zu begeistern, zum Fotomotiv zu werden, Spenden zu sammeln. Je länger, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass er sich wirklich mit dem König identifiziert hat und zumindest voll in seiner Rolle aufgegangen ist."
Dieser König David gehörte in den 1990er-Jahren selbstverständlich zum Jerusalemer Stadtbild dazu. Mittlerweile hat ihn ein Mann aus Amerika abgelöst. Angetan mit einem bodenlangen weißen Gewand, einer Decke über der Schulter und einen knotigen Stock in der Hand, wandelt er barfuß und mit wallendem Haar durch die Gassen, und jeder denkt sofort: Oh, Jesus! Meistens ist er in oder um die Grabeskirche herum anzutreffen.
Jesus-Double mit Lizenz zum Beten
"Ich bin tatsächlich die meiste Zeit hier, auch jetzt, wo die Kirche geschlossen ist. Ich habe eine Genehmigung, denn ich nehme an den Gottesdiensten teil. Ich bleibe, bis sie zu Ende sind, das ist jeden Tag von fünf bis acht Uhr am Morgen und dann wieder zur Prozession von fünf bis sechs Uhr am Nachmittag."
James Joseph nennt sich der Mittfünfziger, vielleicht heißt er aber auch Carl Joseph, wie die Washington Post nahelegt, die ihn vor einigen Jahren portraitiert hat. Er stammt aus Detroit im US-Bundesstaat Michigan.
"Das erste Mal war ich vor 27 Jahren hier. Dann fragte mich vor elf Jahren jemand, wo man am besten die Osterwoche verbringen kann, und ich habe gesagt: im Heiligen Land. Diese Leute haben dann eine Reise organisiert und mich eingeladen mitzukommen. Irgendwann sind sie wieder nach Hause gefahren – und ich bin geblieben. Seitdem war ich in den letzten elf Jahren die meiste Zeit hier."
Schon mit zwölf Jahren die Berufung verspürt
Ob er einen Beruf hat, was er ansonsten in Amerika gemacht hat? Solche Fragen beantwortet James Joseph nie konkret, sondern gerne mit dem Hinweis darauf, dass er bereits im Alter von zwölf Jahren seine Berufung fand, und zwar auf der Jesuitenschule, die er in Detroit besuchte. Der Ordensgründer Ignatius von Loyola wurde dort sein Vorbild.
"Ich verspürte den starken Drang, ein religiöses Leben zu führen", sagt Joseph. "Meine Lehrer bestärkten mich darin, und so entschied ich mich, in völliger Armut zu leben. Ich lebe ohne Geld, ohne Besitztümer und sogar ohne ein Zuhause. Und das tue ich seit etwa 30 Jahren, aber es geht mir nicht darum, einfach nur so zu leben und zu beten, sondern, so wie jetzt gerade, die Botschaft des Evangeliums mit der Welt zu teilen."
Warum hast Du keine Schuhe?
Er tritt nicht als Prediger auf und versucht auch nicht, andere von seinem Glauben zu überzeugen. Trotzdem wird der freundliche James Joseph oft von Touristen angesprochen und nach seinen Überzeugungen gefragt. Aber die Leute wollen auch ganz lebenspraktische Dinge wissen. "'Warum hast du keine Schuhe? Wo sind deine Schuhe?' Solche Dinge wollen die Leute wissen."
Obwohl er barfuß läuft und sein Gewand Flecken hat, sieht James Joseph nicht wie ein Obdachloser aus. Die Frage, wo er übernachtet und duscht, beantwortet er ganz im Sinne seiner Botschaft:
"Jesus hat einmal gesagt: Füchse haben Löcher und Vögel haben Nester, aber der Menschensohn hat keinen Platz, wo er seinen Kopf hinlegen kann. Aber dieses Leben hat was. Manchmal ist es schwierig, wie man sich vorstellen kann, aber Gott gibt die Gnade. Und wenn Gott einem die Gnade gibt, ist es eigentlich das freieste Leben, das man sich vorstellen kann. Ich mache mir keine Sorgen, zum Beispiel über Geld und über die Zukunft und über all diese Dinge. Es ist eine große Hilfe, sich auf das Wichtigste zu konzentrieren."
Jesus? Ich? Niemals!
Hält er sich nicht auch selbst ein bisschen für Jesus, dessen Vorbild er zumindest in seiner äußeren Erscheinung nachfolgt? "Nein, niemals! Aber das musstest du natürlich fragen!"
Die Identifizierung mit biblischen Geschichten oder Personen hat es auch schon in früheren Zeiten gegeben. Der Kirchenvater Hieronymus, der im Jahr 420 in Bethlehem gestorben ist, berichtet zum Beispiel, dass man tatsächlich das Kind in der Krippe liegen sehe, wenn man nur lange genug in der Geburtsgrotte verweile. Der Theologe Georg Röwekamp nennt einen weiteren historischen Fall:
"Das vielleicht eindrücklichste Beispiel ist einige Jahrhunderte später, im 14. Jahrhundert, Birgitta von Schweden, eine Ordensfrau, die nach Bethlehem und ins Heilige Land kommt, an vielen Stellen Visionen hat, die sie aufschreibt und die die abendländische Kunst bis heute geprägt haben, bis hin auch zu den Darstellungen der Geburt, wo seit dieser Zeit häufig Maria kniend, anbetend vor dem Kind dargestellt wird – was eigentlich eine unnatürliche Haltung ist für eine Mutter, die gerade geboren hat."
Diese ungewöhnliche Darstellung gehe auf eine Vision der Birgitta zurück, die sich, wie Maria auf diesen Bildern, kniend in der Geburtsgrotte vor dem Ort der Geburt aufgehalten habe und dabei dann das Kind vor sich sah, so Röwekamp: "Sie identifiziert sich mit Maria, aus ihr wird sozusagen auch Jesus geboren. Es ist ein Zeugnis dafür, wie seelisch bewegend über alle Zeiten hinweg der Besuch in Jerusalem, in Bethlehem an den heiligen Stätten sein kann."
Zwei Typen des Jerusalem-Syndroms
Im 21. Jahrhundert wird jemand, der Visionen hat oder in Zungen redet, nicht verehrt, sondern eher in die Psychiatrie eingewiesen. In Jerusalem ist das psychiatrische Kfar-Shaul-Hospital auf solche Fälle spezialisiert. Das dortige Notfallzentrum leitet seit 1997 Dr. Grigori Katz.
"Üblicherweise unterschieden wir zwei Typen des Jerusalem-Syndroms", sagt Dr. Katz. "Das erste ist das sogenannte 'reine Jerusalem-Syndrom', das sich gewöhnlich bei Personen entwickelt, die nie irgendwelche psychischen Probleme hatten. Das sind meist streng religiöse Menschen, die aus kleinen Städten oder Dörfern stammen. Sie kommen mit einer sehr hohen Erwartung nach Jerusalem, und manchmal, wenn sie die heiligen Stätten besuchen, werden sie so von Emotionen überwältigt, von ihren ekstatischen Gefühlen, dass es zu seelischen Zusammenbrüchen und psychotischen Zuständen kommt."
Ein bis zwei Fälle dieser Art hat Dr. Katz in der Vergangenheit behandelt. Hinzu kamen etwa 20 Personen, die zum zweiten Typ des Jerusalem-Syndroms gehören. Diese haben für gewöhnlich psychische Vorerkrankungen. Alle werden eingeliefert, weil ihr Auftreten in der Altstadt zu Ärger geführt hat. Die jüdische und arabische Umwelt wollte sich eben nicht taufen oder bekehren lassen.
Fast alle kommen aus den USA und Europa
"In 60 bis 65 Prozent der Fälle sind Frauen die Betroffenen", erklärt Dr. Katz. "Die meisten waren Christen, nur sehr wenige von ihnen hatten einen jüdischen Hintergrund. Fälle mit muslimischem Hintergrund gab es vielleicht ein oder zwei. Also etwa 80 Prozent waren Protestanten aus Schweden, Finnland, Dänemark, auch evangelikale Protestanten und vor allem Pfingstler aus den Vereinigten Staaten hatten wir hier schon."
Nach einigen Tagen im Kfar-Shaul-Hospital und einer leichten medizinischen Behandlung können die meisten Menschen ohne psychische Vorerkrankung wieder nach Hause gehen. Eine Statistik darüber, wie viele Menschen insgesamt vom Jerusalem-Syndrom befallen werden, aber keine Behandlung brauchen, gibt es nicht. Dr. Katz berichtet nicht ohne Verwunderung, dass er seit 2009 keinen einzigen Fall mehr in seinem Hospital zu Gesicht bekommen habe:
"Ich habe dafür einige Erklärungen, aber ich kann sie nicht beweisen. Zum einen vermute ich, dass es in den westlichen Ländern mittlerweile allgemein weniger streng religiöse Menschen gibt. Zweitens: Die Leute können jetzt bei Google alle Orte sehen und sich informieren, und sie fühlen sich nicht mehr so überwältigt, wenn sie nach Jerusalem kommen. Sie wissen, was sie erwartet."