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Ein "iranischer Talmud"
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Das iranische Regime droht Israel, dem Staat der Juden, regelmäßig mit Vernichtung. Dabei ist ein Herzstück des Judentums zutiefst mit Iran verbunden: Der Babylonische Talmud entstand in der Spätantike in einer iranischen Kultur.
"Der Talmud ist ein Produkt des spätantiken Iran", sagt Shai Secunda. Er lehrt Geschichte und Theologie des Judentums am Bard College im US-Bundesstaat New York. Sein 2016 erschienenes Buch "Der Iranische Talmud" hat in Fachkreisen viel Aufsehen erregt, denn ausgerechnet in einer Zeit, in der Iran Israel mit der Vernichtung droht, verknüpft Shai Secunda das Herzstück des Judentums, den Babylonischen Talmud, direkt mit dem Iran.
"Was ich den Iranischen Talmud nenne, ist der Babylonische Talmud, der in Mesopotamien um das 6. Jahrhundert nach unserer Zeit entstand. Aber mit dem Titel meines Buches möchte ich darauf hinweisen, dass die entscheidenden kulturellen, religiösen und politischen Faktoren zum Verständnis des Talmud und der Juden, die ihn hervorgebracht haben, iranisch sind."
Talmud heißt wörtlich übersetzt "Belehrung". Der Talmud besteht aus der Mischna, der kanonischen Sammlung jüdischer Gesetze, und der Gmara, den Diskussionen über diese Gesetze, die Schriftgelehrte in Babylonien mündlich geführt und überliefert und später niedergeschrieben haben.
Winterhauptstadt im jüdischen Babylonien
Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römischen Besatzer im Jahr 70 unserer Zeit bildete sich das rabbinische Judentum heraus, das nicht länger den Tempel zum Mittelpunkt hatte, sondern die heiligen Texte. In dieser Phase gewannen die jüdischen Gemeinden in Babylonien an Bedeutung. Als Babylonien bezeichneten Juden die Gegend am Unterlauf der Flüsse Euphrat und Tigris, zwischen der heutigen irakischen Stadt Bagdad und dem Persischen Golf.
Im 6. Jahrhundert unserer Zeit entstand dort der Babylonische Talmud, in einer Zeit also, als es schon lange kein Babylonien mehr gab.
"Die Winter-Hauptstadt der großen Sassaniden-Dynastie, Ctesiphon, lag im Herzen des jüdischen Babylonien", so Shai Secunda. "Diese Sassaniden-Dynastie war kulturell und religiös iranisch. Sie sprachen eine iranische Sprache, eine Vorform des modernen Persisch, das Mittelpersisch oder Pahlavi. Ihr künstlerisches und kulinarisches Idiom waren iranisch. Und die Religion, die eng verbunden war mit dem sassanidischen Staat war die alte iranische Religion, der Zoroastrismus."
Gemeinsamkeiten mit Zoroastriern
Zoroastrismus und Judentum weisen theologische und rituelle Ähnlichkeiten auf, sagt Shai Secunda. Beide verbindet ein messianischer Glaube, beide sind einem präzisen Umgang mit dem religiösen Gesetz und Fragen der körperlichen Reinheit verpflichtet. Ähnlich wie die Rabbiner pflegen auch die Zoroastrier einen hoch entwickelten Diskurs über all diese Fragen.
"Das sind einige der wichtigen iranischen Faktoren, die damals wirksam waren und verflochten waren mit der Struktur des jüdischen Lebens unter den Rabbinern und den Leuten, die den Talmud hervorgebracht haben."
Eine bedeutende Gemeinsamkeit von Zoroastriern und Juden war ihre hochkomplexe Kultur der Mündlichkeit. Nach der jüdischen Überlieferung ist der Talmud die Niederschrift dessen, was Juden über Jahrhunderte im Gespräch weiter gaben: die so genannte mündliche Thora.
Mündliche Überlieferung
"Die Zoroastrier waren sehr stolz auf ihre heiligen Texte. Ihr Gründungsdokument, die Avesta, wurde über viele, viele Jahrhunderte mündlich überliefert. Beide, Zoroastrier und Juden, waren der mündlichen Weitergabe ihrer Texte verpflichtet. Schon das Gründungsdokument des rabbinischen Judentums war ein mündlicher Text, die Mischna. Sie entstand um das Jahr 200 unserer Zeit. Die Kultur der Mündlichkeit war ein Herzstück im Leben jedes rabbinischen Juden.
Es gab eben nicht nur die Welt der niedergeschriebenen Thora, sondern die beständig wachsende Welt des mündlichen Diskurses. In Babylonien entwickelte sich geradezu ein Extremismus um die Mündlichkeit. Rabbiner erklärten es zeitweise für absolut verboten, mündliche Textkorpora schriftlich zu fixieren. Sie waren einer Technologie des Memorierens von gewaltigen Textmengen verpflichtet, weil der mündliche Charakter der rabbinischen Diskussion so wichtig war. Darin unterschieden sich Zoroastrier und Juden zum Beispiel von Christen und Manichäern jener Zeit, die ihre Texte in schriftlicher Form bewahrten."
Studium an der Talmudschule
Vor seiner akademischen Laufbahn hat Shai Secunda an einer Jeschiwa studiert, einer Talmudschule. Von dort kennt er die Kultur der mündlichen Diskussion der heiligen Texte.
"Ich denke nicht, dass die Art, wie ich in einer traditionellen Jeschiwa gelernt habe, identisch ist mit dem, was in Babylonien vor sich ging. Aber ich denke, dass es in der Praxis des Lernens traditioneller Juden von heute eine gewisse Kontinuität gibt, vielleicht sogar ein Weiterleben dessen, was im spätantiken Babylonien praktiziert wurde."
Mit seinen engen Bezügen zum iranischen kulturellen Kontext hat "Der Iranische Talmud" von Shai Secunda viele Leser überrascht. Secundas Studie lädt dazu ein, den Blick zu öffnen für die tiefe Bezogenheit des Judentums auf den Iran.
"Und vielleicht ist eines Tages ein Iran vorstellbar, wo Juden aufblühen und tief verbunden sind mit den Traditionen des Ortes. Zurzeit ist es schwer, sich das vorzustellen. Aber es reift ein Bewusstsein dafür heran und es fasziniert mich, daran zu denken."