Autor und Sprecher: Heiner Kiesel
Sprecherin: Anjorka Strechel
Regie: Frank Merfort
Technik: Christiane Neumann
Redaktion: Martin Mair
Alles muss fließen
30:16 Minuten
Die Just-in-Time-Produktionsmethode wurde für die Autoindustrie von einem japanischen Ingenieur erfunden. Doch längst hat sich das Prinzip auch in anderen Arbeits- und Lebensbereichen durchgesetzt. Stillstand unerwünscht. Was macht das mit uns?
Na? Passt es gerade, oder kommt diese Sendung gerade rechtzeitig? Just in Time? Sie haben rechtzeitig eingeschaltet, oder das Radiofeature für den Zeitslot bei der Fahrt von A nach B runtergeladen? Just in Time! Ich hoffe das Stück fügt sich gut ein in Ihren durchgetakteten Tag.
Alles Just in Time - unser Alltag, unsere Gesellschaft.
Warum passt das nur so gut zu uns? Die Wendung steht ja eigentlich für ein Produktionsprinzip aus der Industrie. Ein unglaublich erfolgreiches, das Ende des 2. Weltkrieges in Japan entstanden ist.
"Man muss dazu wissen, wie Japan sich entwickelt hat, erst mal in den Kriegsjahren und vor allen Dingen danach: Japan als Insellage, mit sehr sehr wenig Ressourcen von sich selbst aus. Und großen Einschränkungen, ohne Marshallplan wie bei uns. Da musste man von Beginn an auf maximales Sparen von allem Überflüssigen setzen. Vor allem überflüssige Einsatzprodukte und Zeit."
Ronald Bogaschewsky beschäftigt sich schon seit den 1980er-Jahren mit Produktionstechniken und Lieferketten in der Industrie.
"Genau, mein Name ist Ronald Bogaschewsky. Ich bin gerade 60 geworden und habe einen Lehrstuhl hier für Betriebswirtschaftslehre, an der Universität in Würzburg."
Das Just-in-Time-Prinzip ist eng verbunden mit dem Produktionssystem des Autoherstellers Toyota und dem Ingenieur Taiichi Ohno. Ihm ging es vor allem darum, Leerlauf bei Mensch, Maschine, Material und Kapital zu vermeiden. Nichts und niemand darf unproduktiv rumstehen.
Ohnos Bild der idealen Produktion ist das eines raschen, aber völlig ungestörten Flusses. Alles was seinen Lauf stört, muss weg. Diese knallharten Prinzipien kleidet Taiichi Ohno in das Gewand fernöstlicher Weisheiten.
"Und da haben die auch ihre spezielle Begriffswelt, was gerne auf japanisch zitiert wird. Die schenke ich mir jetzt mal", sagt Ronald Bogaschewsky.
Japanische Autobauer machten es vor
Ohnos System braucht Zeit, um sich durchzusetzen. Aber spätestens während der Ölkrise in der 70ern beginnen sich Manager weltweit zu wundern, warum die japanischen Autobauer so gut mit den Engpässen zurechtkommen. Und damit zu einer echten Bedrohung werden.
"Ich habe es selber erlebt, als ich 89/90 in den USA war, da ist den Amerikanern das Lachen sehr schnell vergangen, weil die dann innerhalb kürzester Zeit ein Drittel des Marktes übernommen haben", erinnert sich Ronald Bogaschewsky.
"Und die haben dann einfach Autos gebaut, die waren nicht nur deutlich günstiger, sondern das ging auch deutlich schneller in der Produktion und die Produkte waren qualitativ auch deutlich besser als die amerikanischen. Und da hat man sich gesagt, wie kann das sein, wie machen die das? Das verstößt ja auch gegen jede betriebswirtschaftliche Theorie, dass jemand besser und billiger ist. Das darf es gar nicht geben!"
Um genau zu verstehen, was da vor sich ging, hat die US-Autoindustrie fünf Millionen US-Dollar Forschungsgelder zur Verfügung gestellt. Das Massachusetts Institute of Technology entwickelte damit ein Erklärungsmodell.
"Das wurde auch publiziert, das ist sehr bekannt, von Womack/Jones/Roos…", weiß Ronald Bogaschewsky.
"The Machine that Changed the World", erschienen 1991.
"… ein Buch, dass man auch mal gut an einem Wochenende lesen kann - und die haben das Konzept 'Lean Production' genannt, also schlanke Produktion. Interessant daran ist, dass man ursprünglich vorhatte, aufgrund dieser pufferlosen und damit sehr risikoreichen Produktion eigentlich 'fragile', 'Fragile Produktion' zu nennen, also sehr zerbrechlich."
Ideen des Toyota-Ingenieurs Taiichi Ohno
Diese Art der Produktion folgt mehreren Grundgedanken. Sie werden bis heute auf die Ideen des Toyota-Ingenieurs Taiichi Ohno zurückgeführt. Seine japanische Terminologie ist fester Bestandteil der Managersprache geworden.
Kanban: Die Karteikärtchen, über die die bedarfsgerechte Bestückung geregelt wird.
Muda: Alle Praktiken, die keine Wertschöpfung darstellen.
Poka Yoke: Unglückliche Fehler vermeiden.
Kaizen: Die stetige Veränderung zum Besseren.
"Also sie riechen hier noch das Thema Stahl und Stahlbearbeitung kann man hier noch ganz gut wahrnehmen", sagt Oliver Walter.
Just-in-Time-Produktion bei ZF Friedrichshafen, Fertigungsstandort Schweinfurt. Hier werden Wandler für Fahrzeugkupplungen hergestellt. Das sind die Teile im Kfz-Getriebe, die dafür sorgen, dass es zwischen Fahrwerk und Motor nicht hakt.
Oliver Walter ist 57, der Chef dieser riesigen Werkshalle mit sechs Montagelinien und 2000 Arbeitern im Dreischichtbetrieb. Er hat hier gelernt als die Firma noch Fichtel&Sachs hieß. Ein Mann mit kräftigen Händen, die immer noch nach "Anpacken" aussehen.
"41 Jahre hier im Unternehmen, der dienstälteste leitende Angestellte auch."
Große Flexibilität, kleine Fertigungsgrößen
Seine Halle wurde 2008 als Modellfabrik hochgezogen. Ein Tempel der Just-in-Time-Philosophie. Maschinen, die sich schnell umstellen lassen und so große Flexibilität, kleine Fertigungsgrößen, kürzere Produktzyklen erlauben.
"Sie sehen einen relativ hohen Automatisierungsgrad, wenig Menschen, ein hoher Teil an Robotik und Automatisierung und speziell diese kleinen Züge, sogenannte 'Milkruns' ver- und entsorgen unsere Montagelinie."
An der einen Seite der Halle werden Paletten angeliefert. Sie kommen direkt vom Laster, nicht aus der Lagerhalle. Darauf die gerade benötigten Teile. Ein Arbeiter scannt den Barcode an der Seite einer Kiste mit handtellergroßen Torsionsdämpfernaben.
Der Scanner sieht aus wie eine Pistole mit Display. Darauf liest der Mitarbeiter ab, wie viele Naben er zu den Verarbeitungsstellen schicken muss - mit einem der kleinen Fahrzeuge, die sie hier Milchwägen, 'Milkruns' nennen. Er packt um, quittiert, nächste Kiste. Abfahrt. Kanban!
"Das können Sie hier sehr gut sehen, dass wir hier wirklich fließendes Material haben und wir haben hier eine maximal Fertigwarenreichweite von drei Arbeitstagen."
An die einzelnen Arbeitsplätze kommt gerade so viel Material, wie verbaut wird, bis der Milchwagen bei seiner nächsten Tour vorbeikommt. Vermeide Muda! Keine Platzverschwendung durch Materialstapel.
Die Arbeiter greifen hinter sich und haben stets nur das in der Hand, was sie gerade brauchen. Kein Leerlauf, kein Suchen, stetige Bewegung. Mensch und Maschine ständig ausgelastet. Fehler dürfen hier nicht passieren - vermurkste Teile stören den Fluss. Poka Yoke!
"Der Puls des Endkunden sitzt uns schon im Genick und der treibt uns auch und der motiviert uns auch, unsere Prozesse bestmöglich zu beherrschen."
Drei bis fünf Prozent muss der Prozess in der Halle jedes Jahr effizienter werden, um konkurrenzfähig zu bleiben, sagt Oliver Walter. Das erfordert Kaizen!
Stetige Verbesserung! Das Mantra in der Produktion - weltweit! Alle hängen mit drin: Wenn es hier nicht fließt, kann vielleicht morgen ein BMW nicht montiert werden. Das passiert auch, wenn gestern ein ZF-Zulieferer Pech hatte, oder einer dessen Zulieferer vorgestern. Das macht das schlanke System so risikoreich.
Der Laster ersetzt das Lager
Pandemie in China, Piraten am Golf, Stau am Brenner - überall lauern Gefahren. Die Ware ist unterwegs, der Laster ersetzt das Lager. Aber man kann ihn nicht ausladen, wenn er nicht ankommt. Außerdem gibt es nur wenige Lieferquellen - wegen der Komplexität der Einzelteile.
Eine ständige Herausforderung für die Logistik. In Schweinfurt bei ZF ist Hans Dekkers dafür verantwortlich.
"Lieferketten schauen wir uns im Moment ganz genau an und schauen, wie viel Manpower wir da reingeben müssen, dass diese Lieferketten auch ruhig weiterlaufen. Wir hatten sehr große Probleme Anfang des Jahres mit China. Die haben nicht produziert, die haben uns die Teile nicht gegeben. Deswegen konnten wir manches nicht so produzieren wie wir wollten", sagt Hans Dekkers.
"Da ist natürlich die Nähe in Europa deutlich von Vorteil. Und jetzt muss man abwägen, was kostet das Ganze. Das ist eine Nutzwertanalyse."
Maximal drei Tage dauert es, bis das zugelieferte Material verarbeitet ist. Vor Just-in-Time war es so, dass eine Fabrik Material gekauft hat, das erst mal in einer Lagerhalle rumlag und irgendwann verarbeitet worden ist. Zu einem Produkt, das auch erst mal rumlag bis zum Verkauf. Jetzt bezahlt man im Idealfall erst genau dann, wenn das Material auf dem Werksgelände abgestellt wird.
Dekkers führt auf der anderen Seite der Werkshalle hinaus. Die Verladehalle, fast leer: Ein Laster mit heruntergeklappter Bordwand steht bereit.
"So, das ist dann hier der Shuttle, der dann zum Kundenwerk geht und in dem Fall fünf Mal am Tag nach Saarbrücken fährt."
Es ist der Höhepunkt des Just-in-Time-Prozesses, der hier zu beobachten ist. Die verpackten ZF-Wandler kommen auf einem Förderband heraus, Gabelstapler nehmen sie auf. Alles fließt.
"Die Ware stellen Sie dann auf den Lkw, haben dann die Lieferscheine und Frachtbriefe soweit fertig, geben sie dem Fahrer und mit dieser Übergabe ist dann fakturiert und dann können wir die Rechnung stellen und bekommen das Geld."
Kaum Lagerhaltung auch im eigenen Kühlschrank
"Ja Herr Bogaschewsky. Lagerhaltung bei Ihnen?"
"Lagerhaltung? Lagerhaltung - ehrlich gesagt: Viel Lager halten wir nicht. Wir sind eigentlich gut mit Geschäften aller Art ausgestattet und haben eigentlich keine riesengroßen Vorräte da. Wir haben da so eine kleine Abstellkammer. Da ist noch ein zweiter Kühlschrank drin. Da oben sehen sie so Papierwaren, sie sehen, da haben wir auch zugeschlagen, aber das lag daran, dass jeder noch unabgestimmt eine Rolle Klopapier mitgebracht hat und das hält jetzt erst mal noch ein Vierteljahr", erklärt Ronald Bogaschewsky.
"Das ist mehr oder weniger schon alles. Was wichtig ist: nicht überall gibt es einen so schönen Dijon-Senf, deswegen muss man da mal zwei Gläser mehr davon haben. Reis, Nudeln, H-Milch, wenn wir mal aus dem Urlaub kommen und nichts mehr da ist, ein paar Oliven, ein zwei Dosen so für den Notfall. Das ist eigentlich übersichtlich."
Ronald Bogaschewsky ist einer der Lieferketten-Experten, die mit Nachdruck darauf verweisen: Gesamtwirtschaftlich ist es natürlich irgendwie Quatsch, wenn die Waren statt im Lagerhaus auf unseren öffentlichen Straßen aufbewahrt werden. Da sparen die Firmen und die Allgemeinheit zahlt für Straßen, Verschmutzung und globale Hitze.
Bogaschewsky ist auch einer, der nicht müde wird, zu betonen wie gefährlich es ist, so schlank zu produzieren und kein Lager zu haben. Da lag die - anfangs scherzhafte - Frage zu seiner persönlichen Lagerhaltung nahe. Aber - mal ernsthaft - ist es nicht auch eine, die wir uns alle unlängst gestellt haben? Als wir in der Coronapandemie plötzlich gesehen haben, wie Just-in-Time und fragil unser schlankes Leben geworden ist?
Ich habe meine Speisekammer auch ausgelagert. Im Unterschied zu den Just-in-Time-Produktionsstätten der Industrie muss ich aber noch selbst aufbrechen, um gerade benötigte Lebensmittel zu besorgen. Wahrscheinlich brauche ich bald nicht mehr selbst fahren, weil Amazon das auch noch übernimmt.
Einkaufen, worauf man gerade Lust hat
Aber Same-day-delivery haben wir noch nicht auf dem Land. Also fahre ich - wie laut Umfragen die Hälfte der Bevölkerung - ein bis zweimal pro Woche zum Supermarkt. Oft einkaufen ist lästig, sagen die meisten. Aber es hat Vorteile, praktisch dieselben wie in der Industrie: Nichts steht zuhause ungenutzt herum und kann schlecht werden. Ich kaufe immer gerade das, worauf ich Lust habe.
Damit meine häusliche Just-in-Time-Versorgung läuft, müssen die Waren immer verfügbar sein. Die Frau, die das für mich organisiert, steht vor einem Regal mit Bananen und Pfirsichen. Weiße Bluse mit sauber hochgekrempelten Manschetten, schwarze Weste.
"Ich bin die Martina Fröhlich-Wehner, die Betreiberin dieses Lebensmittelladens in Maßbach."
Ihr Lächeln strahlt Sicherheit und Ruhe aus, sie ist seit über 30 Jahren im Einzelhandel.
"Wir sind ein Vollsortimenter, das heißt ein Supermarkt. Wir haben eine Fläche von 1750 Quadratmeter und was bekommt man hier alles?: Waren des täglichen Bedarfs, wir legen sehr viel Wert auf Frische, Obst und Gemüse, eine eigenständige Fleischabteilung haben wir, Getränkemarkt. Artikel sind es circa 45.000."
Ziemlich beeindruckend! Meine Speisekammer. Alles da, alles frisch. Und wenn einmal nicht? Na, dann ist das auch nicht meine Schuld. Die Verantwortung dafür habe ich an Martina Fröhlich-Wehner ausgelagert. Ob sie das auch so sieht?
"Jetzt gehen wir mal lieber ins Büro um weiter zu reden."
Sie lotst mich erst mal aus dem Geschäftsraum. Ein Gespräch zwischen den Auslagen könnte den Kundenfluss behindern. Eine kleine unscheinbare Tür neben dem Salatregal. Nur für Personal. Zwei Räume, im hinteren steht ein großer Tisch.
Erwartungen an die Verfügbarkeit sind hoch
"Ja richtig, ich bin dafür verantwortlich. Und manchmal passieren auch Dinge, dass was nicht lieferbar ist, aus verschiedenen Gründen, weil vielleicht die Ernte nicht gut war. Und da sind wir dann an einem Punkt angelangt, wo ich dann als Kauffrau schon tendenziell den schwarzen Peter zugeschoben bekomme, weil ich ja jetzt nicht dafür sorgen konnte, dass die Ware vorrätig ist."
Die Erwartungen an die Verfügbarkeit sind schon sehr hoch, meint die Supermarkt-Chefin. Das ist ganz anders als damals, als sie angefangen hat. Da hatten die Leute noch Vorräte, mit denen sie eine Woche oder mehr über die Runden gekommen sind. Jetzt jetzt das Lager und damit die Sicherheit. Die Kunden reagieren viel emotionaler, wenn sie ihre Wünsche bei Fröhlich-Wehner nicht erfüllen können.
Damit das möglichst nicht passiert, sorgt die sie für eine eng getaktete Logistik. Rund um die Uhr kommen Laster auf ihren Liefertouren vorbei. Nur manchmal wird es knapp.
"Das ist so: Es hat ja jeder Markt einen bestimmten Bestell- und Liefertag. Und es wird ja auch zu einer bestimmten Zeit – Just in Time - kommissioniert. Das heißt also, wenn mein Markt am Mittwoch kommissioniert wird und der Artikel ist nicht vorrätig, dann bekomme ich das auch nicht geliefert. Dementsprechend muss ich auf die nächste Fuhre, die am Lagerstandort ankommt, warten", erklärt sie.
"Und wenn die Ware knapp ist, oder andere Märkte so viel bestellt haben, dass das Lager wieder fast leer läuft, dann zieht sich das bei unserem Bestellprozess bis zu drei Wochen hin, bis wir wieder 100 Prozent lieferfähig sind, weil ja so viele Märkte versorgt werden müssen und so viele Bestellzyklen dazwischen laufen, dass das einfach passieren kann."
Taiichi Ohno, der japanische Just-in-Time-Erfinder hat behauptet, er sei in einem US-Supermarkt auf sein Konzept gekommen. Weil es ihn fasziniert hat, wie gut die Regale immer befüllt waren.
Das neue Losungswort: "spontan"
Die Verfügbarkeit der Dinge macht unseren Just-in-Time-Alltag möglich. Früher, wenn man beim Kochen gemerkt hat, dass eine Zutat gefehlt hat, ist man zähneknirschend nochmal zum Laden geeilt, ist sich blöde vorgekommen, dass man nicht so weit vorgedacht hat. Heute ist die Planlosigkeit ein Ausdruck von Freiheit in einer Welt voller Möglichkeiten.
"Wir nennen das nicht mehr auf den letzten Drücker, sondern wir nennen das spontan. Ich kann spontan sein, ich kann spontan einkaufen, mein Essen planen, denn ich weiß, dass bis 20 Uhr geöffnet ist. Wenn mir das dann spontan einfällt, dass ich eine Pizza will, oder eine Tüte Chips, dann nehme ich eben spontan auch noch ein Mehl mit, das gerade zu Hause leer ist. Ja!"
Martina Fröhlich-Wehner muss sich wieder um die Bestückung ihres Marktes kümmern und ich mache weiter mit meinem Einkauf. Die Supermarktleiterin macht einen guten Job, aber will ich wirklich so abhängig von ihrer Disposition sein? Sollte ich vielleicht doch eher noch zwei Päckchen Mehl einpacken und anfangen, ein bisschen krisenfester zu planen?
Das Vertrauen auf die Just-in-Time-Prozesse erfordert einiges an Risikobereitschaft, oder eben die Fähigkeit, Risiken auszublenden.
Sich als Mitglied der Konsumgesellschaft beweisen
Aber da ist noch was Anderes, dass mich in den Laden treibt. Das Gefühl, mich als vollwertiges Mitglied unserer Konsumgesellschaft beweisen zu müssen. Durch den Akt des Einkaufens in der Gemeinschaft mit anderen Kunden gehöre ich dazu. Immer wieder, Just in Time.
Der Gedanke, sich durch das ständig praktizierte Konsumieren als Teil der Konsumgesellschaft zu konstituieren. Das habe ich doch schon mal irgendwo gelesen. Bloß wo? Gemerkt habe ich mir das nicht. Brauche ich heute auch nicht mehr, so wie früher. Nur ein paar Klicks, die richtigen Suchbegriffe. Da ist es schon: Der Kultursoziologe Dominik Schrage hat dazu publiziert, in seiner Habilitationsschrift "Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums".
Die Lagerhaltung im Gehirn, exaktes Erinnern ist aufwendig, aber selbst das lässt sich inzwischen hervorragend auslagern. Ziemlich praktisch: Was ich wissen will kommt, wann und wie ich es benötige – aus der Datenbank des Internets. Just in Time!
"Ich glaube, dass das beides hat: Unglaubliche Chancen, wenn wir sagen, dass wir mit der Informationstechnologie einen mächtigen Apparat, der mehr speichern kann, als wir können", sagt Philipp Lorenz-Spreen.
"Terrabytes vom Festplattenspeicher übersteigen auf jeden Fall, gerade wenn es um Details geht, das, was wir uns merken können. Aber man muss auch sehen, welche Herausforderungen das darstellt."
Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die belegen, dass sich unsere Gehirne verändern durch die Nutzung von Onlinediensten. Nicht wenige Forschungsergebnisse legen nahe, dass wir durch das Internet verblöden. Dass wir Kulturtechniken vergessen, uns nicht mehr lange konzentrieren können.
Mit dem Navi das Kartenlesen verlernt? Aber ist das nicht der natürliche Gang der Dinge? Na und - mir schmeckt der Milchkaffee auch ohne, dass ich melken kann!
Technische Möglichkeiten verändern die Gesellschaft
"Ich bin Philipp Lorenz-Spreen und ich bin Forscher hier am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, beschäftige mich damit, wie technologischer Wandel unsere Gesellschaft verändert und wir optimistisch in die Zukunft blicken können."
Lorenz-Spreen beschäftigt sich vor allem damit, was durch die Just-in-Time-Organisation unserer täglichen geistigen Bedürfnisse auf gesellschaftlicher Ebene passiert.
"Durch diese technischen Möglichkeit - da ist jetzt ein schönes Beispiel 'Just-in-Time-Deliveries', das sind Push-Nachrichten auf das Handy. Man bekommt ja in dem Moment, in dem auf der Welt irgendwas passiert, eine Katastrophe oder sonst was, in diesem Moment die Nachricht auf's Handy, wo sie direkt verfügbar ist", sagt Lorenz-Spreen.
"Das führt aber nicht dazu, dass wir uns dann intensiver und länger mit einem Thema beschäftigen, weil wir mehr Informationen dazu haben, sondern es scheint so - so sehen wir das zumindest in den Daten - dass man mehr verschiedene Themen in die gleiche Zeit presst. Und das ist eine qualitative Verschiebung, die durch diesen quantitativen Fortschritt der Informationsverbreitung ausgelöst wird."
Das aktive kollektive Gedächtnis schrumpft, stellt der Bildungsforscher fest. Wir diskutieren unsere Themen nicht mehr durch und - weil ja jeder passgenau die Infos abruft, die er braucht – so diskutieren immer weniger Leute über die gleichen Probleme.
Was in der industriellen Just-in-Time-Produktion ein echtes Plus ist - hohe Taktung, Flexibilität, rasche Umrüstung, geringe Stückgrößen - wird gesellschaftlich zum Problem. Lorenz-Spreen sagt, dass er nicht so gerne schwarz sieht und hofft der Beschleunigung unserer Diskurse mit Bildungsarbeit entgegenwirken zu können.
Bedenklich findet er aber, wie die Lieferketten organisiert sind, die die Informationen in unsere Köpfe befördern. Die waren früher - Bibliotheken, Bücher, Zeitungen - transparenter.
"Allerdings darf man nicht vergessen, dass wir uns da heute auf andere Gatekeeper verlassen müssen. Wir können ja nicht selbst sozusagen unabhängig ins Internet gehen und uns da zurechtfinden. Wir verlassen uns da auch immer mehr auf Suchmaschinen, soziale Medien und sonstige Verteilerseiten, die uns da leiten und von denen werden wir natürlich schon abhängig."
Und wieder bleibt Lorenz-Spreen zuversichtlich. Die ganze Struktur für den Datenaustausch ist gebaut, von Menschen. Selbst die undurchsichtigste künstliche Intelligenz hat ihre Herren und auf die könne, ja müsse eine Gesellschaft Einfluss nehmen.
"Da sind die Kabel, die sind verlegt, das ist die Infrastruktur. Aber was da auf diesen Kabeln an Information wandert, und wie das verteilt wird - das wir ja oft von privaten Unternehmen gemacht. Da denke ich, kann man sich als Gesellschaft schon fragen, was wollen wir da für Spielregeln haben. Was dürfen die Unternehmen, was darf man den Endverbrauchern an die Hand geben, um sich da zurecht zu finden. Da wurde bisher, glaube ich, noch zu wenig nachgedacht."
Technik ist auch gesellschaftlich gestaltet
"Ja das ist der Begriff, den Sie gerade nannten, der innerhalb der Technikgeschichtsschreibung inzwischen verpönt ist. Technikdeterminismus wird stets kritisiert, weil Technik natürlich gesellschaftlich gestaltet ist", sagt Martina Heßler.
"Also spätestens seit den 1980er-Jahren ist es Konsens innerhalb des Faches und deshalb fragen wir immer nach der gesellschaftlichen und kulturellen Konstruktion von Technik. Gleichwohl beeinflusst Technik natürlich auch umgekehrt Gesellschaft und das Menschsein verändert sich mit jeder neuen Technologie, die Praktiken verändern sich, wie wir miteinander kommunizieren verändert sich, wie wir schreiben, wie wir arbeiten verändert sich mit jeder Technologie."
Martina Heßler ist Professorin für Technikgeschichte an der TU Darmstadt, "und ich beschäftige mich vor allem mit Mensch-Maschinen-Verhältnissen im 20. Jahrhundert und auch seit der frühen Neuzeit."
Die Technikhistorikerin lehnt die Idee ab, dass wir technischen Entwicklungen, wie der Erfindung von Just-in-Time ausgeliefert sind, oder dass sie aus dem Nichts kommen und dann unser Leben formen. Eine Gesellschaft muss bereit sein, die Technik anzunehmen. Und damit beginnt die Geschichte von Just-in-Time schon eine ganze Weile vor Taiichi Ohno.
"Sie müssen sich vorstellen, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts jeder Ort seine eigene Zeit hatte. Also man richtete sich nach der Sonnenuhr, oder wenn man auf dem Feld gearbeitet hat sowieso nach natürlichen Bedingungen, Licht und Jahreszeiten und Ende des 19. Jahrhunderts hatten wir eine standardisierte und synchronisierte Zeit auf der ganzen Welt."
Wir mussten uns erst darauf einlassen, alle im selben Takt zu leben. Sonst hätte das mit den Eisenbahnen nicht funktioniert, den Fabriken, dem kapitalistischen Wirtschaften und der daraus entstandenen Effizienzkultur.
"Also in dem Moment, in dem sie Arbeitstätigkeiten aufteilen müssen, müssen sie die koordinieren und synchronisieren, wenn es irgendwie effektiv sein soll. Das geht natürlich ganz stark mit der Industrialisierung einher, aber auch davor gab es Arbeitsteilung", sagt Martina Heßler.
"Es gibt ein sehr schönes Beispiel, das ich sehr anschaulich finde: Adam Smith hat die Arbeitsteilung am Beispiel einer Nadelmanufaktur beschrieben und da wird die Produktion einer Stecknadel, eines relativ unkomplexen Produkts, in 18 Arbeitsschritte aufgeteilt. Das heißt, dass jeder Arbeiter nur einen Arbeitsschritt übernimmt, die dann aufeinander folgen müssen und zeitlich und von den Tätigkeiten her synchronisiert werden müssen. Heute sind wir über die Arbeitsteilung daran gewöhnt, synchronisiert zu arbeiten."
Und über die eingeübten Praktiken in unserem Arbeitsleben war es wahrscheinlich nur ein kleiner Schritt, auch weitere Aspekte des täglichen Lebens effizienter zu machen. Und am effizientesten läuft es Just in Time. Keine Verschwendung von Ressourcen, höchste Flexibilität, stetige Weiterentwicklung von Körper und Geist und vor allem: kein Stillstand. Alles muss fließen.
"Also ich denke, das ist schon eine kulturelle Erwartung geworden, dass Dinge schnell und Reibungslos funktionieren und dass vor allem kein Leerlauf entsteht, das Unterbrechungen, in denen Nichts passiert als negativ wahrgenommen werden."
Der richtige Moment bei den alten Griechen
Diese Sendung musste auch Just in Time fertig werden. Mein Redakteur hatte für die Bearbeitung und Durchsicht des Manuskripts einen Zeitslot eingeplant. Ich hätte seine Planung durcheinanderbringen können, wenn ich nicht rechtzeitig geliefert oder mein Zuliefer-Produkt, mein Text, nicht den Qualitätskriterien entsprochen hätte. Das hätte Folgen für weitere Just-in-Time-Prozesse gehabt. Allein die Logistik meiner Familie: Fußballtraining, Reitstunden, Hausaufgabenbetreuung.
Es hat soweit alles geklappt, wie Sie hören. Aber so sind wir eben alle eng getaktet, wenig Luft für all das Chaos, das unser Leben eigentlich ausmacht - Geburten und andere glückliche Überraschungen, Krankheiten, Trauerfälle… Ich glaube nicht, dass es früher wirklich einmal besser war. Aber der richtige Zeitpunkt, der richtige Moment, das ist heute eine ganz andere Nummer geworden. Der wurde bei den alten Griechen als der Gott Kairos dargestellt. Man musste ihn am Schopfe packen, denn bis auf eine Stirnlocke war er kahlgeschoren.
"Der rechte Moment im Sinne des Kairos ist ein günstiger Augenblick, oder die Gunst der Stunde, für die man natürlich auch eine gewisse Aufmerksamkeit, eine gewisse Haltung haben muss, um es überhaupt zu bemerken und ein Zeitpunkt, den man auch nicht verpassen darf, der ein Wendepunkt im Dasein sein kann, eine glückliche Fügung für neue Entscheidungen, oder eine ganz andere Ausrichtung", sagt Martina Heßler.
"Das ist eine ganz andere Konnotation des richtigen Zeitpunkts als der Just-in-Time-Begriff im Kontext der Produktionswissenschaften, weil er erstens auf einen Wendepunkt abzielt und nicht auf den kontinuierlichen Fluss eines reibungslosen Ablaufes und weil es auch nicht berechenbar ist."