"Als wenn man wieder in der Schule wäre"
Vor 62 Jahren machte Gerd Plesch in Oldenburg sein Abitur. Seither trifft er seine ehemaligen Mitschüler regelmäßig. Was hat die Kriegskinder so zusammengeschweißt, fragt sich Pleschs Tochter - und hat ihren Vater diesmal begleitet.
Es ist ein warmer Sonntag im Mai, in einem Ausflugsrestaurant in Oldenburg. In einem Nebenraum sitzen neun Männer um einen großen rechteckigen Tisch. Alle sind über 80, weiße Haare, Brille. Zur Feier des Tages tragen sie Oberhemd und Stoffhose.
"Moin Gerd, moin Klaus, schön, dass wir uns sehen! Ho geit di dat?"
Jetzt sind sie aufgestanden, um den neuen Gast zu begrüßen – meinen Vater Gerd. Gemeinsam mit den anderen Männern hat er 1956 in Oldenburg Abitur gemacht, am altsprachlichen Gymnasium. Seit damals treffen sich die Männer regelmäßig - seit 62 Jahren. Heute ist es wieder soweit – und ich bin das erste Mal dabei.
"Ist das Imke? Ich bin Manfred Helms."
Etwas ist anders als vor zwei Jahren. Bisher hat immer mein Vater die Treffen organisiert. Doch im vergangenen Herbst hatte er einen Schlaganfall, war lange in der Reha, sitzt jetzt im Rollstuhl. Ein Klassenkamerad, Manfred Helms, hat die Organisation für ihn übernommen.
Alle zwei Jahre ein Klassentreffen - seit 1956
Mein Vater war zuerst unsicher, ob er im Rollstuhl überhaupt dabei sein kann. Weil ich weiß, wie wichtig ihm diese Treffen sind, habe ich ihn bestärkt und begleite ihn nun. Und auch, weil ich neugierig bin. Ich selbst habe seit meinem Abitur nur noch Kontakt zu zwei, drei Mitschülern. Klassentreffen – sowas kenne ich nicht.
Sobald die Männer sich begrüßt haben, werden schon die ersten Erinnerungen ausgetauscht.
"Weißt du noch, wie wir beim Sport gewetteifert haben? Beim Hochsprung und so. Das weiß ich noch genau, wie heute!"
"Wir hatten ja auch noch keine Bücher"
19 Jungen und ein Mädchen sind sie damals, 1956, die das Abitur im altsprachlichen Zweig des Alten Gymnasiums Oldenburg bestanden haben. 1948, als sie auf das Gymnasium kommen, ist der Krieg gerade seit drei Jahren vorbei. Oldenburg ist besetzt, zunächst von den Kanadiern, dann von den Briten. Die Bundesrepublik gibt es noch nicht. Auf dem Gymnasium warten nun Mathematik und Physik auf die Kriegskinder, Englisch und Sport, Griechisch und Latein.
"Weißt du das auch noch, Focko? Wie wir die Lateingrammatik beim Lübke selbst schreiben mussten? Er diktierte uns die, jedes Mal. Die Deklinationen und Konjugationen und so. Du, das prägt sich ein! Wir hatten ja auch noch keine Bücher oder so, wir hatten ja alles auf Zetteln."
Neun der Abiturienten von damals sind auch heute gekommen, außerdem Klaus Majchrzak, der nach der elften Klasse abgegangen und ein paar Jahre zur See gefahren ist. Nur vier der Männer wohnen heute noch in Oldenburg oder Umgebung so wie mein Vater. Die anderen sind von weit her zum Klassentreffen angereist, der weiteste aus Lörrach an der Schweizer Grenze. Sie freuen sich wie kleine Jungs über das Wiedersehen. Obwohl sie sich doch wahrscheinlich immer das Gleiche erzählen, vermute ich.
Ein rotes Backsteingebäude im Stadtzentrum von Oldenburg, etwas zurückgesetzt hinter einem kleinen Wasserlauf. Das Alte Gymnasium Oldenburg, AGO genannt, ist die Schule, um die sich alle Erinnerungen der Klasse meines Vaters drehen. Auch ich bin hier zur Schule gegangen, so wie viele andere in meiner Familie.
Das AGO ist fast 450 Jahre alt, das Gebäude mit dem spitzgiebeligen Portal und den beiden Seitenflügeln wurde 1878 gebaut. Etwa 800 Schülerinnen und Schüler gehen zurzeit hier zur Schule, doch heute sind Sommerferien. Klaus Majchrzak, Focko Fooken und mein Vater treffen sich vor dem Gebäude. Mein Vater im Rollstuhl, ich schiebe ihn. Focko geht am Gehwagen, gestützt von seiner Frau.
Die wuchtige Eingangstür fällt ins Schloss. Im düsteren Foyer empfängt uns Silvia Beckhaus, Physik- und Chemielehrerin und Mitglied der Schulleitung. Neben der Eingangstür hängt eine Tafel mit den Namen aller Abiturienten.
"Es geht los vom Jahr 1896 bis jetzt 2018. Es ist ganz neu gemacht worden. Das heißt, die aktuellen Abiturienten stehen auch auf diesen Listen."
"Ein Gefühl des großen Aufbruchs"
Die Männer schauen sich im Foyer um. Gegenüber der Tafel mit den Abiturienten hängen Fotos der aktuellen Lehrer, an der Seitenwand eine Gedenktafel mit den Namen der Gefallenen. Vor über 60 Jahren gingen sie hier täglich ein und aus. Ich selbst bin vier Jahrzehnte später auch hier zur Schule gegangen. Aber diese Emotionen, die spüre ich nicht.
"Kommen denn oft noch Ehemalige vorbei?" - "Doch, ja, regelmäßig. Jetzt im September bieten wir zum ersten Mal das Treffen wieder an für alle Ehemaligen. Frau Meyer-Brinkmann, die stellvertretende Schulleiterin, wird dann oben in der Aula einen kleinen Empfang machen und etwas über die Schule erzählen, wie sie sich entwickelt hat, und dann kommen viele ins Gespräch."
Die Klasse von meinem Vater war schon mehrmals wieder in der alten Schule. Zu ihrem 50-jährigen Abiturjubiläum 2006 wurden sie zusammen mit den frisch gebackenen Abiturienten geehrt. Auch Klaus Majchrzak fühlt sich der Schule nach wie vor verbunden.
"Aber es ist schon erstaunlich, was ich auch an mir selber feststelle, obwohl ich nicht ganz bis zum Ende hier gewesen bin: Diese Schule spielt in meiner Erinnerung und in meinem ganzen Gefühlsleben doch noch eine erhebliche Rolle." - "Wie kommt das?" - "Das waren prägende Jahre. Das war die Zeit nach dem Krieg, als alles wieder aufgebaut wurde, als alles wieder voranging und so, da hat man so ein Gefühl gehabt des großen Aufbruchs. Das hab ich nicht vergessen, das ist nach wie vor noch da."
"Ich kann Ihnen aber jetzt gerne mal den Klassenraum zeigen!"
"Wir waren eine ganz verrückte Klasse"
Langsam setzt sich die Gruppe in Bewegung. Am linken Ende des Foyers geht nach rechts ein Gang ab. Der erste Raum auf der linken Seite ist das Klassenzimmer, in dem die Männer ihre letzten Schuljahre verbrachten. Als sie ihn betreten, fühlen sie sich sofort in ihre Schulzeit zurückversetzt.
"Da stand ein Schrank, ne?" - "Und davor hab' ich gesessen, da war mein Platz." - "Da hinten saßen Michael, Jürgen Drescher daneben. Es waren Reihen mit Zweierbänken, drei Stück, und ich saß da an der linken Seite in der Mitte. In der Nähe von Berend Brauer, nicht?"
Ich überlege: Keine Ahnung, auf welchen Plätzen ich saß, ich habe nur noch vage Erinnerungen an die verschiedenen Räume, in denen meine Kurse in der Oberstufe stattfanden. Die Männer hingegen blicken sich um, als wären sie nur kurz mal weggewesen. Durch die hohen Fenster fällt die Mittagssonne durch beige Vorhänge.
"Wir hatten damals weiße, durchgehende Gardinen. Aber: Wir waren eine ganz verrückte Klasse. Wir hatten von der Tafel aus – die Tafellappen, mit denen bewarfen wir uns, wenn die voller Kreide waren. Eines Tages riss eine von diesen großen Gardinen ab – und was machten wir, wir benutzten die als Tafellappen. Und Michael Wilkens, der nahm dann seinen Kamm, wickelte den mit seinem Butterbrotpapier ein und benutzte ihn als Mikrofon und sagte: Die Klasse 11 G unterhält den größten Tafellappen der Welt!" - "Ja, ja, Michael war ein Spaßvogel!"
Besatzungssoldaten verteilen Kekssuppe
Zu Beginn des Gymnasiums waren über 50 Kinder in der Klasse meines Vaters. Es ist die Nachkriegszeit, an manchen Schulen werden die Kinder noch in Containern vom Roten Kreuz unterrichtet. Die kanadischen Besatzungssoldaten versorgen die Schüler in der großen Pause mit einer warmen Mahlzeit.
Wir verlassen das Gebäude und gehen auf den Hof hinter der Schule, wo damals das Essen ausgeteilt wurde. Focko blickt auf den dreistöckigen Anbau an der Rückseite des Gebäudes.
"Ganz oben, das war damals der Neubau. Da waren wir ganz oben mit unserer Klasse und in der Essenspause hatte dann jede Klasse ihren Stand und da standen die dann Schlange. Wer als Erster ankam, der hatte eine Chance, vielleicht noch einen Nachschlag nachher zu kriegen."
Der Speiseplan klingt für meine Ohren alles andere als verlockend.
"Es gab immer unterschiedliche Suppen. Einen Tag Kekssuppe, dann gab es Maissuppe, dann gab es Schokoladensuppe – und dann ging es mit der Kekssuppe wieder los." - "Erbsensuppe gab es auch noch." - "Der Stand war da drüben. Da war so eine Art Balustrade und da kamen immer die großen Kessel drauf. Die wurden da angeliefert, mit der Suppe. Die wurden am Fliegerhorst gekocht bei den Kanadiern und später bei den Engländern, da wurde das gekocht in den großen Truppenküchen da. Ich hatte so ein amerikanisches Kochgeschirr zum Aufklappen, ein ganz interessantes Ding. Die meisten hatten noch eins von der deutschen Wehrmacht, so ein altes. Manche hatten auch bloß eine Konservendose mit einem Drahthenkel dran."
Kekssuppe. Darunter kann ich mir wenig vorstellen. Ein schneller Blick ins Internet ergibt, dass Kekssuppe tatsächlich ein klassisches Essen der Nachkriegszeit für Schulkinder in der britischen Besatzungszone war. Das sogenannte "Rezept": Kekskrümel wurden in warmer Milch eingeweicht, die oft noch mit Wasser verdünnt war. Nichts, was man unbedingt probieren möchte.
Die Kostbarkeiten der Nachkriegskindheit: ein Fußball
Statt Kekssuppe gibt es beim Klassentreffen im Mai Spargel mit Kartoffeln und Schinken. Geldsorgen hat heute keiner der Männer. Doch Armut der Nachkriegsjahre hat sie geprägt und taucht in den Erzählungen immer wieder auf.
"Ich war der erste bei uns in der Klasse, der einen ledernen Fußball hatte. Das war eine Kostbarkeit sondergleichen, wir spielten ja meistens mit so einem kleinen Tennisball. Und das hat mir unheimlich geholfen! Du glaubst gar nicht, was mir das geholfen hat in unserer Klasse damals! Wenn einer Fußball spielen wollte – nur über mich! Ich hatte den Ball! Was man für eine Macht dadurch hatte. Ich konnte also sagen, nein, du spielst nicht mit. Du spielst mit. Zu Anfang haben wir doch noch mit Gardinenkugeln gespielt auf der Straße. Mit Konservendosen. War furchtbar hart am Fuß natürlich, das Holz. Ich hingegen hatte einen Lederball!"
Ob Fußball in der Pause, Tischtennis auf Klassenfahrten oder Weitsprung in der Schule – Sport war wichtig für die Jungen. Unterricht hatten sie auf einem Sportplatz, etwa zehn Fahrradminuten von der Schule entfernt. Mit Klaus, Focko und meinem Vater fahre ich dorthin. Zwischen einem großen Hallenkomplex und der Autobahn befinden sich hier auch heute noch ein Fußballplatz und einige Sprunggruben.
"Hier vorne war der Hochsprung, hier in diesem Bereich. Und da hat sich Jürgen Naß den Unterarm gebrochen, beim Sprung, beim Wiederaufkommen." - "Ich war ganz gut im Hochsprung, denn ich konnte damals schon diesen Straddle springen, mit dem man sich so rüberwälzt. Das war damals die Technik und da kam ich so 1,35, 1,40 hoch. Das war für damals und für unser Alter eine ganz gute Höhe."
Konkurrenz gab's nur im Sport
Auch Fokko erinnert sich noch genau an seine Leistungen.
"1,65 hab ich im Hochsprung geschafft und im Weitsprung 5,85 – du bist bestimmt über sechs Meter gesprungen, oder?" - "Nee, auch 5,85. Weitsprung war nicht meine Sache. Ich hatte damals schon Schwierigkeiten mit dem Knie, mit dem rechten Knie."
1,35, 5,85 – die Höhen und Weiten sind noch so präsent, als hätten sie die Männer eben erst gesprungen. Ich versuche, mich an meinen Schulsport zu erinnern, aber da ist nicht viel, das ich abrufen könnte, schon gar keine besonderen Leistungen. Sport war eigentlich nicht so wichtig für uns – oder vielleicht nur für mich nicht? In der Klasse meines Vaters war das ganz anders.
"Untereinander war das immer so eine gewisse Konkurrenz. Und es gab dann natürlich auch immer Enttäuschungen, auch bei mir, wenn ich irgendwas nicht geschafft hatte. Und ich kann mir gut vorstellen, dass dann auch andere Leute etwas kleinlaut waren, wenn sie irgendwas nicht so richtig hingekriegt haben. Aber es wurde eigentlich nie gespottet oder über jemanden hergezogen. Das gab es einfach nicht in dieser Klasse, dass man über jemanden herzog, der etwas nicht konnte. Das ist einer der Gründe, warum die Klasse so eng zusammengehalten hat."
Mir fällt auf, wie altmodisch das klingt: "gespottet". Heute wird gemobbt. Nicht nur in der Klasse, sondern gleich auf Facebook oder Whatsapp, sodass es jeder mitkriegt.
Im Ausflugslokal ist das Essen mittlerweile beendet, Zeit für den Verdauungsspaziergang. Doch nur drei der Männer wollen sich in die Mittagssonne wagen. Die anderen haben entweder Probleme mit dem Gehen oder mit der Haut.
Klassengemeinschaft - gibt es sowas heute noch?
Ich frage nochmal bei Klaus nach, wie er sich die große und langjährige Verbundenheit der Klasse erklärt.
"Alle fühlten sich miteinander verbunden. Es gab ein paar dabei, die so ein bisschen rausfielen, aber im Großen und Ganzen war das eine homogene Truppe. Und in den heutigen Schulen durch das Kurssystem findet sich eine solche Klassengemeinschaft gar nicht mehr. Die werden auseinandergerissen und dann werden sie wieder zusammengesteckt, und da bleibt immer ein Fremdgefühl. So ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das über die ganzen Jahre hält, das kann sich da gar nicht bilden."
Ich selbst war auf dem Gymnasium immerhin vom 7. bis zum 10. Jahrgang in einer Klassengemeinschaft. In der Oberstufe führte das Kurssystem dann tatsächlich zu vielen unterschiedlichen Stundenplänen. Mein Vater hat es immer bedauert, dass sich bei mir nie so ein Zugehörigkeitsgefühl zur Klasse oder später zum Jahrgang entwickelt hat.
Wichtige Meilensteine für dieses Zugehörigkeitsgefühl waren bei ihm die Klassenfahrten. Er hat oft und sehr bildhaft von ihnen erzählt. Zwei Mal fuhren sie an die Nordsee, außerdem gab es mehrere größere Radtouren. Von jeder Klassenfahrt gibt es ein Fotoalbum. Da mein Vater die Klassentreffen bisher immer organisiert hat, bewahrt er auch die Alben auf. Wir wollen sie ins Ausflugslokal mitnehmen und rumgehen lassen. Vorher sehen wir uns zu Hause in kleiner Runde alles nochmal an.
Von jeder Klassenfahrt ein gemeinsames Fotoalbum
Das erste Album ist grau, vorne in die Mitte ist ein Wappen der Nordseeinsel Juist genäht. Im Juni 1950, da waren die Jungs in der 7. Klasse, verbringen sie dort zwei Wochen.
Wenige kleine Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern sind auf die Seiten geklebt, dazwischen viel Text in schöner Schreibschrift und einige sehr gut gezeichnete Illustrationen von Klaus und einem anderen Klassenkameraden. Dieses Fotoalbum gibt es so nur ein Mal. Wie viele Fotos entstehen heute bei einer Klassenfahrt! Wie viele Selfies! Sie werden gepostet und vergessen.
"Wer hat denn die Fotos gemacht?" - "Tja, irgendjemand hatte einen Fotoapparat mit, ich weiß aber nicht wer, ich bestimmt nicht." - "Oh, das ist aber sehr ausführlich beschrieben hier, ja. Was war am Schönsten? Für manchen war es sicher die Speisekarte."
Zum Thema "Speisekarte" hat einer der Schüler eine lange Tafel ins Album gezeichnet, an der die Jungen sitzen, während einige von ihnen aus dampfenden Töpfen Suppe servieren.
"Da ist der dampfende Kessel mit der Suppe, glaube ich." - "Wir haben doch mit den Esslöffeln dann gehauen, wo bleibt die Butter, Butter, Butter, bleibt die Wurst, kannst du dich noch erinnern? Obwohl wir damals immer Margarine bekommen haben! Butter hatten wir doch gar nicht!"
Das erste Kapitel des Fotoalbums dokumentiert die Vorgeschichte der Klassenfahrt. Um für alle das nötige Geld für die zweiwöchige Fahrt zusammenzubekommen, fährt die ganze Klasse in den Pfingstferien in die Nähe von Oldenburg ins Moor. Dort arbeiten sie drei Tage lang und stechen Torf, der damals ein notwendiges Heizmittel war. Klaus erinnert sich an diese gemeinschaftliche Aktion.
Torfstechen für die gemeinsame Reise
"Es gab bei uns in der Klasse etliche Jungs, die irgendwie aus Flüchtlingsfamilien kamen, wo überhaupt keine Substanz da war und die das gar nicht bezahlen konnten. Und um das Geld dazu zu erwirtschaften, haben wir diese Torfarbeit gemacht, und die Lehrer haben das vermittelt und wir haben diese Arbeit gemacht und wir sind dafür bezahlt worden. Aber nicht wir, sondern der Lehrer hat das Geld an sich genommen und hat das dann verteilt, aber ohne dass wir wussten, wer es bekommen hat."
Der Text dazu im Fotoalbum endet mit den Worten: "Viel Mühe und Schweiß hatte es gekostet, aber auch viel Spaß gemacht. Das Schönste aber war, dass wir die restlichen Ferientage in dem stolzen Bewusstsein verbringen konnten, dass die Fahrt gesichert war und wir selbst etwas dazu getan hatten, allen Klassenkameraden die Reise zu ermöglichen."
Eine Horde 14-Jähriger arbeitet drei Tage lang in der prallen Sonne im Moor, um für alle das Geld für die Klassenfahrt zusammenzubekommen. Das klingt heute unvorstellbar, wahrscheinlich wäre es gar nicht erlaubt. Wir nehmen ein weiteres Fotoalbum zur Hand. Diesmal, im Oktober 1953, also in der 11. Klasse, geht es wieder an die Nordsee, nach Wangerooge. Gleich auf der ersten Seite kleben zwei Fotos, auf denen zu sehen ist, wie die Gruppe in den Bus zum Hafen einsteigt.
Musik machen die Jungen selber
Viele Jungs tragen Instrumente in der Hand oder über der Schulter. Focko liest: "Auszug mit klingendem Spiel." Der erste hat eine Trommel unter dem Arm. Viele weitere Bilder im Album zeigen die Jungs und ihren Klassenlehrer auf Wangerooge bei abendlichen Musikaufführungen.
"Das heißt, es waren einige da, die Instrumente spielen konnten?" - "Doch, ja, es waren eigentlich eine ganze Reihe, die irgendwie Geigenunterricht oder so was hatten." - "Ochsenfahrt konnte Gitarre spielen und Scholli konnte Klavier spielen, Klaus Kröpelin konnte Gitarre spielen und ich auch. Und wir haben dann zu Volksliedern – jenseits des Tales standen ihre Zelte – da haben wir eine Klampfenbegleitung gemacht."
Ich schaue auf die Schwarz-Weiß-Fotos der Klassenfahrt, wo die Jungs in karierten Hemden und kurzen Hosen in der Jugendherberge sitzen und gemeinsam musizieren. Sie strahlen so eine Zufriedenheit und Genügsamkeit aus, die mich berührt – und scheinen gleichzeitig Lichtjahre entfernt von heute oder auch von meiner eigenen Schulzeit.
Wir sind in der 10. Klasse nach München gefahren. Tagsüber haben wir das Deutsche Museum und das Konzentrationslager in Dachau besichtigt, abends Alkohol getrunken und die Zimmer des anderen Geschlechts inspiziert. Ein wichtiger Programmpunkt – der in der Klasse meines Vaters wegfiel. Das AGO war damals eine reine Jungenschule. Irgendwann stieß allerdings ein Mädchen dazu – Marianne. Weil sie Altgriechisch lernen wollte, kam sie in die Klasse meines Vaters. Die Jungs zeigten sich allerdings etwas unbeholfen mit der Situation.
"Sie konnte anfangs wohl mal ein bisschen zickig antworten." - "Wir haben uns aber auch wenig gekümmert am Anfang. Sie wurde einfach ignoriert. Man wusste auch so recht nicht, wie sollte man damit umgehen."
Erst Anfang der Siebzigerjahre wurde das Alte Gymnasium koedukativ, nahm also auch regulär Mädchen auf.
Marianne ist nie zu einem der Klassentreffen erschienen und hat sich auch nie wieder gemeldet. Die Männer bedauern das heute. Mein Vater hat ihr viele Briefe geschrieben und versucht, sie zu finden – ohne Erfolg. Sie wird ihre Gründe haben: ein Mädchen allein in einer Klasse unter lauter Jungs.
Ansonsten sind fast alle regelmäßig zu den Klassentreffen gekommen, die seit einiger Zeit alle zwei Jahre stattfinden. Vier Männer sind mittlerweile gestorben. Dieses Jahr fehlen einige weitere aus Krankheitsgründen. Für sie hat Manfred Helms extra Postkarten organisiert, die am Nachmittag im Ausflugslokal zum Unterschreiben durchgereicht werden.
Am Ende werden die Männer sentimental
Bis vor ein paar Jahren war auch der letzte Klassenlehrer, Horst Dieter Köster, bei den Treffen dabei. Köster war nur etwa zehn Jahre älter als die Jungen. Es war die erste Klasse, die er zum Abitur geführt hat. Das Verhältnis war – anders als zu der Zeit üblich – beinahe freundschaftlich. Gleichzeitig war er für die Schüler auch ein Vorbild.
"Ein ganz hervorragender Lehrer, der von vorneherein bei uns sehr beliebt war. Er ließ auch nicht unbedingt alles durchgehen." - "Er war ja bei der Marine, bei der Kriegsmarine und ist in der Nordsee drei Mal abgesoffen mit seinem Schiff, also drei Mal versenkt. Zweimal haben ihn Deutsche gerettet und beim dritten Mal haben ihn die Engländer gerettet, er ist dann auch in Gefangenschaft gekommen. Und er hat dann erzählt, und das habe ich immer noch im Ohr, dass er in der Gefangenschaft zu der Überzeugung gekommen ist, dass er Lehrer werden muss, um künftige Generationen davor zu bewahren, nochmal auf so was reinzufallen. Und das finde ich einen außerordentlich ehrenhaften Grund."
Zum Tod des Lehrers Köster im Jahr 2014 hat mein Vater im Namen der Klasse sogar eine Todesanzeige in der Zeitung aufgegeben: "Wir gedenken in Dankbarkeit, Freundschaft und Respekt Herrn Horst Dieter Köster", unterzeichnet mit "alle ehemaligen Schüler seiner 13g."
Als der Tag im Ausflugslokal sich dem Ende zuneigt, werden einige immer sentimentaler, so wie Klaus.
"Bei jedem kommen die Erinnerungen wieder hoch und das sind vielfach ganz verschiedene. Und mit einem Mal tauchen wieder Bilder vor einem auf, die man längst vergessen glaubte."
"Es bedeutet mir sehr viel. Ich freue mich immer so auf diese Klassenfeste. Das ist auch so, als wenn man wieder in der Schule wäre, das ist ja fast so wie früher! Die Atmosphäre ist ja fast genauso."
Obwohl die Umstände nach dem Krieg so schwierig waren, erinnern sich die Männer gerne daran. Oder vielleicht gerade deshalb? Heute sind alle über 80, einige verwitwet, die Krankheiten nehmen zu. Alles ist anders.
"Wir hatten auch mehr Zeit, Imke, damals. Also diese, ich sag immer diese Beschleunigung von allem. Schrecklich finde ich das. Allein deswegen bin ich schon froh, dass ich Pensionär bin."
Die Mail kommt ausgedruckt per Post
Ja, die Zeit. Die angenehme Langsamkeit, die diese Männer ausstrahlen, hat sicher nicht nur mit ihrem Alter zu tun. Ich frage mich, wer von meinen Klassenkameraden in diesen hektischen Zeiten bereit wäre, einen ganzen Tag für so ein Treffen zu opfern.
Nach sechs Stunden löst sich die Runde langsam auf. Drei Männer übernachten im Gasthof.
Ein paar Wochen später bin ich wieder bei meinem Vater zu Besuch in Oldenburg. Auf dem Esstisch liegt eine ausgedruckte Mail, die Manfred Helms meinem Vater per Post zugeschickt hat. Mein Vater hat keinen Computer.
"Guck mal, hier ist jetzt eine E-Mail, beziehungsweise ein Brief gekommen von Manfred Helms zum Abschluss des Klassentreffens. 'Liebe Freunde, Gerd hat uns immer nach einem Klassentreffen ein Resumee geschickt – diese schöne Tradition soll beibehalten bleiben.' Hast du immer nochmal aufgeschrieben, was ihr so gemacht habt?" - "Ja klar, damit wir beim nächsten Klassentreffen noch wissen, wie das letzte war. Und vor allen Dingen auch zur Information derer, die nicht am Treffen teilnehmen konnten." - "Und dann hast du das jedem als Brief geschickt?"
"Haltet die Ohren steif!"
Ich fass es nicht: Mein Vater hat nach jedem Klassentreffen 20 einzelne Briefe per Post an seine Klassenkameraden verschickt. Was für ein Zeitaufwand! Die Whatsapp-Gruppe wäre in wenigen Minuten angelegt, man könnte sich Fotos schicken, kurze Filmchen.
In der ausgedruckten E-Mail von Manfred lese ich, dass das Lokal sehr schön war, dass es Spargel gab und über welche alten Geschichten sie gesprochen haben. Und dass sich einige gewünscht haben, sich nun jährlich und nicht nur alle zwei Jahre zu treffen. Weil man doch älter wird und nicht mehr weiß…
Ich bin gerührt und nehme meinen Vater in den Arm. "Dir hat's auch gefallen, oder?" - "Ja sicher, ich war froh, dass ich es doch noch einrichten konnte, mitzukommen. Es ist immer so schön sich wiederzusehen, nach ein paar Jahren." - "Am Ende schreibt er noch: 'Im Ganzen hatte ich den Eindruck, dass das Klassentreffen Freude machte und dass alle in zwei Jahren gerne wieder dabei sein möchten. Hoffentlich auch die diesmal Verhinderten. Haltet die Ohren steif, euer Manfred.'"