Das Labor der Lichtung

Von Jochen Stöckmann · 07.06.2008
Vor kurzem hat Yehudit Sasportas die Moore Norddeutschlands entdeckt, für sie eine Art metaphorischer "Lichtung". Dort lässt die Künstlerin die Landschaft auf sich wirken, zeichnet und fotografiert, was dann im Studio noch einmal bearbeitet, "geklärt" und "gelichtet" wird. Im Braunschweiger Kunstverein gewährt sie jetzt einen Einblick in ihr Schaffen.
Zuerst einmal steht der Besucher des Braunschweiger Kunstvereins im Wald, vor einem halbrunden Panoramabild in strengem Schwarzweiß: Von Märchen und Mythen allerdings kann keine Rede sein, denn Yehudit Sasportas malt keinen Hain, kein Dickicht. Stattdessen bildet die 39-jährige Künstlerin aus Israel jeden einzelnen Baumstamm in graphischer Perfektion ab, seltsam realistisch.

Was nach Baumsterben aussieht, kümmerliche Äste und verkrüppelte Stämme, das könnte auch eine Landschaft nach der Schlacht des Ersten Weltkriegs sein mit in die Luft gewirbeltem Drahtverhau und zerfetzten Baumleibern. Diese fließenden Übergänge zwischen Gegenwart und Geschichte prägen auch die formale Komposition: Kippfiguren und raffiniert verschränkte Perspektiven eröffnen Sasportas vertrackte – und daher immer auch vergnügliche – Schule des Sehens.

Nach dieser Basislektion taucht dann sehr schnell die Frage auf, ob es sich bei diesen Bildfacetten nicht doch um Projektionen der eigenen Erinnerungen, Erlebnisse handelt? Versteht es diese Künstlerin gar, in ihren Arbeiten unser vom täglichen Multimediaschrott verschüttetes Unbewusstes zu spiegeln? Schließlich betreibt sie in Berlin ein ganz besonderes Atelier:

"Labor der Lichtung, ein metaphorischer Name und zugleich eine Art künstlerischer Arbeit: scheinbar einfach, wird sie aber verrichtet in einer aufgeladenen, "kontaminierten" Landschaft. Schon meine frühen Installationen hatten diesen doppelten Ansatz: unschuldig an der Oberfläche verharren, zugleich immer tiefer graben – um Dinge zu enthüllen, die in diesen archäologischen Schichten verborgen sind. Diese Spannungen, diese unzugänglichen Seiten des Lebens interessieren mich auf individueller und kollektiver Ebene."

Die "Lichtung" bedeutet für Yehudit Sasportas, in sehr distanzierter Anlehnung an die Philosophie Heideggers, zweierlei: die ganz reale, abgeholzte Fläche, den brutalen Eingriff in die wuchernde Natur, aber auch einen virtuellen, von allen Vorurteilen und Prägungen befreiten Denkraum.

Und so sind ihre kleinteilig, auf weißen Sockeln aufgereihten Zeichnungen auch keine Vorstudien, sondern jeweils ganz besondere Choreographien wiederkehrender Elementarteilchen wie Blätter, Äste, Baumrinden.

Vor kurzem hat Yehudit Sasportas die sagenumwobenen Moore Norddeutschlands entdeckt, für sie eine Art metaphorischer "Lichtung". Dort, mitten in der Natur, lässt die Künstlerin die Landschaft auf sich wirken, zeichnet und fotografiert "in situ", was dann im Studio noch einmal bearbeitet, "geklärt" und "gelichtet" wird:

"Je länger ich in Deutschland bin, je mehr nähere ich mich dieser Landschaft. Vorher geschah das eher intellektuell. Der direkte, körperliche Kontakt führt anschließend zu unterschiedlichen Reaktionen im Studio. Je näher man den Dingen kommt, je körperbetonter, mit allen Sinnen arbeitet man damit. Der Intellekt spielt auch mit, aber ganz anders."

Schwarze Stäbe, die zusätzlich als fragile Skulpturen die klassizistischen Räume des Kunstvereins gliedern, lassen auf den großformatigen Landschaftsgemälden das Motiv des Landvermessers anklingen, markieren aber auch die Unergründlichkeit der schillernden Moorfläche.

"Es wird Yehudith Sasportas ja auch häufig im Zusammenhang mit der deutschen Romantik interpretiert. Das stimmt natürlich insofern, als es auch bei ihr um mental landscapes, um mentale Landschaften geht. An sich aber hat sie doch einen ganz anderen Ansatz als etwa Caspar David Friedrich, mit dem sie immer wieder verglichen wurde."

Damit verweist Hilke Wagner, die Leiterin des Kunstvereins, auf die stetige Fortschreibung eines Oeuvres. Zwei Gemälde lehnen schräg an der Wand, als seien sie noch in Arbeit.

Und hinter einem schwarzen Vorhang tauchen die nunmehr bekannten, zeichnerischen Motive in einer Filmanimation auf, verbunden mit technisch verfremdeten Naturgeräuschen:

"Das ist eine Synthese von völlig hybriden Elementen, aber genau das macht es so spannend. Und ich glaube, dass die Ausstellung sehr wohl sehr gut lesbar ist für jeden Besucher, der sich die Zeit nimmt die Sachen genau anzuschauen: Es sind geringe Variationen in den Bildern, es sind die gleichen Elemente immer wieder gespiegelt, variiert, invertiert."

Anders als bei der dieser Tage so oft beschworenen "Lesbarkeit" in den Materialbildern eines Anselm Kiefer geht es nicht um Symbole oder gar mythologischen Bombast. Für ihren Film etwa nutzt Yehudit Sasportas ganz einfach eine Vinyl-Schallplatte, erzeugt aus dem rotierenden Rillenmuster den optischen Sog einer Zeitmaschine, eines "time tunnel":

"Es kann etwas sein, das ganz einfach ausschaut. Indem ich den Kontext verändere, wird unsere Abhängigkeit von vorgefertigten Perspektiven sichtbar. Wie wir Dinge anschauen, wie wir Sprache benutzen, das ganze System von Filtern, durch die wir Realität wahrnehmen. Dahinter einen sozusagen "nackten", frischen Raum freizulegen, das reizt mich. Das hat auf andere Weise Cy Twombly getan – und auch Marcel Duchamp."

Cy Twombly also und Marcel Duchamp, das sind die beiden Riesen, auf deren Schultern Yehudit Sasportas unbefangen experimentiert, deren kunsthistorisches Erbe sie zum Tanzen bringt. Mit kristalliner Klarheit, theoretisch durchdacht - und dennoch unergründlich. Hier kann man sich kaum satt sehen, ganz ohne die neue Prächtigkeit gegenständlicher Malerei.