"Das Land gehört uns"

Von Victoria Eglau |
Die indianischen Ureinwohner galten in Argentinien jahrhundertelang als Störenfriede. Ende des 19. Jahrhunderts führte das Land einen Vernichtungskrieg gegen sie und eroberte viele ihrer Territorien. Inzwischen fordern die Indios ihr Land zurück.
Die Humahuaca-Schlucht in der argentinischen Provinz Jujuy, rund 1.700 Kilometer nördlich von Buenos Aires. Yolanda Lamas geht langsam einen steinigen, leicht abfallenden Weg entlang. Er führt von der Landstraße, wo sie aus dem Bus gestiegen ist, zu ihrer Indio-Gemeinschaft Hornaditas. Weit weg, am Fuß der Berge, sind lehmverputzte Häuschen zu erkennen. Yolanda hat schwarzes, schulterlanges Haar und trägt einen Hut gegen die Sonne, die jetzt, am frühen Vormittag, bereits unbarmherzig vom Himmel brennt. Die Dreißigjährige arbeitet in der siebzehn Kilometer entfernten Kleinstadt Humahuaca und kommt mehrmals pro Woche nach Hornaditas, wo sie Mitglied des Rats der Indio-Gemeinschaft ist.

"”Siebzig Familien leben ständig in Hornaditas. Hundert weitere Familien sind in die Städte gezogen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber sie gehören zu unserer Gemeinschaft, und besuchen uns in der Karnevalszeit, zu Festen oder bei besonderen Anlässen, wie einem Todesfall oder einem Geburtstag.""

Yolanda Lamas gehört zum Volk der Omaguaca, einem von 32 Urvölkern in Argentinien, wo 1,6 Prozent der Bevölkerung sich als indianisch definiert. Jujuy ist die Provinz mit dem größten Ureinwohner-Anteil: Ein Zehntel der Haushalte hat indigene Mitglieder, rund 270 Indio-Gemeinschaften gibt es. Yolandas Siedlung liegt auf dreitausend Metern Höhe, zwischen zwei Bergketten, deren Felsen in Ocker-, Rot- und Brauntönen schillern.

Nach einem halbstündigen Fußmarsch bleibt Yolanda vor einer winzigen Kirche stehen. Daneben befindet sich der Versammlungsraum der Gemeinschaft, gegenüber steht das weißgetünchte Haus der Grundschule. Außer ein paar Schülern, die die argentinische Flagge hissen, ist kein Mensch zu sehen. Die Leute bewirtschaften das Land, sagt Yolanda, und zeigt in die Ferne. Die Siedlung Hornaditas ist weit auseinander gezogen, ihre Häuser liegen viele Kilometer voneinander entfernt, Straßen und Autos gibt es nicht. Yolanda holt eine Flasche und einen Becher aus ihrer Tasche. Bevor sie trinkt, gießt sie Wasser in den Staub: für Pachamama, Mutter Erde - von den Ureinwohnern der Andenregion als Gottheit verehrt.

"Wenn es Zeit ist, zu säen, versammeln sich die Familien traditionell zur Minga. Gemeinsam werden Kartoffeln ausgesät. Wir helfen uns gegenseitig und feiern dabei ein Fest. Morgens geht es los, mittags essen wir zusammen, und zum Schluss erweisen wir mit einer Zeremonie der Pachamama die Ehre."

erklärt die junge Frau ein indianisches Gemeinschaftsritual. Mit Kartoffel- und Maisanbau und der Zucht von Lamas und Schafen halten sich die Menschen in Hornaditas über Wasser. Weil das gemeinsame Leben und Arbeiten für sie wichtig ist, fordern die meisten argentinischen Ureinwohner den Kollektivbesitz ihres Landes.

"Unser Dorf Hornaditas fordert dringend, dass der Staat dieses Land als unser Gemeinschaftseigentum anerkennt. Das wäre gut für alle Familien hier, denn es würde sich kein Individualismus ausbreiten. Wir glauben, dass Pacha, die Erde, allen gehört."

Bislang verfügt die Gemeinschaft über keinerlei Besitztitel für ihr Land. Das Stück Erde, das sie Yolanda zufolge schon vor der spanischen Kolonisierung im sechzehnten Jahrhundert bewohnte, gehört ihr offiziell nicht. Der Blick der Ureinwohnerin verfinstert sich.

"Wir wissen nicht einmal, ob unser Land in staatlichem oder privatem Besitz ist. Mir scheint, der Staat will das Land seinen ursprünglichen Besitzern nicht zurückgeben. Aber es gehört uns."

Nach der spanischen Eroberung waren nicht alle Indio-Völker Amerikas unterworfen und versklavt worden – eine Reihe von ihnen leistete Widerstand. Der argentinische Staat, dessen Unabhängigkeit 1810 eingeleitet wurde, betrachtete die Ureinwohner auf seinem Gebiet als Störenfriede. Ende des neunzehnten Jahrhunderts führte die Armee einen Vernichtungskrieg gegen die indianische Bevölkerung und eroberte viele ihrer Territorien. Das Land fiel dem Staat, Militärs und Großgrundbesitzern zu. Heute wollen die Indios es zurückhaben. In der Provinz Jujuy unterstützt der Rat der Ureinwohner-Organisationen rund zweihundert indigene Gemeinschaften bei ihren Forderungen. Alejandra Castro arbeitet in der Zentrale in der Provinzhauptstadt San Salvador, 140 Kilometer südlich von Hornaditas.

"Ich würde sagen, es gibt heute einen politischen Willen, den Ureinwohnern ihr Land zurückzugeben, aber es müssen konkrete Lösungen her. Die Provinzen müssen mit der Nationalregierung kooperieren. Denn wenn die Provinzen den Prozess hemmen, funktioniert es nicht. Der politische Wille ist nicht genug - es fehlen Instrumente, um die Landfrage zu lösen."

Vor drei Jahrzehnten begannen Argentiniens Indigene, nicht nur für ihr Land zu kämpfen, sondern sich auch auf die eigene Identität zurückzubesinnen. 1983 ging eine siebenjährige Militärdiktatur zu Ende. Im demokratischen Frühling fingen verschiedene gesellschaftliche Gruppen an, sich Gehör zu verschaffen – auch die Ureinwohner.

"Seit unserer Staatsgründung bis in die 1980er Jahre hinein gab es in Argentinien offiziell keine Indios. Demokratische und Militärregierungen wollten die indigene Bevölkerung um jeden Preis integrieren. Sie ignorierten ihre Kultur, ihre Weltanschauung und ihre Organisationsformen. Keiner traute sich zu sagen: Ich bin Ureinwohner. Wegen der staatlichen Unterdrückung ihrer Identität leugneten die Indios diese selbst."

Eine Unterdrückung, die auf politischer und kultureller Ebene und im Bildungssystem stattfand - erklärt Alejandra Castro. Eine Folge: der Verlust der Sprachen. Weniger als ein Zehntel der argentinischen Ureinwohner spricht heute noch eine indianische Sprache.

"Besser erhalten sind Riten und Gebräuche. So haben etwa der Karneval und die Pachamama-Rituale überlebt. Es gibt ein großes Interesse daran, das spirituelle Erbe wiederzubeleben, auch bei jungen Leuten."

Szenenwechsel: in der Hauptstadt Buenos Aires, im lauten und überfüllten Geschäftsviertel Once. Direkt neben dem großen Pendler-Bahnhof steht ein altes, renovierungsbedürftiges Gebäude. In sanierten Büroräumen im zweiten Stock ist das INAI untergebracht, Argentiniens Nationales Institut für Indigene Angelegenheiten. Präsident Daniel Fernandez hat graumeliertes Haar und trägt ein kariertes Hemd, ab und zu nippt er an einer Tasse mit Mate-Aufguss. Das INAI ist für die knapp drei Dutzend Urvölker zuständig, darunter die Omaguaca und Kolla im Norden, die Guaraní im Nordwesten und die Mapuche im Süden Argentiniens.
"Als indigen gilt, wer sich selbst so bezeichnet. Gut 600.000 Indios leben in Argentinien, das kam bei einer staatlichen Befragung im Jahr 2005 heraus. Die Ureinwohner-Organisationen glauben, dass es viel mehr sind. Wir hoffen auf neue Erkenntnisse durch die Volkszählung, die Ende Oktober stattgefunden hat."

Daniel Fernandez weiß, dass der Prozess der Rückbesinnung auf die eigene Identität ein langsamer ist. Er hält für möglich, dass sich heute mehr Argentinier zu ihren indianischen Wurzeln bekennen als vor fünf Jahren. Der Funktionär weiß auch um das späte Handeln des Staates: Erst 1994 wurden die Urvölker in der argentinischen Verfassung anerkannt und ihre Rechte festgeschrieben. Die Änderung war Teil einer großen Verfassungsreform unter Präsident Carlos Menem und eine Reaktion auf das erwachende Selbstbewusstsein und die Forderungen der Indios ab den achtziger Jahren.

"Der Fortschritt war bedeutend. Es wurde anerkannt, dass die Urvölker bereits vor der argentinischen Staatsgründung auf diesem Territorium gelebt haben. Und es wurden ihnen wichtige Rechte zugesprochen, wie der Gemeinschaftsbesitz ihres Landes."

Das, was etwa Yolanda Lamas und ihre Gemeinschaft in Jujuy fordern, steht ihnen also laut Verfassung zu. Was steht der Landrückgabe im Wege? Der Präsident des Instituts für Indigene Angelegenheiten streicht sich über den grauen Schnurrbart, dann sagt er:

"Vier Millionen Hektar Land sind bereits im kollektiven Besitz indigener Gemeinschaften. Aber weitere zehn bis fünfzehn Millionen Hektar werden von meinem Institut noch überprüft."

Die harten Lebensbedingungen in den Indio-Dörfern haben viele ihrer Bewohner zur Migration gezwungen. Fast zwanzig argentinische Urvölker leben heute mehrheitlich in Städten, wo ihre Mitglieder besseren Zugang zu Jobs, Schulen und Sozialhilfen haben. Die indigene Bevölkerung, ob auf dem Land oder in den Metropolen, ist ärmer als der Bevölkerungsdurchschnitt. Vierzehn Prozent der argentinischen Haushalte können ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen, bei den Ureinwohnern ist es fast ein Viertel.

In der 14.000-Einwohner-Stadt La Quiaca, ganz im Norden der Provinz Jujuy, an der Grenze zu Bolivien. Jesús Olmedo hat hier ein Hilfswerk aufgebaut, das Arbeitslose unterstützt, Armenküche und Kinderhort betreibt und Sozialwohnungen baut. Rastlos läuft der Priester, eine große Hornbrille auf der Nase, durch das katholische Gemeindezentrum.

"Keine Regierung hat sich bisher um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Norden von Jujuy gekümmert. Mehr als die Hälfte der Urbevölkerung in dieser Gegend ist arbeitslos oder unterbeschäftigt."

Insgesamt hat ein Viertel der ländlichen Indio-Bevölkerung Argentiniens keine Arbeit, wie eine Untersuchung der Katholischen Universität Buenos Aires ergeben hat.

Im Gemeindezentrum warten an diesem Vormittag Bedürftige aus La Quiaca und den drei Dutzend umliegenden Indio-Dörfern. Jeden Tag kommen zwischen vierzig und sechzig Hilfesuchende, seufzt Olmedo und rückt seine Baskenmütze zurecht. Auf den Holzbänken sitzen vor allem Frauen – manche sind städtisch gekleidet, andere tragen knielange Röcke und Hüte auf den langen Zöpfen. Junge Mütter haben ihre Babys in bunte Tücher gewickelt. Jesús Olmedo streicht einem schmalen Jungen über den Kopf.

"Ich habe hier Zeiten erlebt, in denen fast die Hälfte der Kinder unterernährt war. Und in denen auch die Kindersterblichkeit extrem hoch war."

Achtzig Prozent der Menschen in den ländlichen Indio-Gemeinden sind von Hunger oder Mangelernährung betroffen, hat die Katholische Universität Buenos Aires herausgefunden. Auch beim Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem sind die Gemeinschaften benachteiligt. Yolanda Lamas aus Hornaditas hat die Schwierigkeiten selbst erlebt. Um als Kind zur Grundschule zu laufen, brauchte sie mehr als zwei Stunden. Als sie Abitur machen wollte, musste sie allein in die nächste Kleinstadt, Humahuaca, ziehen. Danach studierte Yolanda - das gelingt nicht einmal fünf Prozent der argentinischen Ureinwohner.

Die junge Frau ist von Hornaditas mit dem Bus ins 150 Kilometer entfernte La Quiaca gefahren. Im kleinen Uni-Gebäude der Stadt sitzen in einem Hörsaal rund fünfzig Männer und Frauen verschiedenen Alters. Es ist Freitag: der erste von drei Vorlesungstagen des Studiengangs Indigene Entwicklung, der Mitgliedern von Ureinwohner-Gemeinschaften vorbehalten ist. Yolanda Lamas gehört zu den Dozenten.

"Die Kurse werde am Wochenende abgehalten, damit die Studenten an den anderen Tagen am Gemeinschaftsleben teilnehmen können. Wir geben ihnen die Möglichkeit, zu studieren, ohne ihrem Dorf den Rücken zu kehren. Ziel ist, dass sie zur Entwicklung ihrer Gemeinden beitragen."

In der Vorlesung geht es um indigenes Recht, eine Kollegin von Yolanda doziert über Verfassungsartikel und internationale Abkommen. Weitere Fächer des neuen Studiengangs, der von den Provinzbehörden anerkannt ist und durch deutsche Entwicklungshilfe mitfinanziert wird, sind indianische Kultur und Weltanschauung, Geschichte, Umweltschutz und Buchhaltung. Einer der insgesamt fünfhundert Studenten ist der Kleinbauer Ernesto Vera. Er ist Anfang fünfzig und Präsident einer Indio-Gemeinde nahe La Quiaca. Das größte Problem seiner Gemeinschaft? Der fehlende Besitztitel für unser Land, antwortet der Campesino sofort.

"”Wir sind es satt. Wir bitten nicht um Geld, wir bitten nicht um Arbeit. Wir wollen nur als Gemeinschaftseigentümer unseres Landes anerkannt werden. Um dort der Pachamama zu huldigen, um dort zu säen, um dort zu leben und unsere Cambalaches, unsere Tauschgeschäfte, zu machen. Dafür wollen wir unser Land zurück haben.""