Erlaubt ist, was gefällt?
Kritische Künstler und Kulturschaffende in der Türkei haben es schwer. Wer Präsident Erdoğan nicht ins Konzept passt, wird entlassen oder nicht mehr unterstützt. Zensur und Selbstzensur gehören zum Geschäft. Die Folge: Die jungen Kreativen gehen.
Das Viertel Beyoğlu im Herzen Istanbuls: Früher reihten sich hier Cafés und Bars aneinander, unzählige Galerien, Theater und Kulturräume fanden sich jenseits der zentralen Einkaufsstraße in den engen Gassen zwischen dem Galataturm und dem Taksimplatz. Dort fanden die großen Demonstrationen während der Gezi-Proteste statt, eine Zeit mit vielen kreativen Impulsen. Viele Künstler fanden sich damals unter den Protestierenden, die sich gegen den Verlust von öffentlichem Raum – auch für Kreativität und liberales Denken – einsetzten und gegen die Zerstörung eines Parks, der als ein Symbol des Zusammentreffens verstanden wurde.
Brain-Drain nach Niederschlagung der Gezi-Proteste
Doch mit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste durch die Polizei erlosch diese Dynamik ganz abrupt und schlug in Hoffnungslosigkeit um. Seitdem sind viele Künstler und Kreative ins Ausland gegangen oder haben Istanbul den Rücken gekehrt und sich aufs Land zurückgezogen.
Beyoğlu, die Gegend um den Taksimplatz, hat sich seitdem extrem gewandelt. Die Galerien sind Geschäften gewichen. Viele der früheren Bars haben umgestellt auf Shisha-Cafés, um den Geschmack der konservativen Jugend, sowie der vielen arabischen Touristen zu bedienen. So steht Beyoğlu als Sinnbild für die Veränderungen der türkischen Gesellschaft in den vergangenen zwölf Jahren. Seit die AKP-Regierung an der Macht ist, haben die konservativen Kräfte mehr und mehr die Oberhand gewonnen.
Merve Bayrak, eine Anfang 30-jährige mit offenem Lachen und hellbraunen Locken, lebte früher in dieser Gegend, aber ist inzwischen weggezogen. Sie sitzt in ihrem mit modernen Möbeln aus Holz und dunklem Metall eingerichteten Wohnzimmer und raucht eine Zigarette nach der anderen.
"Mit Freunden bin ich ständig zu irgendwelchen Ausstellungseröffnungen gegangen. Wir haben das geliebt und viel Inspiration daraus gewonnen. Aber dann wurden ein paar Mal Eröffnungsfeiern gewaltsam angegriffen, von Leuten, die in der Nachbarschaft wohnten, weil die Besucher dort Wein getrunken haben. Leider wollen diese Leute keine Kunst, sie denken, das ist alles pervers und falsch. In manchen Städten, sogar an historischen Orten werden Skulpturen zerstört, weil sie nackt sind."
"Unsere Regierung hält nicht viel von Kunst"
Bayrak arbeitet für eine soziale Organisation, aber ist eigentlich ausgebildete Schauspielerin. Doch nach dem Studium kam die Ernüchterung. Denn sie musste erkennen, dass es nicht so einfach ist, von der Schauspielerei zu leben. Das ist fast überall auf der Welt so, aber in der Türkei kommen noch politische Hindernisse dazu.
"Ein halbes Jahr lang habe ich keine Engagements gefunden. Ich habe alle Theater abgeklappert. Das war ziemlich deprimierend. Viele von ihnen mussten schliessen, weil sie keine Förderung mehr bekamen. Wie wir alle wissen, hält unsere Regierung nicht viel von Kunst."
Das stimmt nicht ganz. Die türkische Regierung fördert vor allem Kunst- und Kulturprojekte, die sich der Zeit des Osmanischen Reiches widmen. Musiker, die klassisch-türkische Klänge produzieren, kommen deshalb besser an als Schauspieler, Musiker und Künstler, die sich progressiven Inhalten und Ausdrucksformen widmen.
"Man muss sich deren Vorstellung von Kreativität beugen"
Merve Bayrak sieht diese Entwicklung sehr kritisch.
"Alle anderen Länder der Welt versuchen, sich weiterzuentwickeln, aber die Türkei will zurückkehren zum Osmanischen Reich. Sogar in der Kunst dreht sich alles darum. Ich weiß nicht, was daran so großartig sein soll. Ich höre von Freunden, dass man besonders während des Ramadan gut verdienen kann, wenn man in traditionellen Stücken über die osmanische Zeit mitspielt. Aber wenn man etwas Modernes machen möchte oder vielleicht etwas mit einem Bildungsanspruch, dann kann man damit kaum Geld verdienen. Man muss sich also deren Vorstellung von Kreativität beugen. Ich kann das nicht als Kunst bezeichnen, denn Kunst kennt keine Vorgaben. Nur der Künstler selbst setzt die Regeln und Grenzen, aber keinesfalls die Regierung oder das Publikum. Aber das ist eben jetzt das Problem, dass sie versuchen, vorzugeben, was Kunst sein darf."
Die staatlichen Theater spielten meist nur noch traditionelle Stücke oder sie zensierten, zum Beispiel bei Shakespeare, wenn es da angeblich anstößige Szenen gebe. Bayrak runzelt die Stirn und zündet sich noch ein Zigarette an.
"Unsere Regierung ist ja sehr religiös orientiert. Da gab es dieses Stück, in dem einer der Darsteller auf der Bühne Alkohol trank und rauchte, weil das seine Rolle vorgab. Jemand von der Regierung muss das Stück gesehen haben, denn am nächsten Tag wurde es abgesetzt und ohne Alkohol und Zigaretten neu einstudiert."
Der Staat kontrolliert die Kunst- und Kulturförderung
Manche Theatermacher beantragen Stipendien, um ihre Stücke auf die Bühne zu bringen. Aber die Kunst- und Kulturförderung in der Türkei läuft fast ausschließlich über staatliche Institutionen. Um der Einflussnahme zu entgehen, behelfen sich manche mit Tricks, wenn sie Förderungen beantragen, erzählt Bayrak.
"Man muss das Skript erstmal nur schriftlich einreichen, so nehmen einige die sensiblen Inhalte raus. Aber wenn das Stück später aufgeführt wird, ändern sie das wieder. Normalerweise kommt sowieso niemand von der Regierung, um sich diese Stücke anzusehen".
Zensur und Selbstzensur sind nicht das einzige Problem. Dazu kommt, dass zahlreiche kritische Künstler und Kulturschaffende einer politischen Hexenjagd zum Opfer gefallen sind. Vor drei Jahren unterschrieben 1128 Akademiker eine Petition an die Regierung. Die Bitte: Den Konflikt mit den Kurden zu beenden. Vielen von ihnen wurde gekündigt oder sie wanderten gar ins Gefängnis.
2016 gab es einen Putschversuch, für den die türkische Regierung Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fetullah Gülen verantwortlich macht. Gülen war früher ein Vertrauter von Präsident Erdoğan, gilt aber heute als dessen Erzfeind. Nach dem Putschversuch räumte die Regierung gründlich auf und entließ Tausende Beamte aus dem Staatsdienst. So wurde sie elegant auch unbequeme Leute los, die nichts mit Gülen zu tun haben. Viele ihrer früheren Professoren seien den Entlassungen zum Opfer gefallen, sagt Bayrak.
"Die meisten meiner Professoren sind Atheisten, aber sie wurden beschuldigt, der Gülen-Bewegung anzugehören und wurden entlassen. Andere wurden entlassen, weil sie diese Friedensinitiative unterschrieben haben. Angeblich werden jetzt freie Dozenten engagiert – die nur 30, 40 Lira, fünf sechs Euro pro Stunde bekommen – und die überhaupt nicht qualifiziert sind, um Theater zu unterrichten."
Zu den jüngsten Opfer der Verhaftungswelle gehören Mitarbeiter der Kulturstiftung Anadolu Kültür. Dessen Gründer, der Mäzen Osman Kavala, sitzt bereits seit einem Jahr im Gefängnis. Ihm wird vorgeworfen, die Gezi-Proteste von 2013 massgeblich mitorganisiert zu haben, sowie die verbotene kurdische Organisation PKK zu unterstützen.
Kavalas Verhaftung und die seiner Mitarbeiter waren ein schwerer Schlag gegen die Kunst- und Kulturszene. Denn die Stiftung engagiert sich mit Events, Publikationen und Förderungen in allen Bereichen der Kunst. Sie fördert vor allem auch Künstler und Schriftsteller aus den Bevölkerungsminderheiten der Kurden und Armenier, was der Staat misstrauisch beobachtet. Nach den Massenentlassungen infolge des Putschversuchs war die Verhaftung Kavalas ein erneuter Schock für die Kulturszene und bestärkte das Gefühl, dass es jeden jederzeit treffen kann. Wegen des Mangels an freier Entfaltung haben sich viele Kulturschaffende in eine innere Emigration begeben.
"Für mich ist das wie Prostitution"
Merve Bayrak hat der professionellen Schauspielerei den Rücken gekehrt und arbeitet jetzt in einem sozialen Projekt für Frauen.
"Manche Kollegen spielen in stupiden Seifenopern, wofür sie gut bezahlt werden und stecken das Geld zurück ins Theatermachen. Ich kann das zwar verstehen, aber für mich ist das wie Prostitution. Ich mache lieber etwas ganz Anderes. Ich habe das Gefühl, meine Kunst zu beschmutzen, wenn ich irgendeine TV-Rolle annehme oder etwas Religiöses, nur um Geld zu verdienen. Das will ich nicht."
Seit dem Niedergang des Szeneviertels Beyoğlu hat sich die Kreativszene weitestgehend auf die asiatische Seite Istanbuls, nach Kadıköy, verlagert. Dort herrscht ein sehr alternatives Flair. In dem Stadtteil hält die Oppositionspartei CHP die Mehrheit und damit die Kommunale Verwaltung. Sie verfolgt eine eher linke Politik. Plakate mit Ankündigungen für Konzerte, Aufführungen und politische Veranstaltungen zieren Bauzäune und etwas heruntergekommene Häuserwände. Kleine Boutiquen mit Handgemachtem wechseln sich ab mit Lesecafés, Musikgeschäften und Trödelläden. Motoroller und Mottoräder knattern über das Kopfsteinpflaster. Bäume und Begrenzungspoller ziert Guerillastrick. Aus den Bars dringt Rockmusik.
Ganz in der Nähe wohnt der Musiker Alper İşık. Er trifft sich mit seinem Freund und Musikerkollegen Deniz Şahin zu Hause. Die beiden sitzen im Wohnzimmer auf bunten Sofas bei Filterkaffee umgeben von Wandteppichen und Dekoartikeln aus Indien. In einer Ecke stehen Tablas und afrikanische Trommeln. İşık sieht die Lage, was die Musikszene angeht, nicht so pessimistisch.
"Nichts hat aufgehört, niemand hat aufgehört Musik zu machen oder kreativ zu sein. Vielleicht kann man das so sehen: Je mehr Druck man von der Regierung spürt, um so kreativer ist man, denn das ist doch die Bedeutung von Kunst: Du drückst aus, was dich stört oder beschäftigt und dann spürst du mehr Druck und du versuchst das alles durch deine Kunst herauszulassen."
Viele Clubs müssen schliessen
Die Einschränkungen funktionieren nicht so direkt, wie man vielleicht meinen möchte, sagt er. Und sie richten sich auch weniger nach den Inhalten. İşık gibt ein paar Beispiele:
"Man kann nicht behaupten, dass man in der Türkei nichts mehr sagen oder tun darf. Aber über die Jahre sieht man, wie sich die Dinge Schritt für Schritt verändern. Zum Beispiel erhöhen sie die Steuern, die grösseren Clubs müssen deshalb schließen, sodass die Clubs immer kleiner werden. Oder die Regierung denkt sich: Ok, wir mögen keine Bars, also: Wo ist euer Notausgang? Früher hat man das mit den Behörden über Geld geregelt, aber jetzt geht das nicht mehr. Entweder du baust eine Feuertreppe, was sehr teuer ist, oder du machst deinen Laden zu. Und das Sponsoring für Musikveranstaltungen kam hauptsächlich von Alkohol- oder Zigarettenherstellern. Aber das ist jetzt nicht mehr erlaubt und damit sterben auch die Konzerte."
Etwa einen Kilometer außerhalb des pulsierenden Zentrums von Kadıköy liegt das Emek Theater, ein bisschen versteckt zwischen einem Pizzaservice und einem Dönerladen. Weiß man nicht, dass sich dort ein Theater befindet, läuft man leicht an dem kleinen Hofeingang vorbei, in dem die Schauspieler und Mitarbeiter in der Pause gern bei einem Tee zusammensitzen. Pınar Yıldırım ist die Gründerin des Emek Theaters. Auch sie – die Einzige, die bereit ist, hier ihren richtigen Namen zu nennen – erzählt, dass der konservative Wandel der letzten Jahre die Arbeit für kleine, unabhängige Theater wie ihres nicht leicht gemacht hat. Aber sie sieht auch positive Entwicklungen.
"Man könnte denken, wegen der politischen Repressionen und der Wirtschaftskrise würden die Leute weniger ins Theater gehen, aber das Gegenteil ist der Fall. Das sagen die Statistiken. Die Besucherzahlen gehen hoch. Druck führt immer zu mehr Raum. Wenn der Druck steigt, dann steigt auch die Kraft, die Kunst entfaltet, die Qualität steigt. Vielleicht werden wir da in den nächsten zehn Jahren gute Ergebnisse sehen. In Kadıköy gibt es inzwischen 62 Theater. Niemand hätte gedacht, dass das so viele werden würden. Und was die Inhalte angeht, da hat sich die Wahrnehmung des Publikums verschoben. Früher gingen die Leute eher in städtische Theater, aber jetzt suchen sie sich Alternativen, private und unabhängige Theater."
Theaterstück abgesetzt - weil Erdoğan beleidigt war
Vor drei Jahren hat das Emek Theater unter Schauspielliebhabern Bekanntheit erlangt, nachdem sein Stück "Sadece Diktatör – nur ein Diktator" große Wellen geschlagen hat. In dem Ein-Mann-Theaterstücks sinniert ein Diktator in einem Monolog über seinen Aufstieg und darüber, was sein nunmehr unterdrücktes Volk dazu beigetragen hat. Die Rolle scheint dem türkischen Präsidenten Erdoğan auf den Leib geschrieben, aber es geht gar nicht um ihn, sondern um Diktatoren im Allgemeinen, die allesamt ähnlich funktionierten.
Es lief drei Jahre lang ohne Probleme, in Istanbul und auf Bühnen in vielen anderen türkischen Städten, sowie im Ausland. Dann wurde es plötzlich verboten, jedoch nicht wegen des Inhalts, sondern wegen des Hauptdarstellers. Der hatte einen Post auf Twitter abgesetzt, den Staatspräsident Erdoğan als Beleidigung empfand. Bestimmte Themen aufzugreifen wird schwieriger, denn der Druck steigt, aber Angst hat Pinar nicht:
"Wenn ich Angst hätte, könnte ich hier in der Türkei kein Theater machen. Angst bedeutet, dass du den Grund deiner Existenz auslöschst. Theater ist immer in der Opposition. Man muss auch gar nicht unbedingt politische Stücke aufführen. Theater bedeutet per se Opposition. Egal wer kommt, auch wenn die jetzige Regierung abtritt und eine eher sozialistisch ausgerichtete oder demokratische Regierung an die Macht kommt, auch dann wird das Theater als Opposition fungieren."
Der Hype um die Kunstmetropole Istanbul - eine Illusion
In den Jahren vor dem Gezi-Aufstand, etwa um 2011/2012 wurde Istanbul als nächste grosse Kunstmetropole gehypt. Die Stadt zog viele Künstler aus Europa an. Viele verliebten sich in ihren Charme und in eine Kunstszene, die gerade im Entstehen schien, noch roh und ungeschliffen. Zu der Zeit entstanden viele Initiativen und Austauschprogramme mit Kulturinstitutionen aus dem Ausland und die Istanbuler Kunstbiennale wurde zur festen Adresse im Terminkalender internationaler Kuratoren und Sammler.
Erkan Özer meint, das alles sei nur eine Illusion gewesen. Gemeinsam mit zwei Freunden unterhält er eine Kreativagentur im Istanbuler Geschäfts- und Nobelviertel Levent, das sehr modern und westlich geprägt ist, mit schicken Stadthäusern und Villen in schlichtem Design, umrahmt von großzügigen Gärten. Özer sitzt im Büro der Agentur an einem Designerholztisch und trinkt türkischen Mokka. Er trägt Hipster-Stil mit weißem Hemd auf Shorts und Sportschuhen. Zu dem gefühlten Kunst- und Kulturboom vor sechs, sieben Jahren hat der Mitdreißiger eine deutliche Meinung:
"Das war wie ein Traum in der Wüste, eine Fata Morgana. Das hatte nichts mit der Wirklichkeit in der Türkei zu tun. Diese Art von Kunst ist nicht für die normalen Leute gedacht. Zum Beispiel gibt es Galerien in Shishane oder das Istanbul Modern, die werden von reichen Familienunternehmen finanziert. Die gebärden sich wie Aristokraten und wetteifern miteinander, aber mit der wirklichen Türkei hat das nichts zu tun."
Kunst in der Türkei heute ist nur Show
Seine Agentur arbeitet zwar nicht im Kunstbereich, sondern bedient Geschäftskunden, aber sowohl Özer als auch seine beiden Partner haben alle einen künstlerischen Hintergrund und sind gut in der Szene vernetzt. Özer sagt, er beobachtet in den letzten Jahren einen Brain-Drain unter den jungen kreativen Köpfen.
"Die richtig gut ausgebildeten jungen Türken gehen alle nach Deutschland oder in die Niederlande oder woandershin, nur raus aus der Türkei. Wir haben keine kreativen Geister, keine produktiven Ideen. Alle, die wirklich Kunst schaffen, sind weg. Wenn man sich heute Kunst in der Türkei anschaut, ist das entweder extrem teuer oder es ist nur Show."
Özer beklagt auch, dass in den Schulen keine nennenswerte Kunsterziehung stattfindet, und selbst an den Universitäten bei den kreativen Studiengängen würden die Studierenden nicht viel lernen. Er lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und weist mit einer Kopfbewegung in Richtung des Konferenzraums, wo einige Jugendliche um ein großen Tisch herumsitzen und an Laptops arbeiten.
"Zum Beispiel einer meiner Schüler studiert im achten Semester Animationsdesign, er hat vier Jahre lang Studiengebühren bezahlt, aber wie man Animationen tatsächlich gestaltet, hat er erst von uns gelernt."
Özer und seine Partner haben einige Jugendliche unter ihre Fittiche genommen und unterrichten sie an den Wochenenden: Jugendliche, die Talent besitzen, aber normalerweise keinen Zugang zu kreativem Schaffen hätten. Solche, die ein Handicap haben, wie er es ausdrückt.
"Ich spreche nicht von körperlicher Behinderung. Manche Familien sind konservativ. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder an Kunstkursen teilnehmen. Wir sind so etwas wie Aktivisten und unterrichten solche Kinder."
Özer meint, die mangelnde Wertschätzung für Kunst habe auch gar nicht unbedingt etwas mit der Regierung zu tun, sondern die Türken seien in großen Teilen nicht bereit dafür.
Die türkische Gesellschaft ist gespalten
"Dieses Land ist nicht fähig zu einer künstlerischen Denkweise. Kunst bedeutet für die Leute nichts. Man kann damit kein Geld verdienen, man kann es nicht für irgend etwas verwenden. Ausserdem ist es im Islam verboten, Personen abzubilden. In der Türkei haben wir ungefähr 70 Prozent ignorante Menschen. Sie haben kein Verständnis für diese Dinge. Istanbul besteht zu 99,9 Prozent aus Bauern, die von überall hierhergekommen sind. Wir haben hier keine über 500 Jahre entstandene Stadtkultur."
Eine ziemlich elitäre Sichtweise, die vor allem zeigt, wie gespalten die türkische Gesellschaft ist. Westlich und modern orientierte Menschen, darunter viele Künstler und Intellektuelle, halten die Mehrheit der Türken, die eher konservativ und religiös eingestellt ist, für dumm und kulturlos. Und die Konservativen halten die modernen Türken für verrückt bis abartig. Künstler und Kulturschaffende wären eigentlich genau diejenigen, die diese unsichtbare Wand überbrücken oder zumindest infrage stellen könnten. Doch stehen jene, die die Fähigkeit haben, quer zu denken, selbst so stark auf einer Seite, dass sie kaum auf die Idee kommen, die Grenzen innerhalb der Gesellschaft aufzubrechen.
Innere Emigration als Lösung
Das ewige sich Drehen um das Thema Freiheit und Unterdrückung schlage sich auch in der Kunst selbst nieder, meint Alper İşıks Freund und Musikerkollege Deniz Şahin.
"Es geht ständig um Freiheit, darum, dass wir nicht frei sind. Wenn es diese Repressionen nicht gäbe, dann gäbe es mehr unterschiedliche Themen. Nur Künstler, die recht individuell denken und sich nicht so viele Gedanken darüber machen, was in der Türkei passiert, bringen originelle Werke hervor. Aber davon gibt es nur wenige. Einige haben sich gesagt, Schluss mit den politischen Problemen, ich mache einfach mein eigenes Ding. Sie haben sich in eine innere Emigration begeben und leben wie auf einem anderen Planeten."
Alper İşık findet allerdings, unter den Regierungen vor Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe es auch Restriktionen gegeben, nur eben andere.
"Es war nie alles gut, es war sogar nie viel besser. Wir können nicht behaupten, dass wir in der Türkei je frei waren. Die Betroffenen ändern sich, aber es ist immer jemand betroffen."
Unter den Vorgängerregierungen richteten sich die Repressionen eben genau gegen die Gruppe, die jetzt an der Macht ist, die Religiös-Konservativen. So durften religiöse Frauen in öffentlichen Gebäuden kein Kopftuch tragen. Religiöse Studentinnen mussten ihre Kopftücher am Eingang ihrer Universität ablegen. Schon Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hatte die Trennung von Religion und Staat radikal durchgesetzt und den Türken, von denen damals die Allerwenigsten gebildet und weltoffen waren, praktisch über Nacht ein neues Alphabet, einen neuen Wortschatz und eine neue Kleiderordnung aufgedrückt.
Die moderne Türkei wird nicht wiederkommen
Auch andere gesellschaftliche Gruppen litten unter Repressionen, allen voran die Kurden, die lange Zeit nicht mal ihre eigene Sprache verwenden durften und das unter an europäischen Werten orientierten Regierungen. Nun habe es eben die westlich geprägten Türken getroffen und die Religiösen behielten die Oberhand, meint İşık, und zuckt mit den Schultern.
"Sie standen am unteren Ende der Gesellschaft. Sie wurden unterdrückt und nicht wie Bürger behandelt. Leute wie ich, die modernen europäisch geprägten, das waren die Bürger. Wir waren nur zehn Prozent der Bevölkerung und sie waren 90 Prozent. Aber sie haben nie die Stimme erhoben. Jetzt haben sie die Oberhand und das wird sich auch nicht ändern, so wie sich das einige der säkularen Türken erträumen, dass eines Tages die moderne Türkei wieder auferstehen wird. Das wird nicht passieren".