Das Leben ist Risiko

Von Martin Tschechne · 08.02.2012
Welche Folgen hat der Klimawandel? Wie viele Rentner wird es in zwanzig Jahren geben? Wie entwickeln sich der Eurokurs, die Arbeitslosenzahlen oder die Sympathiewerte der FDP? Ach, wenn man doch nur einmal einen Blick in die Zukunft werfen könnte! Nur auf ein paar Tage. Auf eine Legislaturperiode. Nur auf eine einzige Generation!
Wo ist das Problem, fragen Wirtschaftsweise, Ratingagenturen, Demoskopen und Versicherungsmathematiker. Lässt sich alles berechnen! Meinungsforschung, Marktanalyse und Inferenzstatistik bieten ausgeklügelte Instrumente, um Entwicklungslinien aus der Vergangenheit sehr verlässlich in die Zukunft fortzuschreiben. Der Gestus im Auftreten dabei ist allerdings der einer Geheimwissenschaft.

Denn jeder soll spüren, dass Phänomene wie die Prosperität einer Volkswirtschaft oder das Zinsniveau für Staatsanleihen natürlich nur erklärt oder gar vorhergesagt werden können, wenn eine für Laien unabsehbare Vielzahl von Faktoren in ihrem hoch komplexen Zusammenspiel analysiert werden. Dazu braucht es Supercomputer und Superhirne; Elite in jeder Hinsicht - denn die Prognoseindustrie ist ein Milliardengeschäft.

Und dann kommt ein Sozialforscher, stellt sich in eine Fußgängerzone und fragt Passanten, welche Unternehmen aus dem DAX ihnen überhaupt bekannt seien. Zählt aus, welche Namen wie häufig genannt werden, stellt sich danach ein Aktienpaket zusammen - und lässt mit dem Gewinn jedes professionell entwickelte Portfolio alt aussehen. Gerd Gigerenzer heißt der Mann, ein Psychologe, hoch angesehener Wissenschaftler, aber irgendwie auch einer, der den Schalk im Nacken hat.

Was er demonstrieren will, ist zweierlei: erstens, dass oft gerade die einfachen Strategien zu den besten Resultaten führen. Und zweitens, dass es mit den komplexeren Verfahren schon deshalb nicht klappt, weil wir allesamt mit der Statistik auf Kriegsfuß stehen. Der Forscher spricht gar von einer Spielart des Analphabetismus, einer sehr grundlegenden Unfähigkeit oder Weigerung, statistische Zahlen korrekt zu interpretieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen: Soll ich mein Geld jetzt in Gold anlegen? Soll ich regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung gehen? Soll ich Rindfleisch meiden wegen BSE? Oder frisches Gemüse wegen EHEC?

Es fehlt an Risikokompetenz, an der Fähigkeit also, die Chancen und Gefahren des Alltags realistisch einzuschätzen.

1500 Menschen in den USA kamen bei Autounfällen ums Leben, weil sie nach den Terroranschlägen vom 11. September nicht mehr in ein Flugzeug steigen wollten. Wie wäre ein medizinisches Verfahren zu erläutern, das unter 100 Patienten 90 korrekt als gesund erkennt, bei dem unter den verbleibenden zehn aber nur einer wirklich krank ist? Wer mit Prostatascreenings oder Mammografie zu tun hat, sollte sich in solchen Wahrscheinlichkeiten schon auskennen.

In den Studien des Forschers taten das nicht einmal die Ärzte, die den Test einsetzten. Für die verbreitete Zahlenblindheit gibt es Gründe. Zum einen gilt es immer noch als chic, mathematisches Denken als viel zu kompliziert und im Wesen uninteressant abzutun: Niemand käme auf die Idee, sich seiner eigenen Schwäche in Englisch zu rühmen. Aber mit schwachen Leistungen in Mathematik kokettiert so mancher gern.

Zum anderen spielen Interessen eine Rolle. Medien machen Auflage, wenn sie alle paar Wochen eine neue Katastrophe ankündigen. Politiker sorgen vor für ihre Wiederwahl, indem sie möglichst rasch irgendetwas Symbolträchtiges tun - etwa Impfstoffe ordern und ein paar Millionen zum Fenster hinauswerfen. Im Gesundheitswesen verkauft sich sehr erfolgreich als verantwortungsbewusste "Vorsorge", was tatsächlich nur Früherkennung ist - und also eine Angelegenheit, die durchaus ihre eigenen Risiken hat. Aber wer möchte die schon zur Debatte stellen?

Und im Finanzwesen leben die smarten Herren in den gläsernen Türmen davon, dass bloß niemand ihre komplexen Produkte infrage stellt. Und schon gar nicht nachfragt, was denn wohl geworden ist aus der Prognose vom letzten Jahr. Es könnte ja sein, dass die Passanten in der Fußgängerzone einfach wieder mal das bessere Näschen hatten.

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Dr. Martin Tschechne ist Journalist und lebt in Hamburg. Er promovierte als Psychologe mit einer Arbeit zum Thema Hochbegabte.

Zuletzt erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern im Verlag Ellert & Richter (herausgegeben von der "ZEIT"- Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius).
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