Das Legalitätsprinzip

Peter Alexis Albrecht |
Es gibt immer mehr Strafverfahren, die gegen Zahlung eines Geldbetrages eingestellt werden. Oft stehen diese in Zusammenhang mit dem Straftatbestand der Untreue. Damit droht der Abschied von Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit staatlicher Macht.
Gegen einen bekannten Politiker besteht der Verdacht der Untreue zum Nachteil seiner Partei. Eine überraschte Öffentlichkeit muss zur Kenntnis nehmen, dass dieser Verdacht weder entkräftet noch bestätigt ist, das Verfahren aber dennoch – gegen Zahlung eines hohen Geldbetrages – von der Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts eingestellt wird. Es kommt weder zur Anklage noch zu einer Hauptverhandlung.

Diese Fälle, die sich in Zusammenhang mit dem Untreuestraftatbestand mehren, rücken das problematische Verhältnis von Legalität und Opportunität in das Blickfeld der öffentlichen Diskussion. Das Legalitätsprinzip hat von Rechts wegen die Aufgabe, das Verfassungsprinzip "keine Strafe ohne Gesetz" umzu-setzen.

Notwendiges Kriterium, wann mit der Aufklärung einer Straftat begonnen wer-den darf, ist der sogenannte Anfangsverdacht. Es sollen zumindest zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Straftat begangen wurde. Der Rechtsstaat kennt keine strafprozessuale Wahrheitsermittlung um jeden Preis. Vor dem Strafgesetz sollen alle Bürger gleich sein, die Anwendung des Strafgesetzes soll vorhersehbar sein, sie schützt den Bürger vor staatlicher Willkür – so das verfassungsrechtliche Prinzip der Gleichheit.

Das Legalitätsprinzip verpasst dem strafverfolgenden Staat also ein enges Kor-sett. Dieses kann unbequem sein, ist rechtsstaatlich aber unabdingbar. Im Unterschied zum Legalitätsprinzip genehmigt sich der Staat mit Hilfe der Opportunität Bequemlichkeiten. Danach verfolgt der Staat nicht immer, wenn er muss, sondern nur dann, wenn er kann und es sich lohnt. Kann der Staat nicht oder lohnt es sich nicht, erlaubt das Opportunitätsprinzip, die Strafverfolgung gar nicht erst aufzunehmen oder sie vorzeitig abzubrechen.

Die Rechts- und Tatsachenunsicherheiten im Fall eines ehemaligen Bundes-kanzlers führten dazu, dass man sich des Ausgangs des Verfahrens nicht sicher sein konnte. Die Staatsanwaltschaft hat zum Instrument der Verfahrenseinstellung nach Zahlung einer Geldauflage gegriffen. Ein Landgericht hat das Ergebnis mit einem schriftlichen Beschluss abgesegnet.

Das Opportunitätsprinzip bestimmt die politische Wirklichkeit des Strafver-fahrens. Jedes zweite anklagefähige Verfahren wird seitens der Staatsan-waltschaften bereits eingestellt. Im Jugendstrafrecht ist die Anklage schon die Ausnahme. Der Abschied des deutschen Strafrechts vom Legalitätsprinzip ist faktisch vollzogen.

Und er zeigt sich nicht nur innerhalb des Strafverfahrens, sondern auch in dessen Vorfeld. Bürokratischer Erledigungsdruck leitet den Gang des Strafverfahrens. Freiheit und Gerechtigkeit fallen dabei unter den Tisch. Damit vollzieht sich ein Abschied von Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit staatlicher Macht. Das bedeutet Willkür und Unkontrolliertheit im Strafverfahren. Der Unrechtsstaat lässt grüßen! Warum erfahren die Bürger das immer erst nach einem schmerzhaften Systembruch?

Was das Vorfeld anbelangt, so gilt die Trennung von Prävention und Repression so gut wie nicht mehr. Es gibt im präventiven Strafprozess keine rechtsstaatlich trennscharfen und juristisch überprüfbaren Grenzen mehr. Die Verletzung weicht der Gefährdung, die konkrete Gefahr weicht dem Risiko - alles butterweiche Begriffe für unkontrollierten, grundrechtsverzehrenden Zugriff. Man spricht in Fachkreisen ganz unverblümt von der "Verpolizeilichung des Strafverfahrens". Darin liegt nicht nur eine Beschreibung, sondern ein alarmierender Zustand.

Die Gesellschaft bewegt sich auf den Zustand der Voraufklärung zurück. Nicht mehr das Recht herrscht, sondern die Angst bestimmt die Eingriffsbefugnisse des Staates. Angst ist der schlechteste rechtsstaatliche Ratgeber, sie verdrängt die Vernunft.

Peter Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete sind das Strafrecht in seinen Grundlagenbezügen zur Kriminologie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie die Methoden empiri-scher Sozialwissenschaften zur Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustiz-systems. Veröffentlichungen u.a.: "Die vergessene Freiheit" (2. Auflage, 2006) und "Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft – Auf der Suche nach staatskritischen Absolutheits-regeln" (2010). Peter-Alexis Albrecht ist Herausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift "Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft".
Prof. Dr. Peter Alexis Albrecht
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