Das Leiden der Gertrud Stockhausen

Von Ludger Fittkau |
Im Rahmen der sogenannten "Aktion T 4" wurden in der Gaskammer von Hadamar rund 10.000 behinderte Menschen ermordet. Eine Schülerin hat nun umfangreich die Geschichte der Mutter des Komponisten Karlheinz Stockhausen recherchiert, die dort ihr Leben verlor.
"Hadamar ist ein trauriger Ort. Ein Ort der ratlos macht."

Der CDU-Politiker Uwe Brückmann ist als Direktor des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen zuständig für einen der dunkelsten Orte im Westen Deutschlands. Für eine Gaskammer der Nazis, in der 1941 rund 10.000 Behinderte ermordet wurden. Für die Fundamente von Brennöfen gleich neben an, durch deren Schornsteine der Rauch der Getöteten entwich und die gesamte Gegend um Hadamar und Limburg im Westerwald mit klebrigem Ruß überzog.

Christdemokrat Uwe Brückmann ist heute verantwortlich für eine Gedenkstätte, die erst nach dreißig Jahren des Verdrängens und Vergessens eingerichtet wurde - nachdem linke Gießener Studenten Anfang der 1980er-Jahre den Anstoß gaben. Daran wurde jetzt erinnert, die Gedenkstätte des Landeswohlfahrtsverbandes existiert nun 30 Jahre. Doch sie hat es nicht geschafft, dass alle Schüler des nur wenige Kilometer entfernten rheinland-pfälzischen Musikgymnasiums Montabaur etwas über die "Aktion T 4", die NS-Euthanasie insgesamt oder auch die Geschichte des Kampfbegriffs "lebensunwertes Leben" wissen:

Neue wissenschaftliche Ergebnisse
"Viele meiner Mitschüler haben eben vermutet und auch in meinem familiären Umfeld, dass Hadamar ein KZ war. Ich habe das ehrlich gesagt früher auch vermutet, weil ich es ehrlich gesagt nicht besser wusste und das war dann im Prinzip mein Antrieb überhaupt erst so detailliert nach zu forschen. Und auch den ganzen Weg, den die Opfer gehen mussten, selbst nachzugehen, um das einfach bildlich vor Augen zu haben."

Die 19 Jahre alte Schülerin Lisa Quernes führte sich in den letzten Monaten das Schicksal der NS-Euthanasie-Opfer so gründlich vor Augen, dass dabei ganz neue wissenschaftliche Ergebnisse herauskamen. Vor allem über Gertrud Stockhausen, der Mutter des weltbekannten Komponisten Karlheinz Stockhausen, die in Hadamar ermordet wurde.

Anlässlich der Feier zum dreißigjährigen Bestehen der Euthanasiegedenkstätte Hadamar berichtete heute der Musiker Markus Stockhausen, Enkel von Gertrud Stockhausen, von einem Familientreffen der über ganz Europa verteilten Stockhausens:

"Angeregt wurde das Ganze durch eine Geschichtsarbeit von Lisa Quernes, einer Schülerin des Landesmusikgymnasiums in Montabaur. ( ... ) Und dann hat Lisa Quernes eine sehr eindrucksvolle Geschichtsarbeit geschrieben, die in unserer Familie, besonders in unserem Geschwisterkreis, sehr viel ausgelöst hat."

Auch Diskussionen über die Frage, wie konnte es geschehen, dass Gertrud Stockhausen während der NS-Zeit jahrelang in einer psychiatrischen Anstalt im Rheinland lebte, ohne das die Familie versucht hat, sie dort heraus zu bekommen. Lisa Quernes konnte anhand der Patientenakten zeigen, dass vor allem Simon Stockhausen, der Ehemann der chronisch psychisch erkrankten Gertrud Stockhausen, sich in dieser entscheidenden Phase nicht genug um seine Frau kümmerte. Stattdessen reichte er die Scheidung ein, trat der NSDAP bei und ließ Gertrud Stockhausen entmündigen.

"Dadurch hat sich Simon Stockhausen, der Ehemann komplett von ihr abgewendet. Das ist halt der Akt, das Gertrud Stockhausen allein gelassen wurde."

Lisa Quernes zeigt in einem Abschnitt ihrer Arbeit, wie Karlheinz Stockhausen die Leidensgeschichte seiner Mutter in seiner Oper "Licht - Donnerstag" verarbeitet.
Der Trompeter Markus Stockhausen war 1983 bei der Uraufführung des Stückes dabei, das die Anstaltserfahrung der Gertrud Stockhausen während der Nazizeit in einer Reihe von Szenen thematisiert:

"Die genau auch die Leidensgeschichte seiner Mutter, der Gertrud Stockhausen, nachzeichneten. Ich habe das also sehr authentisch miterlebt, auf der Bühne, wie mein Vater sein Schicksal sozusagen verarbeitet hat. Bis dahin war das kein Thema gewesen und plötzlich kam das in dieser Oper für uns alle ans Licht."

Ausschnitt aus Oper

Quernes: "Ich habe die Oper dann ja auch mit ganz anderen Augen gesehen. Und dann einfach mit diesem anderen Blick, mit diesen Erinnerungen, die Karl-Heinz Stockhausen da verarbeitet hat, da noch mal mit diesen Erinnerungen drauf zu sehen, das ist schon anders. Weil man einfach merkt, wie viele Details er übernommen hat, Szenen aus der Anstalt, als er zu Besuch kommt in die Anstalt seiner Mutter, die er da in der Oper verarbeitet."

Der umstrittene deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen präsentiert sein Werk beim diesjährigen Sonorities Festival of Contemporary Music in Belfast
Der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen© AP Archiv
200.000 chronisch psychisch Kranke und Behinderte wurden ermordet
Lisa Quernes zeigt mit ihrer akribischen Recherche zu Gertrud Stockhausen, wie wichtig auch heute noch wissenschaftliche Arbeiten zur NS-Psychiatrie und Euthanasie sind. Wie viel möglicherweise aber auch in der Kunst noch mehr oder weniger versteckt zu diesem verheerenden Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu finden ist. Jetzt war in Hadamar zu hören, dass ihre Forschungen zu Gertrud Stockhausen demnächst wohl gedruckt und auch ins Englische übersetzt werden.

Es wird hierzulande viel über die Qualität von Schulbildung gejammert. Die Arbeit der Musikgymnastin Lisa Quernes zeigt, wozu Schüler fähig sind, wenn es um wirklich relevante Dinge geht. "Aktion T 4", benannt nach der Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4, in der die Mordzentrale der Nazis untergebracht war, - das war die sogenannte "Vernichtung lebensunwerten Lebens" durch die NS-Bürokratie. 200.000 chronisch psychisch Kranke und Behinderte wurden im Rahmen der Aktion "T 4" 1941 und in den Kriegsjahren danach ermordet - rund 15.000 Menschen allein in einer alten psychiatrischen Anstalt in Hadamar.
Mehr zum Thema